23 - Fluch und Segen

Vic holte eine Eispackung aus dem Kühlschrank, um Matts schlimmste Verletzungen zu kühlen und Lou entschied, eine Runde Kaffee oder Tee wäre nun für alle angebracht. Ich lehnte nicht ab. Eine Tasse Tee mochte zumindest einen Teil meiner Energie zurückbringen.

Matt hatte eine hässliche Schramme unter dem linken Auge, aber zumindest schien die Schwellung seine Sicht nicht zu beeinträchtigen. Er presste die Eispackung gegen seine Wange. „Weißt Du, wie wir Paul von der Besessenheit befreien können?"

Ich rührte meine Tasse Earl Grey, in die ich ausnahmsweise Zucker beigefügt hatte. „Das wäre ein Exorzismus, und gehört definitiv nicht meinen Spezialitäten. Aber ich glaube, wenn wir Marius dazu bringen, sein offenes Geschäft in dieser Welt zu beenden, würde er verschwinden und Paul wäre ihn damit auch los."

Ritter Guillaume, der als einziger von unserer Teegesellschaft ausgeschlossen war, hing im Büro auf und ab. „Wenn es der Fluch ist, der ihn und Cinna zurückhält, muss er gebrochen werden."

„Das ist richtig. Ich weiß bloß nicht wie ich das bewerkstelligen soll. Das Museum wird uns wohl kaum erlauben, die ursprüngliche defixio zu zerstören."

Bei meinem Vorschlag sprang Vic beinahe vom Stuhl. „Bist Du verrückt? Das ist ein einmaliges Stück und wird im Safe aufbewahrt. Der einzige Weg, überhaupt dazu Zugang zu erhalten, wäre durch den Antrag auf ein Forschungsprojekt oder als Ausleihe für eine Ausstellung. Wir können weder das eine noch das andere glaubhaft darlegen, also würde uns niemand erlauben, das Stück auch nur zu berühren. Geschweige denn, es zu zerstören."

„Ich bin nicht einmal sicher, dass eine Zerstörung unser Ziel erreichen würde." Der Fluch mochte an dem Objekt verankert sein, aber wir konnten andere Komponenten nicht ausschließen, die ins ursprüngliche Ritual eingeflossen waren. Ich seufzte und trank meinen Tee aus. Der Zucker mochte mich auf die Beine bringen, aber er schmeckte scheußlich. „Lasst uns für heute Schluss machen. Ich muss morgen herausfinden, wie sich solche Flüche brechen lassen."

Wir machten ab, in Kontakt zu bleiben und wünschten einander eine gute Nacht. Auf der Heimfahrt räusperte sich Ritter Guillaume. Ich drehte mich zu ihm um und begegnete dem intensiven Blick seiner glühenden Augen. „Was beschäftigt Sie?"

„Nichts, meine Dame. Ich habe mich bloß gefragt, ob ein einfacher Gegenfluch in dieser Situation helfen könnte."

„Ich bin keine Hexe, wie Sie vielleicht inzwischen bemerkt haben. Ich beherrsche keine Flüche."

Meine verstorbene karibische Großmutter Elise war eine berühmte Weise Frau gewesen, aber ich hatte ihre Praktiken nie gelernt und bezweifelte, dass mein Talent viel weiterreichte, als mit Geistern zu kommunizieren.

„Ich bin überzeugt, dass Sie Ihre Begabung herunterspielen, meine Liebe. Aber wie dem auch sei, ich spreche nicht von einem Fluch, sondern von den Gegenmaßnahmen. Nennen Sie es einen Segen, wenn Sie das Wort Fluch vermeiden wollen. Wir beide wissen, dass Sie die Gabe haben, also warum sie nicht einsetzen?" Der Blick des Ritters drohte meine sorgfältig aufgebauten geistigen Barrieren zu durchdringen und sich direkt in meine unruhige Seele zu bohren.

Ich drehte mich weg und starrte aus dem Fenster auf die mondbeschienene Landschaft während ich über seinen Vorschlag nachdachte. War ich bereit, mein Engagement in paranormale Dinge einen Schritt weiter zu führen?

Lou, der unserem Austausch schweigend zugehört hatte, legte mir sanft die Hand aufs Knie. „Was auch immer Du tust, wir werden niemals etwas verlangen, das gegen deine Überzeugung geht."

„Vielen Dank. Ich glaube, ich werde erstmal darüber schlafen. Vielleicht gibt es noch einen anderen Weg."

Ritter Guillaume hustet. „Ich wollte sie nicht drängen, werte Dame. Aber ich möchte vorschlagen, dass sie ihren Gefühlen vertrauen."

Gerade jetzt sagten meine Gefühle, dass ich dringend Schlaf brauchte — sehr viel Schlaf. Aber ich schätzte die Unterstützung sowohl des gegenwärtigen wie des ursprünglichen Eigners des Schlosses von Corbières.

Wir parkierten den Wagen und zogen uns in unsere Räume zurück, wo Lou vorschlug, Ritter Guillaume solle den Nachttopf auf das Bücherregal im Wohnzimmer stellen. Ich sagte ihm nicht, dass dies quasi eine Einladung für den Geist war, bei uns zu wohnen. Er tat dies in den letzten Wochen ohnehin.

Der Ritter wirkte aber überrascht und wusste sehr wohl um die Bedeutung dieses Schritts. „Das ist sehr freundlich, Meister Louis." Er platzierte sein wertvolles Stück neben einer Marmorstatue eines springenden Delphins und bestaunte die seltsame Kombination einen Moment lang, bevor er sich verbeugte und durch die Wand in jene Teile des Schlosses zurückzog, die er als sein Heim betrachtete.

Ich verlor keine Zeit und ging zu Bett, wo ich mich dicht an Lou kuschelte. Seine warme Gegenwart beruhigte mich und half mir, meine Gedanken zu ordnen. In seinen Armen schienen die Probleme nicht mehr so unlösbar wie zuvor.

Das nächste, was in mein Bewusstsein drang, waren eine sanfte Stimme und das klicken von Geschirr als Lou mir am Samstagmorgen eine Tasse Kaffee and Bett brachte. „Guten Morgen, Liebes. Hast Du etwas Schlaf bekommen und eine Lösung gefunden?"

Ich atmete das köstliche Aroma ein, das die Tasse verströmte, und lächelte. „Was haben wir denn schon für Optionen? Exorzismus steht nicht auf der Liste meiner Fähigkeiten, und ich bezweifle, dass wir in der Schlossbibliothek ein entsprechendes Handbuch finden. Deshalb wird es wohl am besten sein, Ritter Guillaumes Ratschlag zu befolgen und den Fluch mit einem Segen zu bekämpfen. Das dürfte zudem sicher für alle Beteiligten sein."

„Das klingt doch gut. Ich mag Segnungen irgendwie besser als Flüche. Wie kann ich dabei helfen?"

Seine aufrichtige Unterstützung sandte eine Welle der Wärme durch meinen angespannten Körper. Ich hatte meine Gabe ein Leben lang verborgen gehalten in der Angst, die Menschen würden mich ihretwegen meiden — oder schlimmer. Wie hatte ich einen verständnisvollen Partner wie ihn verdient?

Nach dem Frühstück rief ich Matt und Vic an. Sie trafen beide nach dem Mittag ein und wir setzten uns in die Bibliothek, um die Lage zu besprechen. Vic, die zum ersten Mal das Schloss besuchte, studierte mit großen Augen die Stuckdecke und die Schätze auf den dunklen Holzregalen, die jede freie Wandfläche bedeckten. Dann trat sie an ein Fenster, um die Aussicht über den Garten und den See zu genießen. „Was für ein wundervoller Ort. Ihr beide seid beneidenswert, hier leben zu dürfen."

Lou trat zu ihr ans Fenster. „Danke, ich weiß. Mein Großvater kaufte diese Schloss damals in den Sechzigerjahren, und ich hatte das Glück, hier aufzuwachsen. Das Gebäude ist aber grenzenlos aufwendig im Unterhalt. Nur alleine die jährlichen Kosten für Reparaturarbeiten betragen ein kleines Vermögen. Deshalb versuche ich, es als Backpacker Hostel zu betreiben. Aber sogar so bin ich nicht sicher, dass ich mittelfristig über die Runden komme. Wir können uns glücklich schätzen, dass Ritter Guillaume und die Gerüchte über ein Schlossgespenst die Dinge etwas ins Rollen brachten. Ein Spukschloss zieht Gäste aus aller Welt an."

Matt setzte sich auf das antike Ledersofa. „Lou, Du bist eine der wenigen Personen, die ich kenne, die sich über einen Geist in ihrem Haus freuen. Selbst wenn es aus finanziellen Gründen ist."

„Wenn ich ehrlich sein soll, der alte Knabe beginnt mir langsam ans Herz zu wachsen. Die Vorstellung, dass ich Jahrzehnte in diesem Schloss verbrachte, ohne ihn zu kennen, ist irgendwie traurig. Meine Kindheit war eher einsam, und sie hätte deutlich interessanter verlaufen können."

Ich versuchte mir vorzustellen, wie ein junger Lou sich mit Ritter Guillaume zusammentat, um Schabernack zu treiben. Vielleicht was es gut, dass sich die beiden erst so spät kennenlernten.

Matt blies hörbar Luft aus. „Oder Du hättest als seltsamer Eigenbrötler enden können wie ich. Mit einen Geist, der in meinem Zimmer spukte und den niemand sonst hören konnte, erklärte mich fast jedermanns verrückt."

„Das tut mir so leid, Matt." Vic setzte sich neben ihn und berührte seinen Arm. „Wenn ich gewusst hätte, dass dein Geist real war..." Sie verstummte und senkte die Augen, aber dann richtete sie sich auf und suchte Augenkontakt mit ihm. „Nein, ich hätte die Geschichte glauben müssen. Ich wusste, dass Du kein Lügner bist, aber irgendwie klang diese Poltergeist-Geschichte so weit hergeholt. Bitte entschuldige, auch wenn es Jahre her ist."

„Ist schon in Ordnung, Vicky. Du hast dich bereits gestern entschuldigt. Abgesehen davon warst Du nicht die einzige. Und zumindest hast Du mich deswegen nicht links liegen gelassen wie die anderen." Er drückte ihren Arm. „Vergiss es einfach. Wir hatten trotzdem eine gute Zeit und ich erhielt die einmalige Gelegenheit, mit Menschen und Geistern gleichzeitig umgehen zu lernen."

Sie zuckte die Schultern. „Das mag für dich ja gut sein. Aber ich fühle mich trotzdem schlecht für mein Verhalten."

Matt zog sie in eine Umarmung. „Mach Dir keine Sorgen, es liegt weit in der Vergangenheit. Lass uns lieber herausfinden, wie wir unseren beiden römischen Geistern helfen können. Hast Du schon eine Idee, San?"

Ich grinste. „Ritter Guillaume hat mich da auf etwas gestoßen. So könnten wir Marius und Cinna von dem Fluch befreien und gleichzeitig Paul helfen."

Matt liess Vic los und Lou setzte sich zu uns an den Salontisch. Vics Lächeln war breiter als ich es seit einer ganzen Weile gesehen hatte. Ich konnte bloß hoffen, dass mein wilder Plan tatsächlich funktionierte. „Die Lösung könnte ein Gegenfluch sein, oder wie Guillaume es nennt, ein Segen, um die Wirkung des Fluchs zu brechen. Ich werde dazu aber eure Hilfe brauchen. Einerseits mit der lateinischen Formulierung, andererseits dabei, etwas geeignetes als Ersatz für das Täfelchen zu finden, das wir im Ritual brauchen."

„Eine Bleitafel? Wir könnten eine aus alten Auswucht-Gewichten gießen." Matts unschlagbarer Sinn für praktische Dinge fand schon erste Lösungen.

Vic runzelte die Stirn. „Die Autorin des Artikels über die Fluchtafel sagt, dass für Segenswünsche Gold oder Silber verwendet wurde. Das ist schwieriger aufzutreiben als Blei."

„Nahezu unmöglich in der Menge, die wir für eine Tafel brauchen würden. Zumindest Gold." Matt fuhr sich mit dem Händen durch sein Haar. Der Effekt war betörend. „Gibt es andere Optionen? Irgend ein modernes Material?"

„Oh, wir haben vielleicht noch alte Silberware in der Werkstatt." Lous zufriedenes Lächeln brachte meinen Herzschlag zum rasen. „Erinnert ihr euch daran, dass das Schloss im Besitz einiger Künstler war, bevor Großpapa es kaufte? Nun, einer, der Gäste, der hier einige Zeit lebte, war ein Bildhauer, der auch gerne mal mit Gießerei herumexperimentierte. Matt und ich können seine Vorräte an Altmetall durchsuchen währen ihr beide einen Text entwerft." Er war bereits halbwegs bei der Tür. „Komm schon, Matt. Ich werde deine Hilfe brauchen, um ein paar Möbel zu verschieben, damit wir ans Depot rankommen."

Der angesprochene warf mir einen hilflosen Blick zu und folgte Lou. Vic sah den beiden nach und schüttelte den Kopf. „Dein Partner ist nicht jemand, der gerne um den heissen Brei rumredet, nicht wahr?"

Ich lachte. Lou war wirklich der Typ, der gerne zupackte, und ich liebte das an ihm. Mit ihm und Matt war mein Leben in kürzester Zeit ein Wirbelwind von schnellen Entscheidungen und interessanten Problemlösungsansätzen geworden. „Ich bin sicher, dass sie etwas finden, das als Segenstafel dienen kann. Sollen wir also versuchen, die Nachricht zu schreiben, die darauf stehen soll?"

„Sicher, obwohl ich mich nicht daran erinnern kann, wie die korrekte Formulierung für einen solchen Text auszusehen hat."

„Lass uns den Fluch als Vorlage nehmen. Der war kurz und bündig und hat offensichtlich gut funktioniert. Ich glaube, die Tafel ist nur der Anker für das Ritual. Dieses richtig hinzubekommen wird die größere Herausforderung."

Die Stirnfalte erschien wieder. „Da werde ich keine große Hilfe sein. Ich bin Feldarchäologin und weiß wenig oder gar nichts über die spirituelle Welt der Römer oder anderer antiker Gesellschaften."

„Das habe ich fast angenommen und deshalb heute morgen selbst etwas recherchiert." Mehrere Stunden Surfen im Internet hatten gereicht, um meine lückenhafte Kenntnis von Voodoo-Magie mit populären Fakten über die griechische und römische Glaubenswelt anzureichern. Ich hoffte, die antiken Götter würden sich an der ungewöhnlichen Mischung nicht stören. Zumindest hatte ich einige strukturelle Parallelen herausarbeiten können, die Ritualen in allen gängigen Religionen gemeinsam waren. „Lass uns mit dem Segen beginnen. Wir können uns über das übrige später Gedanken machen."

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