Kapitel achtundzwanzig

Ich bin schwer. Ich schwebe nicht mehr, nein, ich fühle mich schwer, als drücke mich etwas nach unten. Ich weiß nicht, wie lange ich schon in dieser Endlosigkeit aus schwarzem Nichts bin, ob es drei Stunden sind, drei Tage oder drei Wochen. Und ich weiß auch nicht, wie lange es dauern wird, bis sich irgendetwas regt, oder ob nichts mehr kommt. Ob ich nun für immer hier gefangen bin. Plötzlich zuckt ein Kribbeln durch meinen linken Arm, was natürlich nicht sein kann, weil ich meinen Körper zurückgelassen habe. Es muss ein Phantomschmerz sein. Auf einmal kriege ich Panik: Das soll der Tod sein, der in der Kirche hoch gepriesen wird, das Paradies. Ich spüre Tränen, die über meine Wangen laufen, heiß und nass. Ich winde mich, ich schlage um mich, bis mich zwei raue Hände packen. Ich schreie auf und öffne die Augen. Neben mir steht Mutter, Liebe und Erleichterung im Blick. Es sind ihre Hände, die meine halten, ihre Daumen kreisen beruhigend über meine Handrücken. "Sch", macht sie beruhigend. "Alles ist gut." Ich blinzele verwirrt. "Ist sie wach?", fragt eine kindliche Mädchenstimme. Lexi. "Ja." Mutter nickt und auf einmal laufen auch ihr Tränen übers Gesicht. Dann fliegt ein kupferfarbener Schatten auf mich zu und wenig später liegt Lexi in meinen Armen. Ich bin nicht tot. Was auch immer mit mir geschehen ist, gestorben bin ich nicht. Ich spüre, wie sich der Knoten in meinem Hals auflöst, meine Arme kribbeln, als ich sie vorsichtig um Lexis dürren Körper lege. Ihr rotes Haar riecht nach Staub und Seife und Früchtetee und ihre Haut leuchtet perlmuttfarben. Sie ist gesund und munter, ganz die Alte. In dem Moment, in dem ich mir dessen bewusst werde, durchströmt mich tiefste Dankbarkeit. Mein Magen gluckert vor Glück. Und jetzt weiß ich auch, wo ich bin: In meinem Zimmer. Helle, unebene Holzdielen, der schwere verstaubte Spiegel in der Nische hinter der Tür. Das trübe Glas meines Fensters und die Kommode, auf der sich dicke Pflanzenbücher nebst vertrockneten Blumen stapeln. Über der Lehne meines Schaukelstuhls hängt mein klobiges Bauernkleid, ich selbst trage ein frisches, weißes Nachthemd. "Wieso lebe ich noch?", frage ich und fasse mir an die Schläfen. Mittlerweile kribbeln auch meine Füße und meine Beine, aber das ignoriere ich geflissentlich. "Lexi hat ausgesagt. Sie hat dich gerettet." Mutter streicht sanft über meine Stirn. "Aber..." Ich versuche, mich an meine Sekunden am Pranger zu erinnern. Alles ist ziemlich verschwommen. "Du bist in Ohnmacht gefallen, Liebling", erklärt Mutter mit weicher Stimme. "Du warst in letzter Zeit rund um die Uhr auf den Beinen, und du hast viel zu wenig geschlafen. Dann der ganze Stress, die Panik vor dem Tod, die Nässe des Regens... das war zu viel für dich. Du bist einfach bewusstlos geworden." Ich starre sie mit offenem Mund an. Mein Kopf wurde nie abgetrennt. Ich war nicht schwerelos, ich war ohnmächtig. Die Nebelschwaden ziehen aus meinem Kopf, alles klärt sich plötzlich wie an einem sonnigen Tag. Lexi löst sich aus meinem Griff und reckt ihr Näschen in die Luft. "Du hast meinen großen Auftritt verpasst", meckert sie und piekst mir in die Rippen. Ein stechender Schmerz schießt durch meinen ausgemärgelten Körper, aber auch den ignoriere ich. Ich lache unter Tränen. "Ja, den habe ich wohl verpasst." Dann, ganz plötzlich, habe ich sein Gesicht vor Augen. Hektisch wühle ich mich aus meinem Kokon aus Decken. "Riley", presse ich hervor, doch Mutter drückt mich ins Bett zurück. "Es geht ihm gut. Er ist hier." Wegen einer plötzlichen Schwindelattacke lasse ich mich zurück ins Kissen sinken. Mein Atem geht flach und zittrig. "Holt ihn rein", sage ich und huste. Nickend geht Mutter zur Tür. Dann Gemurmel, Schritte, die klingen wie Federn auf Erde. Ich kann mir nicht helfen, ich grinse breit, als sein schlanker, hochgewachsener Körper ins Zinmer tritt. Sein schwarzes Haar ist verwuschelt, seine Haut weiß wie ein Laken und seine Augen glitzern und glänzen wie die Steine im Fluss. Ich drehe den Kopf und beobachte, wie er ans Bett kommt. "Hallo, Scarlett", sagt er schließlich und seine Stimme ist so wunderbar klar und weich wie eh und je. "Das habe ich vermisst", sage ich und strecke die Hand aus. Er nimmt sie lächelnd. Lexi schaut strahlend zwischen uns hin und her. "Scarlett ist verliebt!", krakeelt sie unter schallendem Gelächter. Meine Wangen brennen. "Lexi, könnten wir kurz allein sein?", frage ich sanft. Ich liebe meine Schwester über alles, aber diesen Moment möchte ich mit Riley allein genießen. Mutter steht in der Tür. "Komm, Lexi. Wir backen Brot." Begeistert springt meine Schwester vom Bett, aber bevor sie die Tür verlässt, grinst sie uns schälmisch an. Riley lacht leise. "Sie ist süß." "Ja, das ist sie", bekräftige ich nickend. "Und sie hat ein sehr schönes Gesicht", fügt er schmunzelnd hinzu. Ich seufze. "Ich liebe sie." Riley streicht mit dem Daumen über meine Hand, wie Mutter es eben getan hat. Aber bei ihm ist es anders, es prickelt. "Das weiß sie", sagt er sanft. "Du hast sie gerettet." "Und sie mich", setze ich lächelnd hinzu. "Ich bin so froh, dass du... noch da bist", haucht er und seine Augen füllen sich mit Tränen. Mein Herz poltert bei seinem Anblick. Rasch halte ich mit dem Daumen eine Träne auf, die aus seinem Augenwinkel kullert. "Entschuldigung", sagt er und hat sich gleich darauf wieder unter Kontrolle. Ich starre auf seine braune, abgewetzte Lederhose. "Erinnerst du dich, wie ich gesagt habe, dass du wie die anderen Mädchen bist?", fragt er. Seine Stimme ist kaum mehr ein Flüstern. Ich schließe die Augen, während ich an diesen einen Abend zurück denke. Es ist schwer, mich zu konzentrieren. "Dein Kuss...", hilft Riley mir auf die Sprünge und plötzlich ist er da, der ganze Abend, jedes Wort. "Ja", sage ich und nicke schnell. "Ich erinnere mich. Du hast mich verletzt." Riley senkt beschämt den Kopf, als er den Klang meiner Stimme hört. Aber es ist die Wahrheit, ich war verletzt. Inzwischen ist dieses schreckliche Gefühl zwar geheilt, aber es war trotzdem nicht schön anzuhören, was er von mir hielt. "Ich habe mich geirrt", sagt er nun. Sein Ton klingt entschlossen. Meine Augenbrauen schießen in die Höhe, während ich darauf warte, dass er weiterspricht. "Du bist nicht wie die anderen Mädchen", murmelt Riley und beugt sich hinab, um mir in die Augen zu sehen. Meine Mundwinkel zucken. "Wie bin ich denn?", hauche ich. "Mutig und tapfer und wild. Und hübscher", fügt er schüchtern hinzu. Mein Herz überschlägt sich, ich halte die Luft an. Seine Augen gleiten von meinen Augen zu meinen Lippen und wieder hinauf. Für einen winzigen Augenblick denke ich, dass er mich küssen will, aber dann richtet er sich auf. Enttäuscht fahre ich mit der Zunge über meine Zähne und denke über seine Worte nach. "Du findest mich hübsch?", frage ich leise und lächele. Dieses Kompliment habe ich noch nie bekommen. Es fühlt sich gut an. "Ja", sagt Riley und seine Miene ist ernst, nur seine Augen strahlen. Ich räuspere mich. "Ich finde dich auch hübsch, Riley." "Danke." Für den Bruchteil einer Sekunde wird aus dem weiß seiner Wangen ein rosarot, aber als ich das nächste Mal blinzele, hat er sich wieder gefangen. Ich stehe vorsichtig auf, doch dann verschwimmt vor meinen Augen alles. Ich schwanke. "Scarlett!" Riley schnappt nach Luft, während ich gegen die schwarzen Flecken ankämpfe. "Leg dich wieder hin", flüstert er und seine Stimme ist ganz nah an meinem Ohr. Das ist gut. Unbeholfen kralle ich mich in seine schlanken Oberarme. "Was wird das?" Ich sauge den Kräutergeruch ein, der von ihm ausgeht. "Ich will dich einmal im Arm halten, um zu wissen wie es sich anfühlt, den liebsten Menschen auf der Welt zu umklammern", bringe ich atemlos hervor. Noch immer dreht sich mein Zimmer, aber ich bin tapfer. Riley runzelt die Stirn und ich weiß, dass er an den Bann denkt und daran, dass ich geschwächt bin und mich vielleicht nicht unter Kontrolle haben könnte, aber da irrt er sich. Ich bin stärker denn je. "Bitte", flehe ich. Und da gibt er nach. Er legt seine Arme fest um meine Taille, um mich aufrecht zu halten und ich schlinge meine wie einen Schraubstock um seinen Nacken. Er stockt, aber ich lasse nicht los. Mit geschlossenen Augen genieße ich die wenigen Sekunden, in denen ich ihm so nah sein darf wie noch nie. Er seufzt. "Danke", sage ich sanft. "Für alles." Er lächelt, als wir uns lösen. Dann drückt er mich leicht auf mein Bett zurück und deckt mich zu. Ich gähne, das alles ist schrecklich anstrengend. "Ruh dich aus",haucht Riley. "Schlaf. Wenn du das nächste Mal wach wirst, geht es dir besser. Wir laufen nicht weg", setzt er hinzu, weil er mich kennt. Ich ergebe mich seufzend. Kaum habe ich die Augen geschlossen, drifte ich ab ins Land der Träume. Doch was er sagt, höre ich sehr wohl noch, klar und deutlich:"Ich hoffe, der Bann ist bald hinter uns. Ich kann nicht mehr warten, Scarlett, ich liebe dich." Ein warmes Gefühl pumpt mein Herz auf. Wie gerne hätte ich gesagt, dass ich ihn auch liebe, aber leider war ich schon eingeschlafen.

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Ein sinnliches Kapitel nur für euch. ♥ Ihr seid die besten. ♥ Und ich hoffe, ich konnte euch erleichtern. Schließlich hat die Story nun doch Chancen auf ein Happy End... ;)

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