6 - Erklärungen
Schockierte Stille hing nach Pauls geringschätziger Bemerkung in der Luft. Trotz meines brennenden Ärgers verspürte ich Mitgefühl mit den drei Frauen, die täglich mit diesem Macho zusammenarbeiten mussten.
Dies hier war aber nicht meine Schlacht. Ich kannte Paul nicht und konnte auch die Chemie in dieser Gruppe nicht richtig einschätzen. Zudem hatte ich genug. Ich bemühte mich um ein regloses Gesicht und wendete mich mit ruhiger Stimme an Matt. „Nun, ich denke wir haben hier genug gesehen, wir sollten uns um unser Geschäft kümmern. Entschuldige, Vic, aber wir können nicht noch mehr unserer Zeit investieren." Ich setzte ein Lächeln auf. „Chiara, Béa, es hat mich gefreut, euch kennenzulernen. Danke für die Erklärungen und viel Erfolg mit der Grabung."
Danach drehte ich mich um und ging davon, ohne auf eine Antwort zu warten. Vics zerknirschten Gesichtsausdruck würde ich aber nicht so rasch vergessen. Regelmäßige Schritte hinter mir sagten mir, dass Matt meinem Beispiel folgte, ohne ein Wort zu sagen. Rechtzeitig erinnerte ich mich an das wackelige Brett und konnte verhindern, dass ich stolperte. Außerhalb des Zelts beschleunigte ich meine Schritte, bis wir mindestens fünfzig Meter entfernt waren. Erst dann hielt ich an, mit geballten Fäusten und zitternd vor unterdrücktem Ärger, der mit meinem Blut kochend durch meine Adern zirkulierte. „Was für ein beknackter Chauvinist."
Matt verzog schmerzvoll das Gesicht. Er wirkte blass und seine Pupillen waren ungewohnt groß. „Er war nicht immer so schlimm."
„Was? Du verteidigst dieses kleine Stück Schnodder noch?" Die Hitze stieg mir ins Gesicht.
Er schüttelte den Kopf und bedeutete mir, zu gehen. „Pst, lass uns hier wegkommen. Ich erkläre es dir später."
Ich schluckte meine Wut hinunter und stapfte davon, immer noch zitternd, und versuchte die lauten Stimmen zu ignorieren, die hinter uns im Zelt nun in eine hitzige Diskussion verwickelt waren. Vic und Béa schienen Paul ihre Meinung zu sagen. Ich konnte Chiara nicht hören, aber das lag vielleicht nur daran, dass die anderen sich zu laut beschwerten. Als wir endlich außer Hörweite waren, atmete ich erleichtert auf. Beim Bürocontainer knallte ich meinen Helm auf den Tisch und schlüpfte aus meiner Weste. Einen Moment lang widerstand ich der Versuchung, sie zusammenzuknüllen und auf den Boden zu werfen. Stattdessen hängte ich sie ordentlich über eine Stuhllehne. „Und was jetzt?"
Matt entledigte sich seiner Ausrüstung mit deutlich sanfteren Bewegungen als ich bevor er die Schultern zuckte. „Wir spazieren zurück zum Bus. Ich fürchte, Vicky wird zu wütend und beschäftigt sein, um sich daran zu erinnern, dass sie uns gefahren hat."
Ich blickte zurück zum Zelt, wobei ich beinahe erwartete, darüber als Resultat der verbalen Schlacht eine Wolke schwarzen Rauchs zu sehen. Es sah aber friedlich aus und nicht in Gefahr, in Flammen aufzugehen. Deshalb versuchte ich, die Distanz zu dem Hügel abzuschätzen, der das Zentrum der mittelalterlichen Stadt bildete. Zwischen zwei Wohnblöcken hindurch konnte ich die Türme des Schlosses erkennen. Die Distanz mochte etwa eine halbe Stunde zu Fuß sein. Da das Amphitheater direkt hinter dem Schloss lag, schien mir der Spaziergang gerade richtig, um mich etwas abzukühlen. „Gut, gehen wir. Das gibt dir auch genügend Zeit, mir alles über diesen Paul zu erzählen.
Matt verzog den Mund. „Hab ich doch gewusst, dass du mir damit keine Ruhe lassen wirst."
Wir gingen schweigend nebeneinander her. Etwa zwei Wohnblöcke weiter, holte Matt tief Luft und begann mit seiner Erklärung. „Wie du wohl bereits gemerkt hast, haben Paul und ich eine lange Geschichte. Er belegte einige Kurse mit Vicky an der Uni, und sie hat mich ihm an einem Fest vorgestellt."
Dankbar für meine guten Schuhe beschleunigte ich meine Schritte um mit meinem aufgebrachten Kollegen Schritt zu halten. Trotz seiner scheinbaren Ruhe schien Matt eine Menge überschüssiger Energie verbrennen zu müssen. Daraus konnte ich ihm keinen Vorwurf machen.
„Paul war interessant und witzig, sogar etwas exotisch und mysteriös. Und wie das Leben so spielt, nach einiger Zeit führte ein Ding zum nächsten."
Ich blieb stehen. „Moment, du hattest eine Beziehung mit diesem Prachtexemplar eines frauenfeindlichen Höhlenbewohners?" Ich konnte mir nicht vorstellen, wie Matt, der Liebling aller Frauen und Mädchen mit seiner stets freundlichen und aufgeschlossenen Art auf dieses Miststück reinfallen konnte.
Matt drehte sich zu mir um und breitete die Arme aus. In seinen Augen glaubte ich, den gewohnten Schalk aufglimmen zu sehen. „Sprich nicht so despektierlich von den Höhlenbewohnern. Vicky ist überzeugt, dass aufgrund archäologischer Erkenntnisse die steinzeitlichen Menschen weniger egozentrisch gewesen sein könnten als manche unserer Zeitgenossen."
Ich schüttelte den Kopf und setzte mich wieder in Bewegung. Dabei ließ ich mir dieses zufällige Informationsschnipsel durch den Kopf gehen, bis Matt mit seiner Erzählung fortfuhr. „Nun, zurück zu Paul. Wie ich schon sagte, war er nicht immer so schlimm. Oder ich habe es zumindest nicht bemerkt, verblendet von der Liebe. Letztes Jahr haben wir uns getrennt, und das war eine ziemlich hässliche Angelegenheit. Du kannst mir glauben, wenn ich gewusst hätte, dass er jetzt mit Vicky zusammenarbeitet, wäre ich heute ganz sicher nicht hergefahren."
Das verstand ich gut. Immerhin war es auch erst einige Monate her, seit Simon mich verlassen hatte, und ich fühlte mich immer noch verletzt und nicht in der Lage, voller Vertrauern eine neue Beziehung aufzubauen. Lou konnte davon eine Geschichte erzählen. Ich bemühte mich, die Gedanken an meinen Ex permanent aus meinem Leben zu verdrängen, aber wenn ich ihm heute begegnet wäre, hätte mich das zumindest genauso mitgenommen wie Matt der Zusammenstoß mit Paul. „Sorry, ich glaube, es war eine dumme Idee, hierher zu kommen. In diesem Zelt gab es nicht die geringste Spur eines Geists, höchstens eine zu hohe Konzentration an Testosteron."
„Bestimmt nicht meines." Matt grinste, und ich war froh, dass er über den Schock der Begegnung hinwegzukommen schien. „Als Paul auftauchte, vergaß ich komplett, dass wir ja einen Geist finden wollten. Lass mich nachsehen, ob der Sensor was nützliches registriert hat."
Matt fischte sein Handy aus der Tasche und öffnete seine selbstprogrammierte App, um durch das Logfile seines Sensors zu scrollen. „Wie du gesagt hast, keine übernatürlichen Aktivitäten. Nicht dass ich an deinem unglaublichen Talent zweifeln würde. Aber ich frage mich schon, was die drei Frauen genau beobachtet haben."
„Weder Béa noch Chiara machten auf mich den Eindruck, als wären sie besonders leichtgläubig und würden unter Halluzinationen leiden. Sogar Vic war halbwegs überzeugt, dass sie etwas unerklärbares gesehen hatte, sonst hätte sie uns niemals davon erzählt." Meiner Ansicht nach war sie zu sehr Wissenschaftlerin und misstraute lieber ihren eigenen Beobachtungen, als übernatürliche Phänomene zu akzeptieren. Wir würden stichhaltige Beweise für die Existenz von Geistern liefern müssen, oder sie würde die Fakten auch in Zukunft nicht anerkennen.
„Ich stimme dir zu. Nun, ich kann sie ja heute Abend anrufen und ihr erklären, warum ich über die Begegnung mit Paul nicht erfreut war. Und mich dafür entschuldigen, dass wir davongestürzt sind und sie einem Psychopathen überlassen haben." Er verstaute das Telefon. „Nicht dass wir etwas hätten ändern können. Die ganze Sache passierte, während sie weg war, deshalb kann es sein, dass sie von unserer Beziehung nichts wusste."
Das mochte erklären, warum Vic davon ausging, dass sich Paul über die Begegnung mit Matt freuen würde. „Der Anruf ist eine gute Idee. Und ich denke, wenn wir geblieben wären, um sie zu unterstützen, hätte das nur zu der Spannung beigetragen. Ich bezweifle, dass es in dieser Szene nur um eure Beziehung ging. Chiara hat doch gesagt, Paul sei schon am Morgen schlechter Laune gewesen. Da wusste er noch nichts von unserem bevorstehenden Besuch. Zudem haben wir Vic erst gestern Abend zufällig getroffen."
Obwohl ich mich inzwischen fragte, wieviel Zufall da tatsächlich im Spiel war. Aber da ich auf der Grabung keinen Geist gefühlt hatte, konnte der Besuch des Raben auch in einem anderen Zusammenhang stehen. Ich seufzte. „Vielleicht hat Vic ja eine Idee, was in diesen Mann gefahren ist." Wir gingen einen Moment lang schweigend nebeneinander her. Unser Gespräch hatte mir geholfen, etwas Distanz zu den Ereignissen zu gewinnen. „Es ist ewig her seit ich jemandem begegnet bin, der so unfreundlich und voller negativer Energie ist. Und mir schien, als ob alle andern genauso überrascht waren, ausgenommen du vielleicht."
Matt fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Er war schon immer aufbrausend, aber so rüpelhaft habe ich ihn nicht in Erinnerung. Nun ja, Menschen verändern sich."
Damit hatte er natürlich recht, aber irgendetwas war trotzdem seltsam. Da es mir nicht gelang, meinen Finger darauf zu legen, behielt ich meine Gedanken aber für mich.
Schweigend folgten wir der alten Hauptstraße durch das pittoreske mittelalterliche Städtchen. In einer Bäckerei kauften wir uns als Entschädigung für unseren missratenen Ausflug Gebäck und aßen es auf dem Weg zurück zum Amphitheater.
„Wollen wir nochmals das Museum besuchen? Ich würde gern den Rest der Ausstellung sehen."
Matt überprüfte die Uhrzeit. „Warum nicht? Nach dieser unerwarteten Begegnung ist mir jede Ablenkung recht."
Ich war sicher, ein Gespräch mit Geraldine würde für ihn Wunder wirken. Wir folgten also dem Rand des Theaters zum Museumseingang, als ein klimatisierter Tourbus knirschend auf dem Kiesplatz zum Stehen kam. Ein Strom von eifrig plappernden deutschen Touristen verlies das Fahrzeug und bewegte sich unter Gelächter Richtung Museumseingang. Matt und ich tauschten einen Blick aus. Dies war wirklich nicht unser Glückstag. An einen gemütlichen Besuch der Ausstellung war nun nicht mehr zu denken.
„Schade, dass wir weder von der Grabung noch der Ausstellung mehr mitbekommen haben."
„Wir können an einem anderen Tag wiederkommen. Oder du fragst Lou, ob er mit dir hingeht. Ich bin sicher, dass ihm das auch gefällt. Du musst bloß sicherstellen, dass sich nicht gerade eine Touristengruppe angemeldet hat."
Ich lachte. „Gute Idee." Ich hatte längst herausgefunden, dass sich Louis genauso für Geschichte und Kunst interessierte wie ich. Es wäre nett, einen Ausflug vorzuschlagen, der uns beiden gefiel.
Wir verbrachten den größten Teil der dreiviertelstündigen Rückfahrt nach Corbières schweigend, beide damit beschäftigt, unsere heutigen Erlebnisse zu verarbeiten. Als wir die Autobahn verließen, schenkte mir Matt einen Seitenblick. „Um ehrlich zu sein, ich habe ihm geliebt. Paul, meine ich. Er schien so schillernd und liebevoll. Vermutlich zeigt das wieder einmal, wie sehr das Äußere täuschen kann."
„Das stimmt leider. Es tut mir leid, dass du dabei verletzt wurdest." Ich hätte ihn am liebsten umarmt, aber während dem Fahren war das unangebracht. „Kommst du noch mit zum
Mittagessen? Es ist zwar spät, aber in der Küche finden wir bestimmt noch was."
Er schüttelte den Kopf. „Ich fahre besser. Mein Vater erholt sich immer noch von der Operation, und wie du weißt, kann er echt nerven. Mutter wird froh sein, wenn ich ihr den Einkauf abnehme."
Er bog in den Parkplatz des Schlosses ein und schenkte mir ein Lächeln. „Ich werde heute Abend schauen, ob ich einen richtigen Job für uns auftreiben kann." Er brauchte nicht zu erwähnen, dass er nach der heutigen Begegnung eine Ablenkung brauchte. Mir ging es genauso.
„Sehr gut. Ich kümmere mich dann gleich mal um den Mailverkehr. Bis morgen!"
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