2 - Begegnung
Die Hightech-Wanderschuhe standen in dem Gestell wie ordentliche Reihen von disziplinierten Soldaten. Ich berührte vorsichtig eine Schuhspitze, ohne jedoch den Mut aufzubringen, die farbenfrohe Reihe zu stören.
„Ehrlich gesagt finde ich das Ganze keine gute Idee. Ist Klettern nicht gefährlich? Ich habe irgendwo gelesen, dass jährlich Dutzende von Alpinisten in den Tod stürzen."
Matt schüttelte den Kopf und fuhr sich mit den Händen durch seine braunen Locken bis sie zu seinem üblichen Wuschelkopf zerzaust waren. Immerhin verriet sein unterdrücktes Grinsen, dass seine Verzweiflung nur gespielt war.
„Warum sagst du das nicht deinem Freund? Ganz abgesehen davon hat Lou eine Wanderung vorgeschlagen, keine Klettertour. Klar, da sind auch Berge involviert, aber es ist definitiv nicht dasselbe." Seine Lippen zuckten. „Und ich bin ziemlich sicher, dass er nicht vorhat, dich von einer Klippe zu stoßen."
Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Mein Freund und neuer Geschäftspartner hatte natürlich recht. Zudem war ich ihm dankbar, dass er sich bereit erklärt hatte, mir beim Einkaufen der Ausrüstung für mein bevorstehendes Outdoor-Abenteuer zu helfen. Die Aussicht auf die ersten gemeinsamen Ferien mit Louis bereitete mir immer noch gemischte Gefühle. Wir waren nun seit knapp zwei Monaten zusammen und hatten noch nie mehr als ein paar Stunden zu zweit verbracht. Schon allein deswegen war ich besorgt beim Gedanken an eine mehrtägige gemeinsame Wanderung, aber das brauchte Matt nicht zu wissen.
Eine mit einem Stapel Schuhkartons beladene Mitarbeiterin kam auf uns zu und verschlang Matt mit den Augen. Völlig abgelenkt stolperte sie beinahe über den Hocker, der zum Anprobieren mitten im Gang stand. Ich unterdrückte ein Kichern. Mit seinem jungenhaften und unschuldigen Gesicht wurde mein Kollege von den meisten Mädchen und Frauen mit schmachtenden Blicken beehrt. Natürlich nahm er sie meistens gar nicht wahr, so wie jetzt. Seine Augen blieben fest auf mich gerichtet.
Ich seufzte. „Nun, du weißt, wie sehr ich mich über Lous Einladung zu einem langen, romantischen Wochenende freue. Aber wir könnten es ja auch in einer Wellness-Oase verbringen oder so. Es gibt bestimmt gemütlichere Arten, sich kennenzulernen, als gemeinsam auf einen Berg zu kraxeln und mit Dutzenden von verschwitzten Fremden einen Schlafsaal in einer abgelegenen Hütte zu teilen."
Matt schüttelte den Kopf. „Ich wette Lou hat Euch ein Doppelzimmer in einem netten Hotel gebucht. Lass dich überraschen."
Ich suchte verzweifelt nach weiteren Argumenten, verzichtete aber darauf, mein karibisches Erbe anzuführen. Großmutter Elise hatte die Alpen geliebt und sie waren einer der Gründe, warum es ihr in diesem Land gefiel. Der andere war natürlich mein Großvater.
Matt wartete nicht auf weitere Proteste meinerseits. Er nahm einen grauen Schuh mit orangem Innenfutter vom Gestell und drückte ihn mir in die Hand. „Hier, probiere den. Falls es dir übrigens noch nicht aufgefallen ist, Lou besitzt ein Backpacker Hostel mit einem gutausgerüsteten Wellnessbereich." Er zwinkerte mir zu. „Wenn du mit ihm in einer Sauna oder einem Whirlpool sitzen willst, kannst du das jeden Tag nach der Arbeit tun. Oder sogar in der Mittagspause."
„Sicher, das wäre eine Möglichkeit." Und wir hatten es auch schon ausprobiert. „Aber wir würden bestimmt von einem verzweifelten Gast unterbrochen, der einen Jeton für die Waschmaschine braucht." Ich sprach aus Erfahrung, und wusste, dass jegliche erotische Spannung nach einer solchen Unterbrechung komplett verflogen war. Das galt glücklicherweise nicht nur für mich, sondern auch für Lou. Deshalb sein Vorschlag, zusammen zu verreisen. Und vermutlich hatte Lou damit recht. Eine Flucht in eine ferne Bergregion mochte uns endlich die Gelegenheit bieten, in unserer Beziehung weiterzukommen. Und um das überhaupt möglich zu machen, musste ich wohl oder übel passende Schuhe kaufen.
Entschlossen, dieser Shopping-Tortur ein rasches Ende zu bereiten, setzte ich mich auf den Hocker und schlüpfte in den Schuh. Zu meiner Überraschung war er recht leicht und bequem. Plötzlich schien meine Angst vor dem kommenden Abenteuer etwas melodramatisch. Eigentlich hasste ich Sport nicht, ich zog bloß ein gutes Buch der Anstrengung vor. Daran konnte ich auch nichts Falsches sehen. Aber ich wollte der Beziehung mit Lou eine Chance geben, und wenn das am einfachsten mit einer Bergtour zu bewerkstelligen war, würde ich mich nicht dagegen stemmen.
Matt grinste. „Schon viel besser. Ich hatte schon meine Zweifel, dass du heute überhaupt was anprobierst. Wie fühlt es sich an?"
„Nicht schlecht. Was brauche ich sonst noch? Ein Seil und einen von diesen glänzenden Eispickeln?"
Wie erwartet brach er in ein schallendes Gelächter aus. „Das ist die San, die ich vermisst habe. Das Mädchen, das keine Angst kennt und entschlossen wie eine Dampflok jedes Problem überrollt. Schau zuerst, ob du darin auch laufen kannst. Du wirst sie den ganzen Tag an den Füßen haben, also sollten sie passen wie eine zweite Haut."
Ein Dorn des Zweifels drohte, meine neugefundene Entschlossenheit zu zerplatzen wie einen Luftballon. „Wenn ich bloß meine Laufschuhe tragen könnte."
„Kann ich mir vorstellen. Aber du wirst in felsigem Gelände froh sein über eine feste Sohle und den Halt im Knöchel. Wenn du das richtige Paar findest, ist der Unterschied gar nicht so groß. Du wirst ihn vor allem merken, wenn du dir einen Zeh anstößt."
Der Punkt ging wohl an Matt. Ich stand auf, ging energisch ein paar Schritte den Gang hinunter — und verzog mein Gesicht.
Matt lachte. „Wo drücken sie denn?"
Ich starrte auf meine Füße und versuchte, den Schmerz in Worte zu fassen. „Ich glaube, sie sind vorne zu schmal. Vielleicht brauche ich eine größere Nummer." Inzwischen war mir klar, dass es wirklich keinen großen Unterschied gab zum Kauf eines neuen Paars Laufschuhe. Das Opfer für mich wäre deutlich belastender gewesen, wenn Lou mich gebeten hätte, für unsere erstes Tête-à-tête hohe Absätze zu tragen.
Matt wählte ein anderes Paar Schuhe aus, diesmal in einem frischen blau, das mir gut gefiel. „Probier die zuerst. Die Marke ist im allgemeinen etwas breiter ausgeführt, oder war es zumindest vor ein paar Jahren."
„Woher weißt du all diese Dinge über Wanderschuhe?" Ich wusste, dass Matt eine Art Zauberkünstler war, wenn es um elektronische Geräte ging, aber ich hatte in ihm nie einen versteckten Naturliebhaber vermutet.
Sein Grinsen wurde breiter. „Ich habe in einem Sportgeschäft gearbeitet, als ich keine andere Option hatte. Blick mich nicht so an, jeder muss von irgendwas leben. Abgesehen davon bin ich gern in den Bergen unterwegs."
„Wow. Vielleicht sollten wir die Plätze tauschen. Du gehst mit Lou auf die Bergtour und ich kümmere mich um das Hostel, während ihr weg seid."
Das Glitzern in seinen Augen verriet mir, dass er eine passende Erwiderung auf der Zunge hatte, aber ich bekam sie nie zu hören. Eine blonde Frau in meinem Alter ging an uns vorbei, hielt an, drehte sich um und stürzte sich von hinten auf Matt, wobei sie die Schuhe fallen ließ, die sie in der Hand getragen hatte. „Matthieu Ruffieux. Bis du das wirklich, alter Räuber?"
Sie strahlte wie ein Kind am Weihnachtsmorgen während sie ihn zu sich umdrehte und ihm auf die Schulter klopfte. Ihr sonnengebleichtes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und ihre gebräunte Haut sprach von draußen verbrachten Tagen. En Paar braune Augen zwinkerte humorvoll.
Matt drückte sie kräftig an sich. „Vicky-Mädchen. Es ist ewig her. Wie geht es dir?"
„Ausgezeichnet, jetzt wo ich meinen liebsten Sandkastenkumpel wiedergefunden habe. Und du, was treibst du so im Leben?" Sie musterte mich von Kopf bis Fuß und streckte ihre Hand aus. „Hey, ich bin Vic. Das ist kurz für Victorine, aber bitte nenn mich niemals so."
Ihr Händeruck war fest und warm. „Schön dich kennenzulernen, Vic. Ich heiße Sandrine. Oder San, wenn wir bei den Kurzformen sind. Ich bin Matts Partnerin."
Ihre Augenbrauen wanderten in die Höhe und ich fragte mich, ob ich da gerade in ein Fettnäpfchen gestolpert war. Anhand ihrer Begrüßung standen sich Matt und Vicky nahe, selbst wenn es eine Weile her war. Wie nahe, das musste ich noch herausfinden. „Nun, um genau zu sein, seine Geschäftspartnerin."
Ein wissendes Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Oh, alles andere hätte nicht überrascht. Darf ich fragen, was für eine Art Geschäft das ist?"
„Vicky, hör auf, meine Kollegin zu löchern. Wir haben gerade eine kleine Firma gegründet, ein Start-up, wenn du willst." Er wandte sich mir zu. „San, Vicky und ich sind zusammen aufgewachsen und zur Schule gegangen. Und wie du wohl bereits vermutest, haben wir unseren Teil an gemeinsamen Abenteuern erlebt. Bis sie ganz erwachsen wurde, in die große, weite Welt hinauszog und nie wieder von sich hören ließ. Nicht mal eine Karte zu Weihnachten für den einsamen Matt."
„Hey, so wie du das sagst klingt es als hätte ich dich hängenlassen. Ich habe dir schon mit zwölf in unserem Baumhaus gesagt, ich würde im Ausland studieren. Und seit wann interessieren dich Weihnachtsgrüsse?" Sie knuffte ihn in den Arm. „Ich war bloß zwei Jahre weg, um meinen Postdoc abzuschließen. Dummerweise habe ich mein Telefon auf einer Bootsfahrt in Norwegen ertränkt und konnte meine Kontakte nicht wiederherstellen. Sonst hätte ich mich gemeldet, ehrlich. Zum Glück brauchte ich neue Ausrüstung." Sie bückte sich, um die schweren Schuhe aufzuheben, die sie vorher hatte fallenlassen.
Matt betrachtete ihre Wahl. „Planst du eine Hochgebirgstour?"
Sie ließ die Stiefel an ihren roten Schnürsenkeln baumeln. „Nein, natürlich nicht. Ich brauche sie für den neuen Job. Das gehört zur persönlichen Sicherheitsausrüstung. Die Regeln sind streng geworden, in den letzten Jahren."
„Du hast einen Job? Das ist großartig." Matt presste ihren Arm. „Als Archäologin?"
Vic nickte mit leuchtenden Augen und geröteten Wangen.
Ich hob eine Augenbraue. „Gratuliere. Es muss schwierig sein, in so einem exotischen Gebiet etwas zu finden." Mit meiner kürzlichen Erfahrung bei der Stellensuche und meinem ungenutzten Abschluss in Geschichte wusste ich nur allzu gut, wovon ich sprach.
„Danke, ich hatte Glück und war zur rechten Zeit am rechten Ort. Nun bin ich verantwortlich für eine Ausgrabung in Aventicum. Es ist einfach genial endlich dort zu arbeiten, wo ich meine Faszination für das römische Reich und die Archäologie entdeckt habe, als ich noch kaum lesen konnte."
Matt rollte die Augen. „Das war vielleicht eine Entdeckung. Ich werde den Tag nie vergesse, als du mich durch diese römische Abwasserleitung gejagt hast."
„Du hast doch dabei auch deinen Spaß gehabt." Vic strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht und deutete auf eine blasse Narbe am Haaransatz. „Außerdem war ich es, die anschließend mit sechs Stichen genäht werden musste weil ich mit dem Kopf gegen einen vorstehenden Stein gedonnert war."
„Ja, und ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, deinen Eltern zu erklären, warum du von dem Schulausflug mit halb rasiertem Schädel und einem Turban aus Verbandsmaterial heimkamst." Er schüttelte in gespielter Verzweiflung den Kopf, konnte aber sein Grinsen nicht verstecken. „Ich war sicher, dass mich deine Mutter versohlen würde."
„Niemals. Sie hatte genauso eine Schwäche für dich wie alle anderen. Richtig, San?" Sie zwinkerte mir zu und brachte mich damit zum lachen.
Ich mochte sie bereits. „Stimmt, ich habe sogar einige Geister getroffen, die auf ihn stehen."
Ein plötzlicher Schatten zog über ihr Gesicht. Sie versuchte, ihre Reaktion mit einem Lächeln zu vertuschen, aber Matt hatte es auch bemerkt und berührte sie an der Hand.
„Was ist los, Vicky?"
„Nichts. Nun, nichts besonderes." Sie fuhr sich mit der Handfläche über das Gesicht. „Matt, was ich eigentlich schon lange mal fragen wollte, glaubst du immer noch an all das übernatürliche Zeug?"
Mit dieser Frage hatte ich nicht gerechnet. Die steile Falte auf Vics Stirn zeigte, dass ihr die Antwort wichtig war. Matt und ich tauschten einen Blick aus. Unerklärliche paranormale Erscheinungen waren unsere Spezialität, das gemeinsame Interesse, das uns vor zwei Monaten zusammengebracht hatte. Er zuckte beinahe unmerklich die Schultern und lächelte seiner alten Freundin aufmunternd zu.
„Ja, sicher, wenn du meinst, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt als uns die Wissenschaft erklärt und als die meisten Menschen wahrhaben wollen. Also, ich verspreche, dass ich nicht lospruste und du kannst dich auch auf San verlassen. Wo drückt der Schuh?"
„Du wärst nicht der erste, der mich für verrückt erklärt." Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich und sie ließ die Wanderschuhe an den Schnürsenkeln kreisen.
Matt nahm ihre Hand. „komm schon, Vicky, ich kenne dich und ich weiß genau, wie verrückt du bist — oder nicht bist. Im Moment beschäftigt dich was, und ich will, dass du es ausspuckst. Was ist es?"
Sie ließ die Schuhe gegen ihre Beine schlagen, schloss einen Moment lang die Lider und blickte dann Matt geradewegs an. „Es klingt völlig verrückt, wenn ich es laut ausspreche. Vielleicht werde ich paranoid, aber ich glaube — ich glaube, dass ein Geist auf meiner Ausgrabung umgeht."
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