1 - Cinna
Aventicum, Civitas Helvetiorum, Heiligtum beim Nordosttor, im Jahr des Konsuls Lucius Cassius Longinus [30 AD]
Der Schrei einer Eule zerriss die Stille der Nacht über den Feldern vor der Stadtmauer. Cinna fröstelte in einem kühlen Luftzug. Mit der Hand schirmte sie die winzige Flamme ihrer Lampe ab und blickte hoch, um den Himmel nach dem Urheber des unheimlichen Schreis abzusuchen.
Über dem Hügelzug im Osten tauchte das erste Licht des herannahenden Tages den Himmel in ein tiefes Blauviolett, aber es war noch zu dunkel, um den Vogel zu erkennen. Der Wind trug den Geruch des nahen Moorgebiets mit sich, eine Mischung, die sie an verrottetes Holz und süße Gräsern erinnerte. Cinna atmete tief ein. Der Duft war so viel angenehmer als der erstickende Gestank, der die Gassen der Stadt füllte. Sie sehnte sich nach dem Hof ihrer Eltern in den Hügeln über dem Moorland.
Ein unsichtbarer Flügelschlag zupfte am Haar der jungen Frau, begleitet von einem heiseren Huh-hu-huh. Mit der freien Hand zog sie ihre palla enger um die schmalen Schultern. War die Eule ein Bote der Götter? Ein Omen, dass sie zu dieser frühen Stunde hier draußen als Gast willkommen war? Zu gern wollte sie an diese Möglichkeit glauben. Aber ein kalter Windstoß trug den Geruch nach Moder und Fäulnis heran und erstickte den keimenden Funken der Hoffnung. Cinna eilte weiter, eine Hand schützend um ihr flackerndes Licht gelegt.
In der Ferne erkannte sie jetzt einen dunkleren Schatten. Das musste die große memoria sein, das Ziel ihrer nächtlichen Suche. Die Sorge und Angst, die eben noch wie ein eisiger See in ihrem
Magen lauerten, lösten sich auf. Stattdessen füllten eiserne Entschlossenheit und warme Hoffnung ihr Herz. Zielstrebig folgte sie der Straße, bis sie die Umfassungsmauer des kolossalen Monuments erreichte. Einen kostbaren Moment lang verharrte sie am Tor, lehnte den Kopf zurück und ließ die vertraute Maße des Kalksteinturms auf sich wirken, der vor ihr in den Nachthimmel ragte.
Froh um die Vertrautheit und den Schutz des heiligen Ortes lockerte sie ihre verkrampften Schultern. Im vergangenen Jahr hatte sie dieses Monument fast täglich besucht — bis zu dem verhängnisvollen Tag vor zwei Kalenden. Seit damals war es ihr nicht mehr möglich gewesen, die Stadt unbeaufsichtigt zu verlassen. Um heute Nacht zu kommen, musste sie sich heimlich aus dem Haus schleichen. Sie hatte sich wie eine Diebin durch die schlafende Stadt bewegt und war sogar bereit gewesen, für die Passage durch das Tor einen Wächter zu bestechen. Aber für einmal hatte die Göttin des Glücks ihre Schritte gelenkt. Unbehelligt hatte sie das Tor erreicht, wo der schlimmste Moment auf sie wartete. Der grauhaarige Wächter hatte sie grimmig gemustert und gedroht, ihr Manieren beizubringen, wenn sie nicht sofort nach Hause gehe.
Cinna wusste genau, was der Mann plante, als er sie im Licht der Fackel beinahe mit den Augen verschlang. Zum Glück war rechtzeitig ein alter Freund von Marius aufgetaucht und wollte wissen, was der Aufruhr mitten in der Nacht bedeutete. Er hatte sie erkannt und den andern Wächter weggeschickt, bevor er sie heimlich das Tor passieren liess.
Ein weiterer schmerzvoller Stich durchfuhr ihre Brust. Wenn bloß ihr Marius selbst bei den Wachen gewesen wäre. Wenn sie doch bloß wüsste, wo er jetzt war und wie sie ihn erreichen konnte. Zu gerne hätte sie ihm von den Sorgen erzählt, die sie belasteten und wie ein dunkler Schatten ihr Leben verdüsterten. Er würde ihr mit fester Stimme versichern, dass sie sich nicht zu sorgen brauchte, dass eine gemeinsame, unbeschwerte Zukunft auf sie wartete. Marius war immer voller Zuversicht und Hoffnung gewesen, ihre Stütze in der trostlosen Zeit nach dem Tod von Cinnas Eltern.
Sie kämpfte gegen die Tränen an während sie das umzäunte Areal der memoria betrat und die Öllampe auf dem breiten Sockel des Monuments absetzte. Einen Moment lang ruhte ihr Blick auf dem kleinen Bild des Löwen mit erhobener Pranke, das den Spiegel der Lampe zierte. Auch das stolze Tier erinnerte sie an Marius.
Mit einem tiefen Seufzer richtete sie ihren Schal, so dass er ihr Haar ordentlich bedeckte. Ihre Mutter hatte ihr beigebracht, dass es Unglück brachte, die Götter mit unbedecktem Haupt anzurufen. Erst als sie mit ihrem Aussehen zufrieden war, kniete sie nieder. Unbequem hart und kalt pressten sich die unebenen Pflastersteine durch den dünnen Stoff ihrer Tunika gegen ihre Knie. Beide Arme ausgestreckt, die offenen Handflächen nach oben, sprach Cinna die Eröffnungsworte des Rituals.
„Verehrte Vesta, Hüterin der Heiligen Flamme, bitte höre mein demütiges Gebet mit Wohlwollen."
Mit steifen Fingern klaubte sie ein Stück des kostbaren Weihrauchs aus ihrem Beutel und benutze ihre Lampe, um es im dafür vorgesehenen Räucherkelch in Brand zu stecken. Das Gefäß war rußgeschwärzt von zahllosen früheren Gebeten. Bevor sie den nächsten Teil des Rituals begann, holte Cinna tief Atem um ihren flatternden Herzschlag zu besänftigen. Sie erinnerte sich an die Worte ihrer Mutter und konnte ihr ernstes Gesicht vor sich sehen, als wäre sie erst gestern noch bei ihr gewesen. „Die Götter haben keine Zeit und Geduld für zögerndes oder unsicheres Verhalten. Wenn wir Sterbliche gehört werden wollen, müssen wir uns an ihre Regeln halten."
Noch niemals war es so wichtig gewesen wie heute, dass die Götter ihr zuhörten.
„Janus, Torwächter, Öffner des Wegs, möge dieses Opfer dein Gefallen finden."
Die dichten Weihrauchschaden reizten ihre Nase und verdrängten die beruhigenden Gerüche des Sumpflandes. Cinna stellte ihre Lampe zurück auf den Sockel und breitete ihre Hände aus.
„Geliebter Vater und liebste Mutter, bitte blickt mit Freundlichkeit auf eure einzige Tochter."
Ein weiteres Stück Weihrauch wanderte in den Kelch. Wenn ihre Eltern, ihre Ahnen und die Götter ihr Flehen nicht erhörten, war sie bestimmt zur Verdammnis verurteilt.
„Göttlicher Apollo, Beschützer der Gläubigen, möge es dir gut gehen, mögest du meine Schritte leiten und dein Licht auf meinen Weg scheinen lassen. Bitte gib mir Kraft, beschütze mich in meiner Sorge und heile mein gebrochenes Herz. Bitte steh mir in diesen schrecklichen Tagen bei, bewahre mich vor Gewalt, vor Hass und den Gefahren, die mir lauern. Zeig mir einen Weg, meine ungewollte Last zu tragen, oder nimm sie von mir, wenn es dein Wille ist. Mächtiger Apollo, bitte nimm dieses Opfer als Zeichen meiner Ehrlichkeit, meiner Ernsthaftigkeit und meiner Verzweiflung."
Sie beugte sich vor und legte einen Apfel neben den Kelch. Die Frucht war ein bescheidenes Geschenk, aber der Gott mochte wissen, wie schwierig es gewesen war, in ihrem neuen Heim eine passende Opfergabe zu finden. Vielleicht würde er ihre Anstrengung würdigen. Tränen verschleierten ihren Blick als sie mit leiser Stimme weitersprach.
„Und bitte, mächtiger Apollo und großzügiger Beschützer, lass es meinem geliebten Marius gut gehen."
Um ihre Bitte zu unterstreichen, legte Cinna einen weiteren Brocken Weihrauch in den Kelch, das letzte. Es war Zeit, das Gebet abzuschließen.
„Verehrte Vesta, schenke mir dein Wohlwollen. Falls mir in diesem Ritual ein Fehler unterlaufen sein sollte, vergib mir und nimm diesen Weihrauch zu deiner Ehre."
Verstohlen blickte über sie die Schulter in Richtung der Stadt. Dicke Nebelschwaden verschleierten die Ebene und gaukelten ihr Bewegungen vor, wo es keine gab. Allein die Tatsache, dass sie den Nebel erkennen konnte zeigte, dass bald der mächtige Sonnengott seinen Wagen über den Himmel führen würde. Aber die Regeln verlangten, dass sie am Opferplatz verharrte, bis die Flammen die letzte ihrer Gaben verzehrt hatten. Cinna zitterte in der klammen Morgenluft und schlang ihre Arme eng um sich, während sie auf ein Zeichen der Götter wartete. Hatten sie überhaupt zugehört? Der Ruf eines Käuzchens oder sogar eine vorbeihuschende Maus hätten genügt, um einen Funken Zuversicht zu wecken. Aber sie konnte kein Zeichen entdecken.
Endlich glühte der letzte Weihrauch in einem kalten Luftzug auf und leuchtete wie ein oranges Auge bevor er verglomm. Das Gebet war vollständig und sie war frei, den heiligen Platz zu verlassen. Hoffentlich waren die Götter nicht zu sehr mit ihren eigenen Streitigkeiten beschäftigt, um sich um die irdischen Probleme einer jungen Frau zu kümmern. Sie hatten Cinnas Bitten schon früher missachtet. Aber vielleicht war diesmal alles anders, denn sie konnte sich nicht erinnern, jemals so verzweifelt gewesen zu sein. Nicht einmal damals, als sie den Tod ihrer Eltern betrauerte.
Sie seufzte. Es war ein Risiko gewesen, hierher zu kommen um dieses verbotenes Gebet zu sprechen. Und nun, da ihr waghalsiger Plan ausgeführt war, bedrückte sie das Wissen um die Gefahr in die sie sich begeben hatte. Aber in ihrer Verzweiflung versprach das Grab ihrer Eltern als einziger Ort Trost. Wenn doch nur...
Die winzige Flamme der Lampe auf dem Sockel des Grabmals flackerte und zischte, als Cinna danach griff. Vorsichtig hob sie das Licht hoch, um das Relief im Kalkstein der memoria zu beleuchten. Es war ein beeindruckendes Gebäude am Rand der Straße zur Stadt, weithin sichtbar und eine Landmarke für Reisende. Sie hatte die bildlichen Darstellungen immer geliebt, besonders das Relief mit Triton. Aber heute, im gedämpften Licht der Öllampe, wirkten seine markanten Züge kalt und bedrohlich. In Cinnas verängstigter Stimmung sah es aus, als ob die Nereide, die er in seinen Schoß zog, seine Berührung genauso verabscheute wie sie selbst die Liebkosungen des Mannes, mit dem sie vor einigen Wochen verheiratet worden war.
Ihr Mann. Sie musste sich beeilen, wenn sie noch vor Sonnenaufgang das Haus erreichen und sich ungesehen in ihr Gemach schleichen wollte. Falls ihr das nicht gelang, steckte sie noch tiefer in den Schwierigkeiten, die ihren Alltag prägten. Ihr Onkel würde kein Verständnis aufbringen, wenn er erfuhr, dass sie aus ihrem neuen Heim geflohen war. Und ihr verhasster Mann noch viel weniger.
Cinna unterdrückte einen weiteren Seufzer und stand auf. Ihre Gedanken drehten sich bereits um die Frage, wie sie sich im frühen Morgenverkehr am besten ungesehen durch das Tor huschen konnte. Mit einem letzen Blick wandte sie sich von dem Monument ab und der Stadt zu.
Der erste Stoß des Dolchs traf sie mitten in der Drehung im rechten Oberarm.
Cinna schnappte nach Luft. Ein glühender Schmerz zuckte durch ihren Körper und sie ließ die Lampe fallen. Klirrend zerbrach das Tongefäss auf den Pflastersteinen. Ein Tropfen heißes Öl versengte ihren Knöchel und der verglimmende Docht überließ sie dem düsteren Zwielicht der Dämmerung. Während sie die Hand auf die pochende Wunde in ihrem Arm presste, überrollte eine eisige Welle der Panik ihre Gedanken. Heißes Blut pulsierte zwischen ihren Fingern hervor und sie begann mit torkelnden Schritten zu rennen. Von hinten riss ihr Peiniger ihr die palla von den Schultern, packte ihr geflochtenes Haar mit festem Griff und zog sie gegen seine Brust.
Der zweite Dolchstoß fand ihr Herz. Cinna sank mit einem leisen Wimmern zu Boden. Ihre Sehkraft ließ bereits während das warme Blut ihr Leben aus der Wunde presste. Die verhallenden Schritte ihres Mörders dröhnten in ihren Ohren. In einem letzten Flehen streckte sie eine blasse Hand zur memoria ihrer Eltern aus. Ihre kalten Finger griffen nach einer Scherbe der zerbrochenen Lampe, aber ihre Kraft ließ rasch nach. Das kleine Stück gebrannter Ton rutschte in die Spalte zwischen zwei Pflastersteine, als die Muskeln der jungen Frau endgültig erschlafften.
Stille kehrte ein im Heiligtum auf der Ebene. Ein feiner Nebel zog sich über der dunklen Pfütze von erkaltendem Blut zusammen. Er tanzte in dem schwachen Luftzug, der über die Leiche des Mädchens strich, bis ein dichterer Nebelschwaden die Szene wie ein feuchte Laken bedeckte.
Hoch von der Spitze des Grabmals zerriss der heiser Schrei eines Raben die Dämmerung, ein einsamer Zeuge, der den Verlust eines jungen Lebens betrauerte.
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