29 - Auf dem Berg
Die letzten Sonnenstrahlen küssten den Neuschnees auf den Gipfeln und tauchten sie in eine Symphonie aus leuchtendem Gold und Orange, das mit den dunklen Flächen der Felsen kontrastierte. Einige zarte Wolken dekorierten das intensive Blau des Himmels, als ob der mutige Pinselstrich eines begabten Künstlers sie der Szene beigefügt hätte, um das Bild der Natur zu perfektionieren.
Ich sog den Eindruck in mich auf. Dieser Urlaub war wirklich eine gute Idee gewesen, und schon lange überfällig. Es war schon spät im Jahr, und die Reste des ersten Schnees füllten die Spalten und Vertiefungen, die von der Sonne nicht erreicht wurden. Schon bald würde diese einmalige Landschaft tief unter einer stillen, weißen Decke verschwinden, um auf den nächsten Frühling zu warten. Aber für einige wenige magische Tage gehörte sie uns für eine Entdeckungsreise. Ich stampfte durch eine sumpfige Stelle, froh um meine stabilen Wanderschuhe, die inzwischen schon lehmverkrustet waren.
Lou schloss zu mir auf und stoppte neben mir auf dem schmalen Weg. „Sieh, da oben." Er deutete nach links, wo eine Herde brauner Tiere mit beneidenswerter Geschicklichkeit per eine Felsnase kletterten.
„Sind das Bergziegen?" die gekrümmten Hörner schienen riesig zu sein, viel länger und schwerer als jene von allen Ziegen, die ich gesehen hatte.
Mein Freund lachte. „Das sind Steinböcke. Schade, dass sie so weit weg sind. Hast Du noch nie welche gesehen?"
„Nur auf Bildern. Vermutlich lassen sie sich nicht blicken, wenn man die Berge entweder auf einem Schulausflug oder mit der Seilbahn besucht."
Er nickte. „An viel begangenen Orten sind sie selten, und manche Menschen erhalten niemals Gelegenheit, mehr als einige der touristischen Ausflugsziele zu besuchen. Dort sind die Chancen, Wildtiere zu sehen, erfahrungsgemäß schlecht. Aber wir sollten für all jene dankbar sein, die uns diesen wundervollen Flecken überlassen."
„Du hast recht." Ich studierte immer noch die Steinböcke. „Sie sind wirklich super cool. Schau mal, wie die Jungen über die Felsen klettern, als ob es ein lustiges Spiel wäre. Ich wäre an ihrer Stelle schon lange abgestürzt."
„Wohl kaum. Du bist ein Naturtalent, sonst hätte ich dich niemals mit hier hoch genommen."
Ich küsste ihn auf die Wange. „Mach mir keine Komplimente, sie könnten wir zu Kopf steigen. Aber danke, dass Du diesen Ausflug organisiert hast. Ich genieße jede Minute." Das stimmte, und ich meinte nicht nur seine Gesellschaft, sondern auch die atemberaubende Landschaft, die klare Bergluft und das Gefühl, eine neue Welt voller Wunder und Überraschungen zu erkunden. Er nahm meine Hand und wir warteten, bis die Steinböcke über einen kleinen Grat stiegen und aus unserem Blickfeld verschwanden.
An diesem dritten Tag unserer Wanderung hatten wir das Tal verlassen und waren die steile Flanke des Bergs hinaufgestiegen bis zum Gletscher. Sein bläuliches Eis war von schwarzem Gestein und Staub bedeckt. Der Klimawandel verminderte sein Volumen und die natürliche Schönheit von Jahr zu Jahr. Lou zeigte mir, wo die Gletscherzunge gewesen war, als er diesen Ort vor Jahren zum ersten Mal besuchte. Ich war schockiert über die Menge des Eises, das seit damals verschwunden war — in einer viel zu kurzen Zeit. Ich beschloss, mein bestes zu geben, um dieses Wunder der Natur auch für die Zukunft zu erhalten.
Nach der Überquerung des Gletschers folgten wir dem Pfad entlang der bröckelnden Seitenmoräne immer weiter bergan bis zu einem alten Alpenpass. Lou erzählte mir vom archäologischen Funden, die dort oben gemacht wurden und bis in die Bronzezeit oder noch früher zurückgingen. Das erinnerte mich an unser Abenteuer in Aventicum. „Denkst Du, dass Marius und Cinna ihren Frieden gefunden haben?"
„Ich hoffe es für sie, aber wissen kann ich es nicht. Du bist die Expertin in Sachen Geister." Lou zwinkerte mir zu. „Was hat unser Freund Guillaume gemeint?"
„Er war überzeugt, dass sie an einen anderen Ort weitergezogen sind." So, wie der Ritter es ausgedrückt hatte, klang es beinahe, als hätten sie freiwillig auf ihre Existenz verzichtet. Aber Guillaume war natürlich nicht der typischste Geist, den ich bisher angetroffen hatte. „Etwas, dass er selbst niemals in Betracht ziehen würde."
„Ja, unser Ritter hängt doch zu sehr an seinem Nachleben, um es einfach aufzugeben. Und nun, wo er herausgefunden hat, wie er das Schloss verlassen kann, stehen uns bestimmt aufregende Zeiten bevor." Lous Lächeln sagte mir, dass er sich nicht daran störte. Er mochte inzwischen den heimischen Geist ebenso wie ich.
„Trotzdem, ich bin froh, dass wir hier oben ein paar Tage Pause haben. Keine Unterbrechung durch die Gäste, keine Überraschungsbesuche im Schlafzimmer durch Ritter Guillaume, kein Drama im Spa, nur wir zwei und die ewige Schönheit der Berge." Ich breitete meine Arme aus und wirbelte um meiner Achse — auf einer ebenen Stelle des Wegs.
„Sagt die Frau, die noch vor zwei Wochen fürchtete, eine Felswand hinunterzustürzen."
Ich sandte ihm meinen finstersten Blick. "Ich werde ein Wörtchen mit Matt reden müssen, dem Verräter."
Lou schüttelte den Kopf während er die Führung auf einem steilen Wegstück übernahm. „Sei nett mit ihm. Er wollte bloß sicher sein, dass ich weiß, dass Du Angst hast. Er macht sich bloß Sorgen um dich."
„Ich weiß, und ich bin ihm wirklich dankbar für alles, womit er mir geholfen hat. Vom Schuhe kaufen bis zu seiner verbalen Unterstützung — und natürlich auch, dass er für dich das Schloss hütet. Ich möchte wissen, wie er zurechtkommt."
„Keine Sorge, ich bin sicher, dass er das Hostel führt wie ein präzises Uhrwerk." Lou schenkte mir ein zuversichtlicheres Lächeln über die Schulter. „Wie werden uns aber bestimmt an einige neue technische Spielereien gewöhnen müssen, danach."
Ich lachte und stellte mir ein computergesteuertes Wasserspiel auf der Terrasse von Corbières vor. Oder Loungemusik mit farbiger Beleuchtung im Spa. Ritter Guillaume wäre bestimmt begeistert. Wenn Matt nicht auf die Idee kam, musste ich ihm einen entsprechenden Tip geben. „Ich mache mir weniger Sorge um das Schloss und die Gäste als um seinen Vorsatz, Paul einzuladen."
„Nun, ich vertraue darauf, dass der Kerl sich wie ein zivilisiertes Wesen benimmt, nun da er nicht mehr von einem römischen Legionär besessen ist. Paul schien liebenswert genug, ganz am Schluss, und ich bin sicher, ein Treffen wird Matt helfen, über dieses Kapitel in seinem Leben wegzukommen."
Damit hatte er wohl recht, und ich hoffte, dass die Sorge um meinen Freund unbegründet war. Ich folgte Lou eine Spalte hoch, wobei ich die Hände zu Hilfe nahm, um mich an den Felsen festzuhalten. Oben an der nächsten Steilstelle hielt er an und deutete voraus. „Fast am Ziel, da vorne liegt die Hütte. Wir werden rechtzeitig zum Essen dort sein."
Die solide, zweistöckige Hütte unterhalb einer Felswand badete im Licht der Abendsonne und lockte mit dem Versprechen einer warmen Mahlzeit und einer gemütlichen Nacht — ohne Geister und andere Unterbrechungen. „Ich bin hungrig wie ein Wolf. Das ist der beste Urlaub seit meine Großmutter mich mit in ihre karibische Heimat nahm."
„Ich war noch nie in der Karibik. Würdest Du mir deine Insel zeigen?"
Ich lachte. „Sie gehört mir nicht, aber ja doch, wenn Du möchtest. Ich werde sogar mit dir den Vulkan besteigen, sobald du genug vom Meer und dem Regenwald hast."
„Das klingt toll. Auf einen Vulkan klettern steht noch auf meiner Liste. Ist er noch aktiv?"
„Oh ja, er grummelt ab und zu. Und der Dschungel ist auch ganz toll. Aber lass uns zuerst diesen Urlaub hier genießen, bevor wir den nächsten planen." Ich nahm seine Hand und wir gingen nebeneinander auf dem etwas breiteren Weg auf die Hütte zu. Ich sog die Landschaft und all die Eindrücke in mich auf, den Geruch der feuchten Erde, das goldene Abendlicht und die entfernten Vogelschreie. Aber nicht lange.
Ein Schatten fiel auf den Pfad vor mir als ein großer schwarzer Vogel tief über meinen Kopf zog, dabei beinahe mein Haar berührte und auf einem Felsen neben dem Weg landete. Ich stoppte und starrte den Raben an. Das war nicht das normale Verhalten eines Vogels.
Lou kreuzte die Arme, eine Sorgenfalte auf der Stirn. „Sag mir bloß nicht, dass Du diese Vögel sogar hier oben am Ende der Welt anziehst."
„Tut mir leid, aber es sieht fast so aus." Ich trat vor und verkleinerte die Distanz zu dem Raben so weit ich mich traute, bevor ich eine Hand ausstreckte. Der Vogel hüpfte von einem Beim aufs andere und legte den Kopf schief, floh aber nicht. Es sah beinahe aus, als würde er etwas von mir erwarten. „Was ist los, mein Freund? Wie kann ich helfen?"
Der Rabe krächzte und flatterte zu einem Block einige Schritte weiter in dem Feld voller Felstrümmer neben dem Pfad. Ich machte einige zögernde Schritte in der gleichen Richtung, als das altbekannte Kribbeln in meinem Handgelenk mir alles sagte, was ich wissen musste. Lou war nicht der einzige mit einem fordernden Job, und zum ersten Mal begriff ich, dass die Bedürfnisse meiner Kunden wohl schwieriger zu befriedigen waren, als diejenigen seiner Backpacker. Soviel zu unserem ruhigen Tête-à-tête und einer ungestörten Nacht.
Ich justierte die Riemen meines Rucksacks und folgte dem Raben zum nächsten Felsen. Mit einem kurzen „Krah" hüpfte er in die Luft und landete auf einer ebenen Felsplatte, die von weißen Quarzadern durchzogen war. Sobald ich sie erreichte, hüpfte er weiter auf einen Granitblock. „Also, ich habe begriffen, dass Du willst, dass es ich dir folge. Kannst Du mir zeigen, wie weit?"
Der Rabe starrte mich aus einem schwarzen Auge an bevor aufflog und in gerader Linie bis zu einer Felsgruppe an einem kleinen Teich mit Schmelzwasser flatterte. Dort kreiste er einmal, zweimal, bevor er zu uns zurückkehrte. Ich betrachtete die Felsformation, die er uns angezeigt hatte, und drehte mich zu meinem Begleiter um. Er stand nur wenige Schritte hinter mir. „Der Geist versteckt sich wohl bei diesen Blöcken dort drüben."
Lou kratze die rötlichen Stoppeln an seinem Kinn. „Soviel habe ich mitbekommen. Deine Kommunikationsfähigkeit wird besser."
„Sieht so aus. Allerdings weiß ich immer noch nicht, ob das immer der gleiche Vogel ist, oder ob verschiedene sich abwechseln. Wie auch immer, der Geist will wohl meine Hilfe. Wenn es denn nicht gleich mehrere sind, die diesen einsamen Fleck bevölkern."
Er lachte, nahm mich in die Arme und küsste mich auf den Kopf. „Warum überrascht mich das nicht? Du scheinst dir in den letzten Wochen eine Reputation unter hilfesuchenden Geistern aufgebaut zu haben."
„Ja, und das obwohl ich immer noch daran zweifle, dass Matt und ich jemals davon leben werden können, wenn wir nicht auch mal unverstorbene Kunden akquirieren." Während alle im Team von Aventicum glücklich darüber waren, dass wir ihr Problem mit dem Spuk im Depot lösen konnten, besaßen sie nicht die Mittel, uns zu bezahlen. Wir hatten das von Beginn weg gewusst und störten uns nicht daran, denn sie würden bestimmt unsere Dienste weiterempfehlen und helfen, unserem jungen Unternehmen einen guten Ruf zu verschaffen. Aber wir benötigten bald auch bezahlende Kunden, wenn wir überleben wollten. Geister in entlegenen Bergregionen gehörten kaum dazu.
Lou schien meine Gedanken zu lesen. „Nun, Du solltest einem geschenkten Gaul nicht ins Maul schauen. Wer weiß, wohin dich das führt." Er warf einen Blick auf die sinkende Sonne. „Wenn Du meine Hilfe möchtest, bin ich dabei. Aber denkst Du, wir könnten die Aktion verschieben bis nach dem Essen? Ich bin am verhungern."
Der Rabe plusterte sein Gefieder und das Kribbeln in meinem Arm ließ nach. Ich blickte von dem Vogel zu Lou und zurück. Hatten die beiden da gerade einen Handel abgeschlossen? „Also gut, ihr zwei. Ist es in Ordnung, wenn wir das nach dem Essen erledigen?" Der Rabe krächzte und Lou nickte. Das schien einfacher, als ich gefürchtet hatte. „Gut. Wir treffen uns hier in zwei Stunden und ich sehe, was ich für den Geist tun kann. Wir werden in diesem steinigen Gelände aber eine Taschenlampe brauchen, also bitte nicht in Panik ausbrechen, wenn wir uns nähern."
Ein weiteres Krächzen. Ich grinste, stolz auf meine neuen kommunikativen Fähigkeiten. „Perfekt. Aber bitte sag deinem Klienten inzwischen, er solle keine unschuldigen Touristen erschrecken und nicht auf die Idee kommen, jemanden in Besitz zu nehmen. Ich habe noch genug von unserer letzten Begegnung mit einem Besessenen."
Der Rabe krächzte zustimmend und Lou lachte auf während seine warmen Finger meine ergriffen. Wir gingen das kurze Stück zur Hüte Hand in Hand und ich fühlte mich wie die glücklichste Person auf der Welt.
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