4 - Triton und die Nereide

Ich bat Vic um einen Moment, um ein Exemplar des Comics zu kaufen, das ich meiner wachsenden Sammlung hinzufügen wollte. Unterdessen verabschiedete sich Matt von der freundlichen Geraldine. Während ich mein Buch in meinem Tagesrucksack verstaute. Beobachtete ich, wie die Kuratorin seine Hand vielleicht zwei Sekunden zu lang festhielt, aber mein Partner ignorierte das mit einem unschuldigen Lächeln. Vic grinste verstohlen und wies uns den Weg die Treppe hinunter. Zu meiner Überraschung führte sie uns nicht in eine Tiefgarage sondern in ein hohes, gut ausgeleuchtetes Untergeschoss, das eine beeindruckende Sammlung römischer Steinmetzarbeiten beherbergte.

Ich stoppte, um mich umzusehen. Da gab es große Marmorplatten und Grabsteine aus Kalksteinböcken mit sorgfältig ausgeführten Inschriften, florale Kapitelle und eine Sammlung von Statuen. Im hinteren Teil des Raums waren die Wände von einer restaurierten römischen Wandmalerei bedeckt. Die lebendigen Farben und die Blumenmuster und Personen auf einem dunkelroten Hintergrund ließen mich sprachlos mit der Frage, wie ein solch fragiles Kunstwerk die Jahrhunderte überdauern konnte.

Während Vic uns durch die Ausstellung führte, nahm die Kalksteinskulptur eines bärtigen Mannes mit einem gewaltigen Fischschwanz meine Aufmerksamkeit gefangen. Ich stoppte, um mir das Werk genauer anzusehen. Das Gesicht des Fischmanns war erstaunlich detailliert ausgeführt, beinahe lebensecht mit Zügen, die ein anzügliches Lächeln zeigten. Er hielt eine nackte Frau am Arm fest und zog sie in seinen Schoß. Auf mich wirkte das Gesicht der Dame gestresst oder sogar angewidert, also ob sie die anzügliche Aufmerksamkeit dieses mythischen Wesens nicht im Mindesten genießen würde.

Vic bemerkte mein Interesses an der Darstellung. „Ausgezeichnetes Handwerk, findest du nicht? Die Fragmente dieses Reliefs stammen aus dem Friedhof En Chaplix und gehörten zu einem größeren figürlichen Fries. Wir denken, dass Triton mit einer Nereide dargestellt ist, einer Meeresnymphe. Ich wünschte, wir würden auf unserer Grabung so ein tolles Stück finden."

„Ist ziemlich aufwendig für einen Grabstein." Ich war mir nicht sicher, warum mich gerade dieses Relief so faszinierte, aber je länger ich die ausgezeichnete Bildhauerarbeit betrachtete, desto mehr wollte ich darüber wissen.

Ein Lächeln spielte auf Vic's Lippen als sie auf die Informationstafel zeigte, die neben dem Kunstwerk montiert war. „Das ist kein gewöhnlicher Grabstein, sondern Teil der figürlichen Dekoration einer sogenannten memoria, eines riesigen Grabdenkmals einer bedeutenden und wohlhabenden römischen Familie. Ihre lebensgroßen Statuen waren in einer Art Säulenhalle zuoberst auf dem Monument angebracht." Sie machte mich auf die Zeichnung aufmerksam, die eine Art Mini-Tempel darstellte. „Der Turm war über zwanzig Meter hoch. Was ihn besonders bemerkenswert macht, ist, dass er in sumpfigem Gelände unten am See erbaut wurde. Um den Bau überhaupt erst zu ermöglichen, versenkten die römischen Arbeiter Dutzende von Eichenpfählen in der Moorebene. Erst damit konnten sie den Untergrund soweit stabilisieren, dass er das gewaltige Gewicht des Aufbaus aus Stein zu tragen vermochte."

Ich studierte die Rekonstruktionszeichnung der Anlage. Mit all diesen Simsen und Reliefdarstellungen hätte es sich auch um einen barocken Kirchturm handeln können. „Faszinierend. Weißt du, wann das gebaut wurde?"

„Ja, in diesem Fall hier haben wir Glück. Die Dendrochronologie datiert die Pfähle im Untergrund ins Jahr 28 unserer Zeitrechnung."

Matt, der die Infotafel studiert hatte, drehte sich zu uns um. „Dendrochronologie ist das Zählen von Jahrringen an alten Bäumen, richtig? Ihr könnt also sagen, dass das Monument vor knapp 2000 Jahren gebaut wurde?"

„Genau. Wenn die Eichen im Jahr 28 gefällt wurden, dann rechnen wir mit dem Bau im Jahr 29 oder vielleicht auch erst 30. Nur sehr wenige römische Fundstellen aus diesem Zeitraum sind so genau datiert. Es ist fast ein kleines Wunder. Aber wollen wir uns nun die Grabung ansehen? Sie ist leider nicht so spektakulär wie die Fundstelle En Chaplix, aber ein recht schönes Beispiel für einen durchschnittlichen römischen Bestattungsplatz."

Mit einem letzten Blick auf die leidende Nereide folgte ich der Archäologin durch eine Tür, die als Notausgang markiert war und uns hinaus auf die Straße entließ. Hinter uns erhob sich der Wachtturm, der von hier aus gesehen oben auf dem Hügel stand, der das Amphitheater beherbergte.

Vic schloss ihren verbeulten und in die Jahre gekommenen dunkelgrünen Kombi auf und schob einige Kisten im überfüllten Kofferraum beiseite, um Platz für Matts Tasche zu schaffen.

Er grinste und schob seine Ausrüstung in den freigewordenen Raum. „Du bist deiner Rostlaube treu geblieben, wie ich sehe."

„Der Wagen ist zuverlässiger als die meisten der Freunde, die ich im Lauf der Jahre hatte." Eine fröhliche Melodie erklang aus der Seitentasche ihrer Arbeitshose und sie angelte darin nach ihrem Telefon. Mit einem entschuldigenden Lächeln nahm sie den Anruf entgegen. „Hey. Paul, was gibts? Ich bin bereits unterwegs."

Matt hob die Brauen und formte lautlos das Wort „Paul?" Ich fragte mich, ob er dabei besorgt die Lippen verzog oder ob ich mich täuschte.

Vic nickte und beantwortete eine Frage ihres Telefonpartners mit einem Kichern. „Nein, ich fahre noch nicht, aber ich wollte wirklich gerade in den Wagen. Was ist denn so wichtig?"

Für einen Moment hörte sie schweigend zu. „Sicher, mach ich. Wir sehen uns gleich."

Vic rammte das Telefon zurück in die Tasche und öffnete die Fahrertür. „Macht es euch etwas aus, wenn ich noch kurz beim Depot vorbeifahre? Laut Paul haben wir keine Verpackungskisten mehr für die Grabbeigaben. Ich bin sicher, er wird sich freuen, dich zu sehen, Matt."

Wenn ich die Reaktion meines Partners auch nur einigermaßen richtig einschätzte, war die Freude nicht gegenseitig. Aber Matt verzichtete auf einen Kommentar und wir verbrachten die kurze Fahrt bis zum archäologischen Depot schweigend. Ich wollte nicht vor seiner Jugendfreundin fragen, was ihn bedrückte.

Vic bog auf den Parkplatz vor einer alten Konstruktionshalle ein und führte uns zum Eingang neben einer großen Stahl-Doppeltüre. „Das Gebäude war ursprünglich eine Sägerei — in den Achtzigerjahren oder so. In den Neunzigern wurde es dann umgebaut und dient uns seit da als Depot für die Kulturgüter."

Der fensterlose Raum war riesig und besaß im Eingangsbereich neben einem halb abgetrennten Büroteil auch eine Gruppe von Arbeitstischen. Den meisten Raum nahmen aber die Reihen von Palettengestellen ein, die den hinteren Bereich füllten. Sie enthielten tausende von Kiste und ganze Stapel von Kalksteinblöcken. Ich konnte nicht abschätzen, wie viele es waren. „Sind das alles archäologische Artefakte?"

„Ja, und wir haben noch ein zweites, etwas kleineres Depot. Zudem sind römische Bauteile auch an verschiedenen Stellen rings um die Stadt im Freien aufgestapelt. Hier drin wird nur gelagert, was von wissenschaftlichem Interesse ist."

Matt piff zwischen den Zähnen. „Jetzt verstehe ich, warum ihr dringend ein neues Museum braucht."

Ein Mann fuhr auf einem Gabelstapler vorbei, der eine Palette mit Bausteinen geladen hatte. Er hörte Matts Bemerkung und lachte schallend. „Wenn denn das Departement soviel Geld lockermachen oder zusammenbetteln kann." Er winkte uns zu und fuhr weiter.

Vic seufzte. „Alex hat recht, und selbst wenn die Kantonsregierung den Kredit bewilligt, werden wir immer noch weniger als ein Prozent aller Funde ausstellen können. Die Sammlung ist inzwischen einfach zu groß, um vollständig gezeigt zu werden. Abgesehen davon wird der Bau des neuen Museums einige Jahre dauern. Hier."

Sie hob ein riesiges Bündel an Polster- und Verpackungsmaterial auf und reichte es Matt. Von einem Stapel in einer Ecke nahm sie die fünf obersten Kisten und drückte sie mir in die Hände. „Würde es euch etwas ausmachen, das schon mal in den Wagen zu laden? Ich hole noch den Papierkram im Büro und komme gleich nach."

Die Kisten waren sperrig, aber leer, und ich hatte keine Mühe, sie zu tragen. Matt stiess die Tür auf und stand beiseite, um sie für mich offenzuhalten. Ich bedankte mich und ging an ihm vorbei, wobei ich die Augen zusammenkniff, weil das grelle Sonnenlicht draußen mich blendete. Als ich sie wieder öffnete, zerriss ein raues Krächzen die Stille und der Schatten eines riesigen Vogels stürzte in meine Richtung. Ich schnappte nach Luft, lies meine Ladung fallen und schütze meinen Kopf mit den Armen.

Nach einigen Sekunde wagte ich den Versuch, zwischen meinen Fingern hindurchzuspähen und senkte dann vorsichtig meine Arme. Es war nirgends ein Vogel in Sicht, aber Matt starrte mich mit gerunzelter Stirn an. „Was ist denn in dich gefahren?"

„Hast du ihn nicht gesehen?"

„Ihn?" er schüttelte den Kopf und sah sich auf dem Parkplatz um. Das Areal war abgesehen von vier parkierten Wagen leer. „Wen meinst du?"

Anstatt ihm zu antworten, blickte ich hoch und studierte den makellos blauen Himmel. Da waren weder eine Wolke noch ein Vogel in Sicht. Er war verschwunden, und einzig ein leichtes Jucken an meinem linken Handgelenk überzeugte mich, dass ich mir den Angriff nicht eingebildet hatte. Ich widerstand der Versuchung, mich zu kratzen und fuhr nur kurz mit dem Daumen über die Stelle. Das Jucken war ein sicheres Zeichen für die Anwesenheit eines Geists, selbst wenn es bereits wieder nachließ. „Huh. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, der Rabe hat mich gefunden."

„Der Rabe oder ein Rabe?" Matt hob die Brauen und deutete auf mein Handgelenk. „Meinst du einen der Geistervögel von Corbières? Ist das überhaupt möglich?"

„Keine Ahnung." Es war zwei Monate her seit ich die charakteristische Signatur dieses speziellen Geists gespürt hatte. Damals war ich mir sicher gewesen, dass ich nie wieder etwas mit ihm zu tun haben würde. „Aber ich sah einen Vogel aus dem Himmel auf mich herabstoßen, als ich durch die Tür trat. Wie in diesem Film von Hitchcock. Dass du ihn nicht gesehen hast, macht es nur wahrscheinlicher, dass es sich um einen Geist handelte."

„Seltsam." Er legte den Kopf zurück und scannte den Himmel.

„Stimmt. Aber hier herumstehen hilft uns nicht herausfinden, was er wollte. Komm, verladen wir zuerst diese Kisten."

Als ich mich bückte, um die Behälter einzusammeln, fiel mein Blick auf ein Bündel vergilbtes Papier. Wo kam das plötzlich her? Ich kniff die Augen zusammen, um die verblasste Druckerschwärze zu entziffern. Das Papier war in schmalen Spalten bedruckt — eine alte Zeitung. Aufgrund der zerrissenen und umgelegten Ränder war sie wohl als Einlage für eine der Kisten verwendet worden. Vermutlich fiel sie zu Boden, als mich der Vogel erschreckte und ich den Stapel fallenließ.

Ich hob die Zeitung auf, um sie wieder in eine Kiste zu legen, als eine kleine schwarze Feder aus dem Bündel fiel und von einem plötzlichen kalten Windstoß davongetragen wurde. Mein Handgelenk juckte bis ich die wirbelnde Feder aus den Augen verlor.

Etwas stimmte hier nicht. Ich musste herausfinden, was es war — und zwar schnell.

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