8 - Lucius
Aventicum, Civitas Helvetiorum, Wachposten am Osttor der Stadtmauer, im Jahr des Konsuls Lucius Cassius Longinus [30 CE]
Aus der Ferne driftete der Schrei eines Hahns durch die Morgendämmerung. Lucius schreckte aus dem Schlaf auf und sein pilum fiel klappernd zu Boden. Der metallische Klang der Spitze auf den steinernen Fliesen zerriss unangenehm laut die Stille. Lucius fluchte leise. Vermutlich war er schon wieder auf den Speer gelehnt eingenickt. Er verharrte lauschend mit angehaltenem Atem. Mit etwas Glück mochte der Zenturio den Laut überhört haben, der seine Nachlässigkeit auf der Wache verriet.
Alles blieb ruhig. Vielleicht schlief Gaius Vitellius ebenfalls zu dieser frühen Stunde?
Lucius bückte sich, um mit klammen Fingern seine Waffe aufzuheben. Mit einem schlecht unterdrückten Gähnen schlurfte er hinüber zur Brüstung des Wachturms. Seine Schicht musste schon bald vorbei sein und er sehnte sich danach, dieser morgendlichen Herbstkälte zu entfliehen, die in jeden Knochen drang. Von seinem Aussichtspunkt auf der Stadtmauer konnte er die Bergkämme im Norden als dunkle Silhouette vor dem heller werdenden Himmel erkennen. Darunter blieben der See und das Sumpfland von den rosafarben Schwaden eines Morgennebels verhüllt. Zu dieser Jahreszeit konnte der Nebel bis weit in den Tag hinein über der Ebene hängen — bis die aufsteigende Sonne genug Kraft hatte, ihn aufzulösen.
Einen Augenblick lang fragte er sich, ob sich Cinna, die ehemalige Geliebte seines Freundes, immer noch dort draußen in den Sümpfen und der Kälte herumtrieb. Es musste weit nach Mitternacht gewesen sein, als sie ihn anflehte, die Stadt verlassen zu dürfen. Ihre tränenverschleierten dunklen Augen hatten seine Entschlossenheit, sie nach Hause zu schicken, geschmolzen wie die Frühlingssonne den letzten Schnee. Dabei war die dumme Gans doch jetzt mit Flavius Otacilius Parvus verheiratet, dem reichen Neffen des Magistrats. Warum ein hübsches, verwöhntes Mädchen wie sie einem Freigelassenen nachtrauerte, einem einfachen Mitglied der Stadtwache, überstieg Lucius' Verständnis. Vor allem weil Marius die vigiles bereits vor Monaten verlassen hatte, gleich nachdem er von der Verlobung erfuhr. Sein gebrochenes Herz hatte ihn vertrieben während seine große Liebe ein Leben in Luxus in einer der reichsten insulae der Stadt genießen durfte. Stattdessen hatte sie nichts besseres zu tun, als des Nachts durch die Sümpfe zu geistern.
Lucius schüttelte ungläubig den Kopf und trat an die innere Brüstung der Mauer, um die Straße zwischen dem überbauten Bereich der Stadt und der Befestigung zu überblicken. Die ersten Reisenden, die den geschützten Bereich durch das Osttor verlassen wollten, trafen nun mit ihren Karren auf dieser Straße ein. Ein Ochse brüllte seinen Ärger über den frühen Aufbruch durch die Dämmerung. Der Fahrer des Wagens hob die Hand und Lucius grüßte zurück.
Das Quietschen der großen Eisenscharniere hallte durch den Wachturm als seine Kollegen die massiven, eichenen Torflügel im Durchgang unter ihm aufstießen. Lucius lauschte auf die Zurufe der Fahrer an ihre Zugtiere mit der Aufforderung, schneller zu gehen. Das Klappern von eisenbeschlagenen Rädern wurde dumpfer, während die Gefährte das Tor passierten. Der Torwächter gähnte. Nun würde es nicht mehr lange dauern, bis er unter seine warme Decken kriechen und den verpassten Schlaf der Nacht nachholen konnte.
„Stadtwache, Zenturio Vitellio." der atemlose Ruf eines Läufers verjagte Lucius' Müdigkeit und jeden Gedanken an Schlaf. Er beugte sich über die innere Brüstung der Mauer, um einen besseren Blick auf den Ankömmling zu erhaschen. Ein junger Mann in der Uniform der Wache erreichte das Tor von Norden her und krümmte sich vor dem Eingang der Wachstube keuchend zusammen. War das Pius von der Abteilung beim Nordosttor? Lucius konnte sich nicht vorstellen, warum sie einen Läufer schicken würden — außer dass etwas gravierendes bei dem kleineren Stadteingang passiert sein musste.
Der Zenturio trat vor die Tür, als wäre er schon lange wach, und begrüßte den erschöpften Läufer. Lucius war zu weit weg, um den Austausch zu verstehen, aber als Gaius Vitellius zu ihm hochblickte und ihm mit ernstem Gesicht bedeutete, herunterzukommen, zögerte er keinen Augenblick.
Während er die engen Stufen im Turm hinunterhastete, das pilum gegen seine Brust gepresst, hörte er durch die massiven Mauern den langgezogenen Ton des Alarmhorns. Er fragte sich, was wohl wichtig genug sein konnte, die ganze Abteilung der Wache zusammenzurufen, eingeschlossen den Ausguck auf dem Turm.
Atemlos gesellte er sich zu den anderen, die sich vor dem Wachhaus versammelten. Die meisten waren noch dabei, ihre Kleidung zu ordnen und Ausrüstung zu sortieren. Zusammen mit den drei Männern, die mit verschlafenen Augen aus der Wachstube stolperten, waren nun alle acht Mitglieder seines contubernii versammelt. Antonius, noch barfuß, trug seine caligae an ihren Bändern in der linken Hand während er sich gähnend mit der Rechten die Augen rieb.
Die hageren Züge des Zenturio wirkten unergründlich unter dem Rand seines polierten Eisenhelms. „Ave. Unser junger Kollege Pio hier berichtet von einem Mord beim Heiligtum unten am Hafen. Wir werden der Sache nachgehen." Er deutete auf die beiden ältesten Männer. „Iano und Antonio, der Wachwechsel steht unmittelbar bevor. Ihr beide bleibt hier und berichtet dem Zenturio Livio Parcellus. Vergiss nicht, deine Sandalen anzuziehen, Antonio. Die andern begleiten mich. Bringt eure Waffen mit. Pio wird und führen."
Die Abteilung ordnete ihre Ausrüstung in Rekordzeit und ohne dass der Zenturio sie antreiben musste. Pius' bleiche und verkrampften Züge verliehen der Szene eine Atmosphäre der Dringlichkeit und Bedrohung.
Gaius Vitellius reichte dem jungen Mann einen Becher verdünnten Weins. Der Läufer leerte ihn in großen Schlucken und rieb sich mit der Hand einige verschüttete Tropfen vom Kinn. „Danke, Zenturio."
„Bist du bereit, uns zu führen?"
„Ja, Zenturio. Folgt mir." Der Läufer führte die vigiles in einem raschen Tempo entlang der Stadtmauer zum Nordosttor. Dort grüßte Pius seine Kameraden mit einem knappen Winken und ging weiter, durch das Tor hinaus und in Richtung des privaten Heiligtums einer alteingesessenen Familie an der Straße zum Hafen. Die Spitze der großen memoria stach wie ein steinerner Wegweiser in dieser gleichförmigen Landschaft aus der Nebelbank hervor, die das Sumpfland zum See hin verhüllte
Zu seiner Rechten erkannte Lucius einige Säulen. Das musste das südliche fanum sein, ein quadratischer Umgangstempel, der den lokalen Göttern geweiht war. Aber Pius bog links ab und passierte das Tor in der Umfassungsmauer der memoria, wo ein anderes Mitglied der Wache, Julius, mit versteinertem Gesicht wartete. Er wirkte erleichtert, als Pius zu ihm trat und hob grüßend die Hand. „Ave, Zenturio. Sie liegt hier drüben."
Der Zenturio bedeutete den Männern mit erhobener Hand zu warten und trat vor. Lucius' Herz setzte einen Schlag aus als er sah, worauf Julius zeigte. Dort, direkt vor dem Podest des großen Grabmonuments, lag eine schlanke Gestalt zusammengekrümmt auf den Pflastersteinen. Dunkelrotes Blut befleckte die weiße Tunika, und der blutverschmierte Griff eines Dolchs ragte aus ihrem Rücken.
Angst ließ das Blut in seinen Adern erstarren als Lucius seine Kameraden und den Zenturio ignorierte und mit zögernden Schritten und knirschenden Zähnen näher trat. Er musste es wissen. Ein Schleier von schwarzem Haar verbarg das Gesicht der ermordeten Frau, aber er brauchte ihre Züge nicht zu sehen. Ein silberner Ring blinkte am zweiten Finger der Hand, die in Richtung der memoria ausgestreckt war als flehe sie um Hilfe.
Lucius erinnerte sich an diesen Ring, hatte ihn letzte Nacht noch gesehen, im Schein einer kleinen Lampe. Und damals, als sein Freund Marius hoffte, das Herz und die Hand der schönen Cinna zu gewinnen, hatte er mit diesem Ring geprahlt.
Ein Zittern lief durch Lucius Körper und bittere Galle stieg in seinem Hals auf. Das war seine Schuld.
„Hast du sie gekannt, Lucio?" Die Hand des Zenturio lastete schwer wie Blei auf seiner Schulter während des Gefühl der Verantwortung ihn schwindeln ließ.
Er nickte und schluckte. Jetzt war es zu spät, die Wahrheit zu verbergen. Aber sie würde ohnehin schnell genug bekannt werden und die Gerüchte würden sich noch viel schneller verbreiten. „Ja, ich habe sie ein- oder zweimal gesehen. Das ist Cinna, die junge Frau von Flavius Otacilius Parvus, dem Neffen des Magistraten."
Gaius Vitellius trat näher und kauerte sich neben das Opfer, um mit dem Daumen die feuchten schwarzen Strähnen aus ihrem Gesicht zu streichen. Der leblose Blick der weit aufgerissenen grauen Augen konnten die Schönheit des Mädchens nicht zerstören. „Ich verstehe. Die Frau einer wichtigen Person. Pio, Julio, habt ihr das Gelände hier schon nach Spuren des Mörders abgesucht?"
Julius trat vor und nickte. „Ja, Zenturio. Ich habe mich umgesehen während ich wartete, aber nichts verdächtiges gefunden. Die Pflastersteine sind sauber bis auf ihr Blut und das Öl, das aus ihrer zerbrochenen Lampe ausgelaufen ist."
Der Zenturio rieb sich das Kinn. „Gut. Am besten bringen wir ihre Leiche zurück in die Stadt. Baut eine Trage."
Erleichtert, sich um die anstehende Aufgabe kümmern zu können, kämpfte Lucius dennoch gegen die Versuchung, Cinna anzusehen. Sie verwendeten zwei Speere als Stangen für die improvisierten Tragbahre und banden sie mit mehreren Lederriemen zusammen. Als die Bahre bereit war, rollten die Männer die Leiche darauf.
Lucius war froh, dass er das tote Mädchen nicht berühren musste. Trotzdem zog er einen Zipfel ihrer beschmutzen palla über ihr Gesicht mit den aufgerissenen Augen. Vielleicht um ihre verängstigten Züge zu verdecken oder um ihr etwas Würde zurückzugeben. Das Wissen, dass sie wohl noch leben würde wenn er ihre Bitte letzte Nacht abgelehnt hätte, nagte an ihm. Er blickte von ihrer leblosen Gestalt auf die besudelten Pflastersteine und die zersplitterten Reste der Öllampe rings um die Pfütze von trocknendem Blut. Die junge Frau hatte dieses Licht letzte Nacht mit sich getragen, als sie ihn anflehte, das Tor zu passieren. Er bückte sich spontan, um die Scherben aufzusammeln.
„Lucio, kommst du auch?" Die Stimme des Zenturio blieb unbewegt, aber als Lucius aufblickte, hatten vier seiner Kollegen bereits die Trage aufgehoben.
Er musste sich beeilen. „Ich komme, Zenturio, ich räume bloß das hier noch auf." Er wich der Blutlache aus, um die letzen beiden Keramikfragmente aufzuklauben und in seiner Gürteltasche zu verstauen. Vielleicht wollte Marius die Scherben, als ein Andenken, ein Erinnerungsstück an seine verlorene Liebe.
Lucius riss seinen Blick von dem besudelten Pflastersteinen und zitterte unmerklich, als er den vergessenen Speer eines Kollegen aufhob. Er gehörte einem der Bahrenträger. Mit raschen Schritten folgte er der schweigenden Gruppe zurück zum Stadttor, das immer noch vom Morgennebel verhüllt wurde.
Nur eine einzelne Scherbe von Cinnas Lampe blieb am Ort ihres Todes liegen, eingeklemmt in der Ritze zwischen zwei Pflastersteinen, wo die Finger der jungen Frau sie bei ihrem letzten Atemzug hingeschoben hatten.
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