11 - Entdeckung
Vic rief zwanzig Minuten später an, sie sei jetzt frei und würde sich gerne mit uns treffen. Wir bezahlten für den Kaffee und machten uns auf den Weg zurück zum Depot, wobei wir unsere fruchtlose Diskussion fortsetzten. Die Polizei war gerade dabei, das Feld zu räumen, als wir eintrafen. Mit einem Winken in unsere Richtung stieg die Beamtin Meyer in ihren Einsatzwagen und fuhr davon.
Vic hatte ihr Haar in der Zwischenzeit zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden. Einige ungezähmte Strähnen umrahmten ihr Gesicht, das müde und angespannt wirkte. Ihr Lächeln fiel in dieselbe Kategorie. „Bitte entschuldigt die Warterei. Diese Sache macht überhaupt keinen Sinn. Sogar die Polizei weiß nicht, was sie damit anfangen soll. Kommt rein. Darf ich euch einen Kaffee anbieten?"
„Nein, danke, ich habe meine Portion Koffein für heute schon im Blut. Was genau versteht die Polizei denn nicht?" Matt folgte der Archäologin in die Halle, während ich zurückblieb, um mir das aufgebrochene Schloss genauer anzusehen. Während die große Doppeltüre unversehrt schien, hatte jemand rohe Gewalt verwendet, vermutlich mit einer Brechstange, um den kleineren Personeneingang aufzubrechen. Der Türrahmen war verbogen, das Holz aufgesplittert. Dieser Einbrecher hatte sich nicht auf ausgeklügelte moderne Technologie verlassen.
Ich fand die anderen in der kleinen Küchenecke, wo Vic gerade an der Kaffeemaschine im Industrieformat einen Becher mit einer schwarzen Brüh volllaufen ließ. Sie stellte uns ihren Kollegen und Kolleginnen vor, darunter Alex, der Staplerfahrer und Magaziner. Alle schienen noch in einer Art Schockzustand gefangen zu sein, der wohl durch den unerwarteten Einbruch ausgelöst wurde.
Chiara drückte mir ungefragt eine weitere Tasse Kaffee in die Hand, die ich reflexartig entgegennahm. Lebten diese Leute von dem Zeug? Sie versuchte sich an einem Lächeln. „Ich bin froh, dass ihr beide nach dem Desaster gestern überhaupt noch einmal hergekommen seid. Und dann trefft ihr auch gleich das nächste Desaster an. Ich hoffe bloß, dass dies nicht die neue Normalität hier ist."
Vic schluckte die Hälfte ihres Tasseninhalts auf einmal hinunter. „Das kannst du laut sagen. Zumindest mussten wir uns heute noch nicht mit Pauls Stimmungsschwankungen auseinandersetzen. Er dürfte bis auf Weiteres mit seiner Urne beschäftigt sein. Wer hat eigentlich das aufgebrochene Schloss gefunden und die Polizei alarmiert?"
„Das war ich." Alex lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Küchenkombination. „Ich war wie üblich der erste heute Morgen. Patrice kam aber nur Minuten später, gerade, als ich telefonierte. Und weil die Chefin ausgerechnet diese Woche an ihrem Museologie-Kongress ist, war ich wirklich froh, dass du vorbeigekommen bist und dich um den offiziellen Papierkram gekümmert hast."
„Gerne. Nicht dass ich irgend einen signifikanten Beitrag leisten konnte außer der Polizei den Namen der zuständigen Abteilung und die Nummer des Vorstehers zu geben. Deb und Chiara hätten dasselbe gekonnt, wären sie vor mir hier angekommen." Sie zuckte die Schultern und kehrte zur Kaffeemaschine zurück, um ihre Tasse wieder aufzufüllen.
Ich zögerte einen Moment, aber weil sich gerade niemand anderes Luft machen wollte, stellte ich die Frage in den Raum, die mich verfolgte, seit ich den Polizeiwagen gesehen hatte. „Wurde irgend etwas entwendet?"
Chiara schüttelte den Kopf. „Sieht nicht so aus. Zumindest konnten wir keine Hinweise darauf finden, und Alex kennt diesen Ort besser als seinen Handrücken." Sie sandte Vic einen Blick mit gehobenen Brauen. „Vielleicht wurden die Einbrecher gestört."
Die Archäologin seufzte und schob eine blonde Strähne hinter ihr Ohr. „Wie ich bereits der Polizei sagte, es ist absolut unmöglich, dass ich gestern Abend ein aufgebrochene Türschloss übersehen konnte. Abgesehen davon war es noch nicht einmal richtig dunkel und ich hätte all diese Kratzer und Splitter an der Tür und dem Rahmen bemerken müssen."
Chiara verzog das Gesicht. „Ich meine doch nicht dich, Mädchen. Ich sprach von unserem Gespenst."
Die Reaktion der übrigen Anwesenden war mehr als nur interessant. Alex rieb sich den Nacken und stieß zwischen den Zähnen einen leisen Pfiff aus. Deborah, die unscheinbare grauhaarige Frau, die laut Vic für das Inventar zuständig war, wirkte selbst bleich wie ein Gespenst und bekreuzigte sich. Der letzte, Patrice, ein junger Mann in der brau-blauen Uniform der Zivildienstleistenden, kicherte und rollte übertrieben die Augen.
Vic starrte mit versteinertem Gesicht einige Sekunden lang zu Boden, bevor sie sich an Matt wendete. Ein Muskel an ihrem Hals zuckte. „Ich schulde dir eine Entschuldigung, Matt."
Die Augen meines Partners weiteten sich. „San hatte also recht, du hast tatsächlich diesen Geist gesehen."
„Ich weiß nicht, was ich gesehen habe, aber ich kann schwören, dass es weder ein Einbrecher noch ein lebender Mensch war. Und als ich danach ging und die Türe abschloss, war das Schloss noch vollkommen in Ordnung."
Matt nickte. „Ich nehme deine Entschuldigung an, selbst wenn ich doch gerade etwas schockiert bin." Er zwinkerte ihr zu und ihr Gesicht nahm wieder etwas Farbe an. Zuckte da sogar ein Mundwinkel in einem verhaltenen Lächeln?
Ich räusperte mich. „Würde es dir etwas ausmachen, mir zu zeigen, wo genau der Geist erschienen ist?"
„Nein, natürlich nicht." Sie ging voraus, den Mittelgang des Depots hinunter. Ich ignorierte das nervige Grinsen und Kopfschütteln von Patrice und begleitete sie in den hintern Teil des Raumes.
Die anderen folgten uns. Nur der junge Mann zog es offenbar vor, sich seiner Arbeit zu widmen und setzte sich an seinen Computer. Wir gingen an Reihen von Palettengestellen vorbei, die riesige Steinblöcke enthielten. Ich erkannte Kapitelle und Säulentrommeln, aber auch Teile von Inschriften. Dahinter folgten schmalere Gänge, die mit Hunderten von identischen Kisten gefüllt waren.
Matt, der neben mir ging, schubste mich an und legte einen Finger auf sein Handgelenk. Ich nickte ihm zu, um zu versichern, dass ich gut auf meinen besonderen Sinn achtete. Genau in diesem Moment setzte das Kribbeln ein. Es kündigte die Präsenz eines übernatürlichen Erscheinung an — nur den Bruchteil eines Moments bevor Vic stoppte und den fünften Gang auf der linken Seite hinunter deutete. „Es war da hinten, ungefähr in der Mitte des Gangs, würde ich sagen."
Ich rieb mein Handgelenk. Das Gefühl blieb unbestimmt und flüchtig, weit entfernt von dem scharfen Prickeln, das einen mächtigen Geist wie Ritter Guillaume anzukünden pflegte. Aber er war wohl einer der kräftigsten Geister, denen ich jemals begegnet war. Falls er recht hatte und das Gespenst hier im Depot uralt war, römisch vielleicht, mochte es deutlich schwächer sein. Natürlich besonders während den Tagesstunden. Ich trat neben Vic. „Wie hat es sich manifestiert?"
„Zuerst war es wie eine dünne Wolke oder ein Rauchschwaden. Einen Moment lang glaubte ich, wir hätten einen Brand im Depot und rannte Richtung Tür, wo der Feuerlöscher steht. Erst als ich damit zurückkam fiel mir auf, dass es überhaupt keinen Brandgeruch gab. Nur die Luft schien mir auf einmal beißend kalt, was ich mir nicht mit einem Feuer zusammenreimen konnte." Sie leerte ihren Becher in einem einzigen Zug und seufzte. „Ich wollte trotzdem auf Nummer sicher gehen und bin dann näher herangegangen. Da nahm der Rauch eine menschliche Form an. Oder sowas ähnliches, eine durchscheinende, neblige menschliche Figur die mindestens einen halben Meter über dem Boden schwebte. Ich glaube, ich schrie auf und sie drehte sich mir zu. Bevor ich mir klar wurde, ob ich davonlaufen oder ohnmächtig werden sollte, verblasste sie und verschwand, als hätte es sie nie gegeben."
Vic fröstelte und Chiara legte ihr einen Arm um die Schultern. „Ist schon in Ordnung, mach dir keine Sorgen. Das ist ziemlich genau das Gleiche, was mir passiert ist."
„Was, du hast sie auch hier drin gesehen, nicht nur auf der Grabung? Wann war das?"
Die ältere Frau zog gedankenverloren die Brauen zusammen. „Hm, das ist gefühlt einen Ewigkeit her. Es muss vor einigen Jahren gewesen sein, als ich zum ersten Mal einen temporäre Stelle im Museum erhielt. Ich hatte spät am Abend noch die Dokumentation von der Grabung reingebracht und wollte eine Zeichnung fertigstellen, die wir am nächsten Tag benötigten. Ich zog es damals vor, hier drin zu arbeiten anstelle des kalten und feuchten Grabungscontainers."
Deborah lachte schüchtern. „Nun, das ging uns damals wohl allen gleich."
Chiara zuckte die Schultern. „Nach dieser Nacht habe ich mich gehütet, allein hier zu sein. Ich war völlig vertieft in meine Arbeit, als ich ein leises Wimmern hörte. Zuerst dachte ich, es sei ein Hund. Als ich dann nachschauen ging, beobachtete ich die Form einer jungen Frau in einem Nachthemd. Nun ja, in einem langen, weißen Kleid zumindest. Fragt mich nicht nach den Details, ich war zu beschäftigt damit, mir die Seele aus dem Hals zu schreien. Ich bin sicher, ich war kurz davor, ihn Ohnmacht zu fallen oder den Verstand zu verlieren. Aber als ich meine Augen wieder öffnete, war sie verschwunden."
„Ich wäre auf der Stelle gestorben." Deborah zitterte. „Ich habe die Gerüchte über den Geist gehört, bin ihr aber nie selbst begegnet. Und ich hüte mich, diesen Raum nachts alleine zu betreten."
„Bestimmt eine gute Vorsichtsmaßnahme." Matt lächelte ihr zu. „Versteh ich das richtig, ihr alle seid euch einig, dass wir es mit einem weiblichen Geist zu tun haben?" Mein Partner kam nun richtig in Fahrt und wirkte sehr professionell.
„Wir nenne sie die Dame in Weiß." Alex lehnte sich gegen ein Gestell und rieb sich ein Ohrläppchen. Die aufgerollten Ärmel seines Hemdes zeigten ein ornamentales Tattoo. „Die meisten Mitarbeiter hier sind ihr früher oder später mal begegnet. Manche gewöhnen sich daran, dass sie hier mit uns herumhängt, andere suchen sich einen anderen Job."
Vic seufzte. „Deshalb hat außer mir jede und jeder geglaubt, dass Béa und Chiara auf der Grabung einen Geist gesehen haben. Klar, warum auch der Neuen in der Klasse die schmutzigen Geheimnisse verraten."
Chiara schubste sie sanft an. „Nimm's nicht persönlich, Vic. Als Béa den Geist beschrieb, war mir klar, dass es sich um ein ähnliches Erlebnis handelte, wie ich es gehabt hatte. Und als dann meine Stifte verschwanden und wir ständig diesen kalten Zug im Zelt verspürten wusste ich, dass wir einen weiteren Geist geweckt hatten. Aber wie das jemandem erklären, der sowas noch nie erlebt hat?"
Vic biss sich auf die Lippen. „Ich hätte euch beiden glauben sollen. Spätestens, als ich diesen seltsamen Nebel über dem Grab mit der Glasurne schweben sah. Oder als mein Büroschlüssel vom Zeichnungstisch verschwand, wo ich ihn hingelegt hatte. Bitte entschuldige."
„Das ist in Ordnung, wirklich. Du bist nicht die erste, die an der Existenz von Geistern zweifelte, und du wirst nicht die letzte sein." Chiara deutete verstohlen mit dem Daumen in Richtung von Patrice, der sich vorne bei der Registrierung über seine Tastatur beugte.
Ein Grinsen ließ Vic's Mundwinkel nach oben wandern. „Stimmt, sein skeptischer Ansatz ist erfrischend. Möchtet ihr sonst noch etwas wissen, Matt? San? Sonst würde ich — Moment, was ist das?" Sie betrat den Gang und bückte sich, um einen winzigen Gegenstand vom Boden zu klauben. Als sie zu uns zurückkehrte, hielt sie ein unscheinbares Stück aus einem hellen Material in der Hand und inspizierte es von allen Seiten. „Eine Scherbe. Die muss zu einer Öllampe gehören, Mitte erstes Jahrhundert, vielleicht. Es ist ein Teil der Oberseite mit einem Fragment der figürlichen Verzierung. Hier, das ist wohl die Pfote von einem Tier. Die fiel bestimmt aus einer der Kisten, als die Polizei hier nach Spuren suchte."
Ich trat näher, um mir das Stück anzusehen. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Polizei hier in Kisten gewühlt und etwas fallengelassen hat, nicht bei der Untersuchung eines Einbruchs. Das wäre ziemlich schlampig." Mit dem Finger deutete ich auf die Boxen in dem fraglichen Gang. „Was ist da drin?"
Deborah rückte ihre Brille zurecht und studierte die verblassten Beschriftungen. „Die sind ziemlich alt, aus den Achtzigerjahren. Neunundachtzig, war das nicht die berühmte Grabung im Friedhof von En Chaplix?"
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