22 - Besessen
Kalte Finger strichen über meine glühende Wange während meine Sicht sich klärte als ich zu mir kam. Mit tiefen Atemzügen füllte ich meine schmerzenden Lungen. Das erste, was ich erkannte, war die verschwommene Gestalt von Matt, der mit erhobenen Händen zwischen Paul und Vic stand. Die Szene gewann zunehmend an Schärfe und ich konnte seinen angespannten Gesichtsausdruck erkennen. Vic drückte unterdessen Cinnas Lampe gegen die Brust wie einen wertvollen Schatz.
„San, geht es dir gut?" Lous Stimme ließ mich gerade nach oben und in seine besorgten grauen Augen blicken. Er kniete neben mir, sein Gesicht bleich und eine tiefe Falte auf seiner Stirn,
„Alles gut, nur zerschlagen von—" Ich juckte auf als Paul versuchte, mit katzenhafter Schnelligkeit Matt zu umgehen und nach dem Artefakt zu greifen. „Matt, er darf das Ding nicht bekommen. Halte ihn davon fern."
Der Konservator knurrte meinen Geschäftspartner an wie ein tollwütiger Hund. Das war nicht gut. Mit Lous Unterstützung setzte ich mich auf und versuchte mit krächzender Stimme, ihn zur Vernunft zu bringen. „Hör auf damit, Paul. Lass und das wie vernünftige Erwachsene diskutieren."
Ohne mich zu beachten, umging er Matt und stürzte sich auf Vic, oder besser die römische Lampe in ihrer Obhut. Matt konnte nicht schnell genug reagieren, aber Vic rettete sich mit einem Sprung über den Tisch. Mehrere Bücher, ein Stapel Ordner und ein Bleistifthalter krachten dabei zu Boden. Durch den Tisch behindert langte Paul nach seinem Opfer. Vics Blick flog von rechts nach links auf der Suche nach einem Fluchtweg. Es gab keinen.
Aber bevor Paul über den Tisch steigen konnte, stürzte sich Matt von hinten auf ihn. Sekunden später rollten die beiden am Boden und kämpften erbittert inmitten von Stiften und losen Blättern um die Oberhand.
Wie versteinert beobachtete ich den Kampf während ich noch darum kämpfte, trotz pochender Kopfschmerzen meine sieben Sinne wieder zusammen zu bringen. Dabei wurde mir klar, dass Matt, der versuchte, seinen Angreifer unschädlich zu machen, ohne ihm eine Verletzung zuzufügen, im Nachteil war. Ohne solche Skrupel deckte Paul meinen Freund mit gnadenlosen Schlägen ein. Ich versuchte, auf die Beine zu kommen und mich einzumischen, aber Lou drückte kurz meinen Arm bevor er mich zur Seite schob und Matt zu Hilfe eilte.
Die beiden Gegner rollten hin und her, ohne ihm eine Gelegenheit zu bieten, den Kampf zu unterbrechen. Er ging um die Kämpfenden herum, erfolglos nach einer Möglichkeit suchend, bis
Paul die Oberhand gewann. Er saß auf Matts Brust und hob den Arm, um ihn ins Gesicht zu schlagen. Lou packte ihn zielbewusst von hinten und legte einen Arm um seinen Hals. Dann zog er Pauls Kopf in einem Würgegriff zurück. „Genug jetzt, das reicht. Du kannst sowas hier nicht bieten."
Paul versuchte, nach hinten zu schlagen, aber Lou war vorbereitet. Er drückte fester zu und packte Pauls linken Arm, um ihn ihm auf den Rücken zu drehen. Sein Gefangener stöhnte auf.
Matt stand auf und rieb sich die Seite. Seinen Ex bedachte er mit einem finsteren Blick. „Bist Du jetzt komplett durchgedreht, Paul?"
„Nein, ist er nicht." Ich benutzte einen der Drehstühle, um beim Aufstehen mein Gleichgewicht zu halten. Das helle Licht ließ mich blinzeln und verstärkte meine Kopfschmerzen. „Nicht verrückt, meine ich, nicht im üblichen Sinn zumindest. Lou, bitte halt ihn fest und lass ihn nicht entwischen. Wir können kein Risiko eingehen und ich muss diesem Mann dringend ein paar Fragen stellen."
Ich beschattete meine Augen mit der Hand. „Aber zuerst, könntest Du bitte das Licht etwas dämpfen, Vic? Ich habe schreckliche Kopfschmerzen, und ich bin sicher, Ritter Guillaume leidet auch unter der Helligkeit."
Während die Archäologin die meisten der Deckenlampen ausschaltete, ging ich um den Stuhl herum, der mir als Stütze diente, und setzte mich darauf. Mein Körper hatte die direkte Begegnung mit Paul noch nicht überwunden. „Ist das etwas besser, Ritter Guillaume?"
„Danke, meine Dame, viel besser." der Geist verließ die Ecke, in die er sich verkrochen hatte, seinen kostbaren Nachttopf gegen den Bauch gedrückt. Damit hatte er natürlich nicht durch eine Wand flüchten können. „Warum hat dieser unfreundliche Herr die bezaubernde junge Dame verscheucht?"
„Das ist die große Quizfrage hier. Und vielleicht gelingt es ihnen ja, uns mit der Beantwortung zu helfen, Ritter Guillaume. Sind Sie bereit für ein weiteres lateinisches Gespräch?"
„Selbstverständlich. Aber der Geist der jungen Cinna ist weg." Der Ritter zuckte die Schultern, seine Enttäuschung unverkennbar.
Lou veränderte den Griff an seinem Gefangenen und drehte ihn so, dass er Guillaume und mich ansehen konnte. Die buschigen Brauen des Geists bogen sich wie zwei haarige Raupen. „Ich soll mit diesem Mann sprechen? Aber er lebt noch."
Matt rieb sich die Seite. „Das tut er, und ich kann bestätigen, dass er richtig hart zuschlägt."
„Matt, hast du etwas Ungewöhnliches gespürt, als er dich geschlagen hat? Oder Du, Lou?" Die beiden blickten mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Das war so gut wie eine Antwort. „Ah, ihr seid nicht empfänglich genug für paranormale Schwingungen dieser Art. Für mich war Pauls Berührung vergleichbar mit einem Blitzschlag. Das ist ein sicheres Zeichen, dass sein menschliches Energiefeld sich mit eine viel stärkeren überlagert."
Matt runzelte die Stirn und dehnte einen Ellbogen. Sein linkes Auge zeigte deutliche Spuren der Begegnung mit Pauls Faust. Er war vermutlich schlimmer verletzt, als er uns zeigte. „Und was genau heißt das?"
„Unser Freund Paul ist besessen."
„Besessen? Von einer Art Dämon?" Vic trat näherer, aber die Bewegung sandte Lous Gefangenen in einen erneuten Wutanfall. Sie zog sich mit raschen Schritten in eine sichere Distanz zurück und versteckte Cinna's Lampe hinter ihrem Rücken, so dass Paul sie nicht mehr sehen konnte.
„Ist es nicht offensichtlich? Ein Geist teilt seinen Körper, jemand der eine starke Anziehung durch diese Lampe verspürt. Es kann nicht Cinna sein, also vermute ich, dass wir es mit ihrem Mörder oder mit Marius zu tun haben. Wenn sie denn nicht die gleichePerson sind."
Lou blickte mich an, ohne seinen Griff an Paul zu lockern. „Aber warum?"
„Ich bin mir nicht sicher." Ich rieb mir die Schläfen und schloss die Augen, um besser denken zu können. „Der Geist könnte etwas in Paul gefunden haben, das mit seiner eigenen Essenz zusammenspielte und sich darauf in seinem Körper festgesetzt haben, statt körperlos durch die Welt der Lebenden zu treiben. Das erlaubt ihm zum Beispiel, Dinge zu berühren. Wie Ritter Guillaume bestätigen kann, hat es durchaus Vorteile, einen Körper zu besitzen."
„Keinen zu besitzen hat aber noch mehr Vorteile." Der Ritter schien nun entspannter, da er wusste, dass wir es mit einem weiteren Geist zu tu hatten. Er trat nahe genug an Paul heran, um ihm ins Gesicht zu atmen — figürlich gesprochen, da der Ritter seinen letzten Atemzug mehrere Jahrhunderte in der Vergangenheit gemacht hatte. „Was wollen sie von diesem Betrüger wissen, werte Dame?"
„Wer er ist, oder besser, wer er war. Aber bevor wir das Interview starten, kannst du die lose Scherbe aus der Lampe nehmen, Vic? Das sollte Pauls Energie etwas drosseln."
Die Archäologin nickte und drehte die Lampe, um das dreieckige Stück herauszuschütteln. Sie schloss ihre Hand um das Fragment. „Ist das besser?"
„Warte noch einen Moment." Wie ich gehofft hatte, ließ Pauls Kampfgeist nach und er ließ die Schultern fallen, die Augen halb geschlossen. Ich stand auf, um ihm auf seiner Augenhöhe zu begegnen. „Paul, kannst Du mich hören?"
Keine Reaktion „Marius, bist du das?" Einen Moment lang glaubte ich, in seinen Augen ein kleines Aufglühen zu erkennen. Aber es erlosch sogleich und ich verlor seine Aufmerksamkeit.
Guillaume stellte seinen Topf mit einem energischen Scheppern auf Vic's leeres Pult bevor er sich neben mir aufstellte, die Daumen in seinen breiten Gürtel gehakt und einen ernsten Ausdruck auf seinem bärtigen Gesicht. „Marius ibi es?"
Ein Hauch von Farbe kehrte in Pauls Gesicht zurück, als er Guillaume in die Augen blickte und eine unverständliche Antwort murmelte. Der mittelalterliche Ritter schnaubte. „Der Akzent dieses Mannes ist noch schrecklicher als der der jungen Dame."
„Können sie trotzdem verstehen, was er sagt?" Im Moment war ich nicht an den linguistischen Details interessiert.
Der Ritter rieb sich das Kinn. „Etwas über eine vindicta. Das bedeutet Rache. Und ich glaube, sie haben recht, dass dies Marius ist." Er fügte einen Schwall lateinischer Worte hinzu, die ich nicht verstand.
Paul antwortete in derselben Sprache. Er spuckte dabei die Wörter aus wie Gift, und auf seinen Wangen glühten rote Flecken.
„Das ist wirklich ein geplagter Geist." Ritter Guillaume kreuzte seine Hände hinter dem Rücken und begann im Raum auf und ab zu gehen. „Ich muss zugeben, dass ich nur die Hälfte von dem verstehe, was er mir entgegenschleudert. Aber wenn ich das richtig sehe, hat er jemanden getötet. Oder jemand anderes hat jemanden getötet. Er benutzte homicida und occisio mehrmals, und das bedeutet töten. Seine Sprache ist zudem gespickt mit farbigen Flüchen. War der Mann ein Soldat?"
„Vielleicht ein Legionär. Wer weiß? Sie sind der einzige, der ihn danach fragen kann. Vielleicht beruhigt er sich etwas, wenn er über etwas anderes sprechen kann als Mord und Totschlag."
Der nächste Teil des Interviews blieb unverständlich für alle außer den Ritter, und stellenweise wohl auch für ihn. Nach Minuten von hitzigem Hin und Her drehte sich der Geist zu mir.
„Sie hatten recht mit der Legion. Ich glaube, Marius ging zur Armee, nachdem Cinnas Onkel seine Geliebte an irgendeine wichtige Person verheiratet hatte. Danach hörte er wohl, dass sie ermordet worden war und nahm Rache. Aber ich begreife nicht, warum er sich immer noch hier herumtreibt. Das Ganze klingt nicht wie ein unfertiges Geschäft für mich."
Guillaume hatte recht. Ich überlegte, was ich als nächstes fragen sollte, als Matt mich unterbrach. „Was ist mit dem Fluch? Hat Marius erwähnt, dass er das Mädchen verfluchte? Und wenn ja, warum hat er danach die Meinung geändert und Rache gesucht für etwas, das er selbst verschuldete?"
Ich klatschte in die Hände. „Du bist ein Genie, Matt. Der Fluch mag ungerechtfertigt gewesen sein, aber er dürfte das viel zu spät realisiert haben. Und wenn er die alten magischen Regeln befolgte und den Fluch richtig aussprach ist es möglich, dass dieser immer noch zwischen ihm, Cinna und einen friedlichen Nachleben steht."
„Arme Cinna." Vic stellte das Artefakt auf den Tisch und strich mit dem Finger über das Bild des Löwen. „Ich wette, sie war unschuldig und wurde gefangen im Fluch ihres Leibhabers."
„Das wurden sie beide, aber nur Cinna war vielleicht unschuldig. Ritter Guillaume, können sie herausfinden, warum Marius im Körper von Paul hier ins Depot einbrach?"
„Gerne, meine Dame."
Das eifrige Leuchten in Guillaumes Augen belegte, wie sehr er seine neue Rolle genoss. Seine Rekapitulation eines weiteren langen Austauschs bestätigte meine Verdacht. „Sie hatten recht, meine Dame. Es klingt so, als wäre Marius von Cinnas Geist oder von ihrer Lampe an diesen Ort gezogen worden."
„Also war Paul schon die ganze Zeit der Bösewicht. Ich hoffe bloß, dass ich das nicht der Polizei erklären muss." Vic, die immer noch die Scherbe umklammerte, ließ sich in einen Stuhl fallen.
Ich verzog den Mund. „Die blauen Jungs sind wohl unser kleinstes Problem. Um das Mädchen zu befreien, müssen wir den Fluch brechen und irgendwie Marius dazu bringen, Pauls Körper wieder zu verlassen."
Bis jetzt war Paul ruhig geblieben und hatte unser Gespräch nicht beachtet, aber meine letzte Bemerkung schien ihn aufzurütteln. Er rammte den Ellbogen seines freien Arms in Lous Bauch. Dessen Aufmerksamkeit hatte wohl nachgelassen. Er zuckte zusammen und es gelang Paul, sich mit einer energischen Bewegung zu befreien. Lou stöhnte während Matt geistesgegenwärtig den Gefangenen verfolgte. Paul erreichte den Ausgang einige Schritte vor ihm, schlüpfte hinaus und knallte die Tür vor Matt zu.
„Warte, Matt, lass ihn gehen."
Mein Freund zögerte eine Sekunde bevor er meiner Bitte Folge leistete. Er blickte über die Schulter, während er zu uns zurückkehrte. „Bist du sicher, dass wir ihn entkommen lassen sollten?"
Ich seufzte. „Wir brauchen im Moment weder Paul noch Marius. Zuerst müssen wir herausfinden, wie sich dieser Fluch brechen lässt. Das ist etwas, was ich nicht wirklich beherrsche. Ich bin sicher, unser besessener Freund wird auftauchen, sobald wir die Lampe wieder zusammensetzen."
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