10 - Einbruch
Am nächsten Morgen war ich wieder Richtung Avenches unterwegs, diesmal auf meinem geliebten Motorrad. Bereits als ich die Maschine in der Kühle des herbstlichen Morgens aus dem ehemaligen Stall schob, spürte ich ein erwartungsvolles Kribbeln. Dies mochte eine der letzten Gelegenheiten für eine Ausfahrt sein, bevor der Winter das Fahren zu gefährlich machte. Die Aussicht darauf, Vics Geist zu begegnen, trug das ihrige zu meiner Aufregung bei.
Der Nebel hing in Schwaden tief über den Hügeln. Sowohl die farbenprächtigen Bäume wie die kalte Morgenluft sagten deutlich, dass der Sommer längst der Vergangenheit angehörte. Ich liebte diese Jahreszeit, wenn die Wälder sich in impressionistische Gemälde in Gold, Rost und Dunkelgrün verwandelten. Dabei stimmte mich der Gedanke daran, dass der Winter bereits hinter einer Ecke lauerte, etwas traurig und nostalgisch.
Die Fahrt war beinahe zu schnell vorüber. Matts Bus stand bereits auf dem Parkplatz vor dem Depot als ich bremste und in die Einfahrt einbog. Ich war nicht überrascht. Schon vor einiger Zeit hatte ich bemerkt, dass der erste Eindruck, den ich von Matt im letzten Sommer gewonnen hatte, völlig falsch war. Mein neuer Partner war sehr zuverlässig und, im Gegensatz zu mir, auch sehr pünktlich. Was ich allerdings nicht erwartet hatte war der orange-weiße Streifenwagen, der neben dem Eingang zum Depot stand.
Ich ließ meine Maschine neben Matts Wagen ausrollen. Er lehnte gegen die Fahrertür, die Hände tief in den Taschen seiner schwarzen Faserpelzjacke vergraben, und beobachtete die Leute, die in das Gebäude ein- und ausgingen.
„Guten Morgen, Matt. Hast du eine Ahnung, was das soll?" Ich deutete auf den Eingang während ich mein Visier hochklappte und den Kinnriemen meines Helms löste.
„Guten Morgen. Ich habe noch mit niemandem gesprochen, aber meine Vermutung ist, dass hier ein Einbruch stattfand." Er deutete auf einen uniformierten Polizisten. „Der Beamte mit den Latexhandschuhen hat soeben das Türschloss untersucht."
„Ein seltsamer Zufall, gerade nach Vic's überraschendem Anruf gestern Abend. Hast du sie schon gesehen?"
„Ihr Wagen ist noch nicht hier, sie kann also noch unterwegs sein. Wie spät ist es überhaupt?"
„Keine Ahnung, aber es hatte kaum Verkehr heute Morgen. Deshalb ist es gut möglich, dass wir beide zu früh dran sind." Ich beobachte, wie beim Eingang zwei Polizisten mit einem dunkelhaarigen Mann in Arbeitskleidung sprachen. Es konnte der Staplerfahrer von gestern sein. Er schüttelte den Kopf und deutete in Richtung der Stadt. Ich seufzte. „Vielleicht sollten wir gehen. Ich bin nicht sicher, dass es gut ist, wenn wir schon wieder in eine polizeiliche Untersuchung hineingezogen werden."
Die langwierige Befragung im vergangenen Sommer, als wir einen beinahe tödlichen Unfall gemeldet hatten, war in meiner Erinnerung immer noch lebhaft präsent. Zudem fühlte ich ein unbestimmtes Unwohlsein, das ich nicht richtig platzieren konnte.
Matt runzelte die Stirn und nickte in Richtung des Depots. „Zu spät, würde ich sagen."
Eine weibliche Polizistin näherte sich uns mit langen Schritten. Ihr schwarzes Haar war kurz geschnitten, und sie sah sehr sportlich aus in ihrer schwarz-blauen Uniform, kugelsicherer Weste und einer Waffe im Holster an ihrem Gürtel. In der Hand trug sie einen Notizblock und Kugelschreiber.
Ich klappte den Ständer meines Motorrads aus, entledigte mich meines Helms und hängte ihn über einen Rückspiegel. Matt lächelte unserer Besucherin zu. „Guten Morgen, wie können wir ihnen helfen?"
„Guten Tag. Darf ich fragen, was Sie hier machen?" Sarah Meyer — laut dem Namensschild auf ihrer Uniform — wirkte freundlich genug und ein Teil meiner Befürchtungen löste sich auf. Vielleicht wurde es ja nicht so schlimm, wie beim letzten Mal.
Matt zuckte die Schultern. „Wir haben einen Termin mit Doktor Bourquin um acht Uhr."
„Doktor Bourquin?" Eine gutgezupfte Augenbraue hob sich fragend in die Höhe.
„Victorine Bourquin, eine Archäologin, die für die Abteilung hier arbeitet." Matt deutete mit dem Kinn auf das Depotgebäude. Bereits konnte ich sehen, wie seine offene Art und verwuschelten Haare ihre gewohnte magische Wirkung entfalteten. Die Züge der Polizistin entspannten sich zu einem offenen Lächeln. Sie notierte sich Vics Namen und rollte die Schultern. Mein Partner nutzte den Moment um selbst eine Frage zu stellen. „Was ist denn hier passiert?"
„Ich sollte wirklich nicht mit Außenstehenden über eine laufende Untersuchung sprechen, es tut mir leid. Wann sind Sie hier angekommen?"
Ich fuhr mit der Hand, immer noch im Handschuh, durch die warme Luft, die mein Motor abgab. „Zwei oder drei Minuten, nicht mehr."
Matt angelte sein Telefon aus der Tasche, um die Zeit zu überprüfen. „Ich war schon länger hier, sechs oder sieben Minuten, wohl gegen viertel vor acht. Der Streifenwagen stand auf jeden Fall schon beim Eingang, als ich angekommen bin."
Die Polizistin nickte. „Darf ich trotzdem nach ihren Namen und Telefonnummern fragen?"
Bevor wir ihr die gewünschten Daten geben konnten, kündete das heisere Husten eines uralten Motors Vic's Ankunft an. Sie hielt direkt neben uns an und kurbelte das Fenster herunter. „Hey, was ist hier los?"
Die Beamtin musterte sie aus zusammengekniffenen Augen und kontrollierte ihr Notizbuch. „Sind sie Doktor Victorine Bourquin?"
„Zu Ihren Diensten." Vic stieg aus dem Wagen, strich sich eine Strähne ihres offenen und leicht feuchten Haars hinters Ohr und schüttelte der Polizeibeamtin die Hand. „Gibt es einen Grund, warum sie mich suchen?"
„Nicht Sie persönlich, aber wir bearbeiten den Einbruch in ihr Depot. Dieser Herr wies uns darauf hin , dass sie hier arbeiten." Das Lächeln, das sie Matt schenkte, hätte mich grenzenlos eifersüchtig gemacht, wenn wir in einer romantischen Beziehung gewesen wären.
Vic schien es nicht zu bemerken. Sie blickte zur offenen Tür des Depots hinüber. „Ein Einbruch? Wann ist das passiert? Wurde etwas gestohlen?"
„Das versuchen wir gerade herauszufinden. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mit mir drinnen den Papierkram zu erledigen? Ihre Kollegen sind schon dabei, das Inventar zu überprüfen."
Ich fragte mich, wie jemand in Eile überprüfen konnte, ob aus dieser riesigen Sammlung etwas fehlte.
Vics Gesicht hatte den Großteil seiner Farbe verloren. „Sicher, ich stehe vollumfänglich zur Verfügung."
„Danke." Die Polizistin nickte uns zu. „Bitte entschuldigen Sie uns einen Moment."
Die Archäologin folgte ihr in Richtung des Gebäudes, blieb aber nach wenigen Schritten stehen und drehte sich zu uns um. „Macht es euch etwas aus, zu warten? Oder ihr könntet einen Kaffee trinken gehen und ich rufe an, sobald ich wieder frei bin."
Sarah Meyer nahm nun doch unsere Kontaktdaten auf — ‚nur für den Fall', wie sie es ausdrückte — und erlaubte uns, zu gehen. Wir fanden eine nettes, ruhiges Café am Rand des Städtchens und installierten uns an einem Tisch beim Fenster. Unsere Diskussion über die potentiellen Gründe des Einbruchs erwies sich aber rasch als fruchtlos und stattdessen nutzten wir die Zeit, die Emails der Geistergarde auf Matts Laptop durchzusehen. Wir brauchten immer noch ein neues Geschäftsprojekt.
„Sieht so aus, als wären wir nach wie vor glücklos." Matt klappte den Laptop zu und verstaute ihn in seiner Tasche, um anschließend seinen fast leeren Kaffee umzurühren. „So schade, dass es auf dieser Ausgrabung keinen echten Geist gab."
Ich schaute ihn überrascht an. „Hat Dir Vic nichts gesagt? Sie hat mich letzte Nacht angerufen um mir zu gestehen, dass sie nach der Arbeit im Depot einem Geist begegnet ist."
Matt vergaß einen Moment lang, den Mund zu schließen und sein Kaffeelöffel klappere vergessen auf den geölten Hartholztisch. Das brachte uns einige aufgebrachte Blicke von den drei älteren Damen ein, die am Nebentisch Tee tranken. Matt lächelte entschuldigend. Er legte den Löffel vorsichtig in den Unterteller und verschränkte die Finger. „Sie sagte mir nur, dass sie deine Nummer brauche, um sich für Pauls Verhalten zu entschuldigen. Und dann kam die SMS, dass wir uns um acht hier treffen würden. Kein Wort von einem Geist."
„Vermutlich wollte sie zuerst meine Reaktion testen. Ich denke, es ist ihr peinlich zuzugeben, dass sie eine übernatürliche Erscheinung beobachtet hat. Immerhin hat sie dich wegen deiner Überzeugung als Kind schikaniert, nicht wahr?" Ich sah keinen Grund, die Tatsachen zu beschönigen.
Er schloss die Augen und rieb sich die Schläfen. „Ich habe das nie aus dieser Perspektive angeschaut, aber ja, heute würde man da wohl von Bullying sprechen. Also hat sie den Geist wieder gesehen, und diesmal ohne die Möglichkeit, ihr Erlebnis wegzurationalisieren. Aber wie ist der Geist von der Grabung ins Depot gekommen?"
„Die Frage habe ich mir auch gestellt. Die wahrscheinlichste Erklärung scheint mir eine direkte Bindung an die Funde der Grabung. Der Geist wäre dann zusammen mit den Funden ins Depot transportiert worden. Ritter Guillaume meint, es dürfte sich um den Geist einer Römerin handeln, jemanden, den Vics Team in dem Friedhof ausgegraben hat."
„Du hast ein Treffen mit unserem Berater für Übernatürliches gehabt?" Die Nennung von Ritter Guillaume zauberte ein Lächeln auf Matts Gesicht und seine gedrückte Stimmung schien sich zu verbessern.
„Ja, er platzte gestern Abend herein um sich zu entschuldigen. Allerdings auf seine ganz besondere Art. Er hatte eine etwas unglückliche Begegnung mit ahnungslosen Touristen im Whirlpool. Ich hoffe bloß, das französische Paar hat den Schock überwunden. Als Guillaume dann auf den Zeitungsbericht aufmerksam wurde, war er natürlich nicht mehr abzuschütteln. Du weißt ja, dass unser mittelalterlicher Freund die personifizierte Neugier ist."
Matt lachte herzlich. „Das stimmt schon, aber irgendwie mag ich die Art, wie er sich in eine Sache festbeißt wie ein Terrier. Und falls er recht hat, erklärt es, warum wir keine ektoplasmischen Spuren auf der Grabung finden konnten. Der Geist war vermutlich bereits längst weg, als wir dort ankamen.
„Stimmt, und deshalb frage ich mich, ob es überhaupt einen Zusammenhang zwischen dem Geist, der jetzt im Depot haust, und diesem seltsamen Einbruch gibt." Ich trank meine Tasse leer und bestellte eine weitere.
Matt tat es mir gleich. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es da einen Zusammenhang gibt. Warum sollten Einbrecher wegen einem Gespenst in ein Gebäude eindringen? Es scheint mir wahrscheinlicher, dass sie hinter wertvollen Artefakten her waren."
Die Betreiberin des Cafés brachte unseren Kaffee und Matt schenkte ihr ein Lächeln. Mit beschwingten Schritten kehrte sie zum Tresen zurück.
Ich zerbrach mir den Kopf darüber, wie der Geist und der Einbruch zusammenhängen könnten, zog aber nur Nieten. „Etwas geht hier über meinen Horizont. In meinen Augen ist es ein zu großer Zufall, dass ein Geist und ein Einbrecher am gleichen Ort in der gleichen Nacht auftauchen. Ich kann das einfach nicht glauben."
Mein Partner biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. „Zufälle kommen vor. Wir müssen herausfinden, was die Polizei darüber denkt."
„Stimmt. Wobei ich mir nicht vorstellen kann, dass sie sich besonders für Vic's Geistergeschichte interessieren. Wenn sie den Geist denn überhaupt erwähnt. Dieses Puzzle scheint aus tausend unpassenden Teilen zu bestehen."
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