Kapitel 5
Geschickt schlage ich mir mit dem Messer einen Weg durch die Mauer aus Dornenranken, die den Wald umgibt und vor Eindringlingen zu beschützen scheint. Ich kenne die Pflanzen jedoch gut genug, als dass sie mich verletzen, geschweige denn aufhalten könnten. Und doch halte ich die Jacke fest umklammert, als könne ein Baum seinen spärlichen Arm ausstrecken und sie sich schnappen. Ich ducke mich unter einem Ast hindurch, während sich meine Füße beinahe lautlos über Laub und Kiefernnadeln bewegen. Als ich die Dornen hinter mir gelassen habe und im Innern des Waldes angelangt bin, wo die Sonne nur in schwachen Strahlen durch die Baumkronen und das Geäst fällt, bleibe ich kurz stehen und lausche angetan den Geräuschen.
Der Wald ist mein Zuhause, hier kenne ich jeden Winkel, jeden Baum und jedes Tier. Ich liebe ihn noch mehr als das Moor, das doch eigentlich viel offener und freier ist. Für viele Dörfler erscheint der Wald grausam, da es so dunkel ist. Nur selten geht hier einer auf Jagd. Deswegen kaufen sie auch wie besessen das Wild, das ich erlege, denn ich fühle mich hier pudelwohl. Man sollte meinen, ich hätte hier Pfeil und Bogen versteckt, doch meine einzige Waffe ist das Messer. Ich habe mir angelernt, es zu werfen und inzwischen treffe ich auf den Punkt genau.
Doch heute ist etwas anders, als ich den frischen Duft von Kiefern und Erde einziehe. Irgendwas scheint die Atmosphäre gebrochen zu haben, etwas lässt eine Note von Anspannung durch die Luft ziehen. Ich komme mir beobachtet vor und mein Herz setzt einen Schlag aus. Das hatte ich noch nie. Langsam drehe ich mich um meine eigene Achse, während das Messer in meiner Hand ruht, bereit, jede Sekunde zu werfen.
Über mir raschelt es in den Bäumen, woraufhin ich sofort den Kopf in die Höhe reiße. Doch dort ist nichts als der einsame Wind, der leise durch die rot gefärbten Blätter der Laubbäume und das nie versterbende Grün der Kiefern streift.
Darauf bedacht, noch weniger Geräusche zu machen als sonst, setze ich vorsichtig einen Fuß vor den anderen, die Knie gebeugt und rolle ganz bewusst über die ganze Sohle ab. So schleiche ich tiefer in den Wald hinein, bis ich beschließe, eine Rast einzulegen, um zu überlegen, wie ich den Fremden nun aufspüren könnte. Doch da ist jemand, der mir folgt und meine Konzentration stört. Ich kann ihn nicht sehen, aber dafür spüre ich seine Anwesenheit umso mehr.
Ich vernehme ein Ausatmen. Einbildung oder Wahrheit? Ich springe auf und beginne, lauthals zu singen. Zum einen, um mich selbst zu beruhigen, zum anderen, um zu zeigen, dass ich keine Angst habe.
Nach dem Erklingen meiner Stimme höre ich Getrappel im Unterholz und ich erhasche Blick auf rotbraunes Fell. Das Wild habe ich auf jedem Fall vertrieben; aber ich bin sowieso nicht darauf aus, welches zu jagen. Nicht heute.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass es sich um den Fremden handeln muss, der da irgendwo versteckt in den Bäumen hockt und ich grübele konzentriert darüber, wie ich ihn hervorlocken könnte, während ich immer weiter singe. Man kann es eigentlich nicht als 'singen' bezeichnen, denn ich kenne kein komplettes Lied auswendig, doch ich summe so fröhlich wie möglich die Melodien, die mir gerade in den Sinn kommen.
Als ich erfolglos bleibe, ziehe ich mit hängenden Schultern weiter und schelte mich innerlich für meine Singerei. Durch meine Stimme hatte der Fremde die perfekte Chance erhalten, sich unbemerkt davonzubewegen und einen Vorsprung hinzulegen. Während des Weitergehens flechte ich meine Haare zu einem Zopf zusammen, der mir locker über die Schulter fällt, doch einige Strähnen lösen sich aus der Frisur und wehen mir ums Gesicht. Die kalte Herbstluft kribbelt in meinen Wangen und lässt meine Hände kalt werden. Ich bilde aus ihnen einen Hohlraum und puste hinein, um sie ein wenig zu wärmen.
Doch mit einem Mal bleiben meine Beine apurubt stehen. Genau hier zieht ein Lufthauch an mir vorbei und ein leises Kratzen ertönt. Ich recke die Nase, denn es liegt etwas in der Luft. Etwas Vertrautes. Ein Geruch von Kräutern und Wind. Ich rieche an der Jacke. Es ist derselbe Geruch. Derselbe Geruch! Er muss in der Nähe sein! Ich reiße mich aus meiner Starre und stürze vor, doch mein Fuß bleibt an einer Wurzel hängen, die aus dem Boden emporragt. Ein Ruck geht durch meinen Körper und ich werde nach vorne katapultiert. Im nächsten Moment finde ich mich auf dem kalten Boden wieder, ein unangenehmes Ziehen in den Händen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht setze ich mich auf, um mich mich an den nächstbesten Baumstamm zu lehnen. Mein Ellbogen prickelt und fühlt sich unglaublich taub an, während aus der pochenden Wunde an meinem Knie ein Tropfen Blut tropft. Stöhnend betaste ich meinen Kopf, doch er ist glücklicherweise unversehrt geblieben. Mit dem Kribbeln im Arm werde ich mich abfinden können und auch die Wunde am Knie ist nichts ernsthaftes. Die Schrammen an den Handinnenflächen werden in wenigen Tagen wieder verheilt sein.
Also beiße ich die Zähne zusammen und rappele mich auf. Ich will schon weitergehen, als über mir eine Stimme erklingt. Seine Stimme. Unverkennbar weich, klar und zart, eine Stimme, die im Wind tanzt. "Bist du hier, um mir meine Jacke zu bringen, oder um mich zu holen, damit sie mich auf den Scheiterhaufen stellen können?" Etwas am Klang seiner Stimme hat etwas verletztes, etwas trauriges. Ich sehe mich um, bis ich ihn im Baum über mir erkenne: die zerfetzte Lederhose bis zu den Knöcheln reichend und das verschlissene, grün karierte Hemd tragend. "Du weißt genau, dass das nicht stimmt", erwidere ich trotzig und klopfe den Schmutz vom Sturz von meinem Rock. Er zögert einen Moment, doch dann hangelt er sich durch die Zweige, nein, er fliegt fast, und landet dann vor mir auf dem Boden. Erst als er vor mir steht, sehe ich, wie klein er ist. Er überragt mich zwar um einen halben Kopf, doch die Jungen aus dem Dorf sind um einiges größer. Und robuster gebaut. Der Fremde hat weder breite Schultern, noch sieht er irgendwie besonders stark aus. Und trotzdem hat er etwas anziehendes, auch wenn mich seine weiße Haut kombiniert mit den schwarzen Augen und Haaren heute noch erschreckt. "Stimmt", sagt er leise und sieht auf den Boden, "das weiß ich. Danke, dass du mich beschützen wolltest." Meine Finger spielen mit dem Knopf seiner Jacke. "Ich habe zu danken. Wärest du nicht vor mich gesprungen, würde es meinem Arm jetzt ziemlich mies ergehen." Der Anflug eines Lächelns erscheint auf seinem Gesicht, doch es verschwindet gleich wieder, als er aufsieht. Als sein Blick meinen streift, läuft es mir eiskalt den Rücken hinunter. "Hier. Deine Jacke." Ich strecke die Hand aus. "Danke." Er presst die Lippen aufeinander, als er sie an sich nimmt. Er wirkt ziemlich gesund dafür, dass er gestern noch ausgepeitscht wurde. Das Hemd ist weder blutverschmiert, noch macht er einen kranken Eindruck. Diese Tatsache macht ihn irgendwie gruselig. Ich verschränke die Arme hinter meinem Rücken. "Wie hast du das gemacht? Du warst so verwundet und jetzt stehst du vollkommen unversehrt vor mir. "Das kann ich nicht erklären." Er starrt auf den Beutel an seinem Hosenbund, in welchem sämtliche Kräuter verstaut sind. "Versuch es wenigstens", sage ich aufmunternd. "Nein!" Obwohl seine Stimme nach wie vor weich ist, klingt sie energisch und bestimmt. Mit einem Mal wirkt er sehr verschlossen. "Das geht dich nichts an." Ich schrecke zurück und pralle gegen einen dicken, harten Stamm.
Nach enigen Minuten Schweigen deutet er auf mein blutiges Knie. "Dagegen hab ich was." Er kramt in seinem Beutel und reicht mir wenig später ein paar silbrig grüne Blätter. "Darf ich?" Ich nicke und halte ihm mein Bein hin. Er geht in die Hocke und presst eines der Blätter in die Wunde. Ich schreie leise auf, weil es weh tut, doch im nächsten Moment werde ich überwältigt von dem herrlich kühlenden Gefühl.
"Danke. Was ist das?" "Silberkraut. Beugt Entzündungen vor und beschleunigt die Heilung der Wunde." Ich kratze mich am Kopf. "Hast du das auch bei deinem Rücken gemacht?", frage ich, woraufhin er ein gequältes Lachen von sich gibt, während er sich erhebt. Ich warte, doch mehr sagt er nicht.
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Ich hoffe, es war nicht zu lang. :D Obwohl ich nach wie vor nicht weiß wie man widmet, aber das hier ist für _Wings, weil sie eine ganz Liebe ist und gute Ratschläge geben kann. :) Danke dafür! ♡
Über Votes und Kommis freue ich mich jederzeit! *-*
-Alitschi
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