1.
Dimitri
Er lehnte mit verschränkten Armen an der baufälligen Stadtmauer und beobachtete das rege Treiben auf dem Marktplatz. Hätten seine Auftraggeber nicht darauf bestanden, in diesem Nest Halt zu machen, wären sie schon vor Stunden in einer deutlich lukrativeren Stadt angekommen - die in jedem Fall mehr als ein paar Marktstände mit mangelhafter Ware und einer Herberge, die sogar die Ärmsten mieden, geboten hätte. Warum bezahlte man überhaupt einen Anführer, wenn man am Ende doch nicht auf ihn hörte, sondern seinen eigenen Kopf durchsetzen musste?
Bei dem Gedanken daran, dass Alexander später vermutlich wieder ihn dafür verantwortlich machen würde, knirschte er mit den Zähnen und hätte die kleine Reisegruppe am liebsten sich selbst überlassen. Im Nachhinein gesehen war es wirklich ein Fehler, zuzustimmen, ihnen als Führer zu dienen und sie vor Gefahren zu beschützen. Es war schon so seltsam genug, dass jemand ohne bewaffnete Begleitung quer durch das ganze Land reiste. Normalerweise heuerte jeder, der es sich irgendwie leisten konnte, einige erfahrene Söldner an, um nicht hinterrücks überfallen, ausgeraubt und im schlimmsten Fall auch noch ermordet zu werden.
Seufzend fuhr sich Dimitri durch die dunklen Haare und richtete seinen Blick auf drei Personen, die sich ihm gemächlich näherten. Der großgewachsene Alexander war ihm schon von Anfang an durch seine arrogante Art unsympathisch gewesen. Wenn nur die Hälfte von dem, was er in seinen überheblichen Sprüchen äußerte, wahr wäre, hätte die Gruppe weder ihn selbst noch irgendjemand anderen zu ihrem Schutz benötigt. Doch nach dem, was Dimitri bisher erlebt hatte, würde der Mann vermutlich bei einer Bedrohung als Erster die Flucht ergreifen. Schon allein das ließ ihn in den Augen des erfahrenen Kriegers tief sinken, doch sein ständiges Herumnörgeln an Dingen, an denen er größtenteils selbst Schuld trug, machte es noch schlimmer.
Es glich einem Wunder, wie die anderen beiden es mit ihm aushielten. Der eher zurückhaltende Jasper war das genaue Gegenteil seines älteren Bruders und musste sich oft genug dessen Spott gefallen lassen. Der in sich gekehrte junge Mann war eine deutlich angenehmere Gesellschaft für Dimitri, der nicht selten überlegte, wie zwei Menschen so unterschiedlich sein konnten, obwohl sie Geschwister waren.
Unter anderen Umständen hätte er spätestens nach drei Tagen in Alexanders Gesellschaft ihre Abmachung gekündigt und sich einen angenehmeren Dienstherrn gesucht. Die Bezahlung war zwar mehr als akzeptabel, doch wenn nicht eine dritte Person die beiden Männer begleitet hätte, hätte er auf diese verzichtet, um dafür nicht mehr ununterbrochen mit dem Drang kämpfen zu müssen, Alexander niederzuschlagen. Doch sein Ehrgefühl verbot es ihm, die junge Frau, die ebenfalls zur Familie gehörte, allein oder in Begleitung wenig vertrauenerweckender Söldner reisen zu lassen. Anastasia war eine bemerkenswerte Schönheit. Er würde ohne zu zögern darauf wetten, dass es genügend Männern egal wäre, ob sie von Anastasias Brüdern für ihren Schutz bezahlt wurden oder nicht.
Also musste er wohl oder übel in den sauren Apfel beißen und hoffen, dass Alexander was seinen Lohn anging nicht maßlos übertrieb. Trotz der Anzahlung, die Dimitri zu Beginn der Reise erhalten hatte, blieb er misstrauisch. Es war alles andere als ungefährlich, von einem Ende des Landes zum anderen zu wollen und den eigentlichen Grund für die Reise hatte keiner von den Dreien enthüllt. Wenn er Pech hatte, hatten sie sich mit den falschen Leuten angelegt und mussten nun Hals über Kopf vor diesen fliehen. Das würde immerhin erklären, warum sie kaum Gepäck bei sich hatten und allein den beschwerlichen Weg aus ihrer ruhigen Heimat auf sich nahmen. Nun, im Endeffekt war es nicht sein Problem, was die Geschwister nach Westen trieb.
„Dieses Kaff verdient seine Bezeichnung als Stadt nicht einmal annähernd", urteilte Alexander missmutig und spuckte angewidert aus. „Den Umweg hierher hätten wir uns sparen können."
Ein spöttisches Lächeln huschte über Dimitris Gesicht. „Sagte ich ja. Wenn Ihr nicht gerade in der versifften Herberge übernachten wollt, werdet Ihr hoffen müssen, dass sich das Wetter hält. Die nächste Stadt werden wir vor Anbruch der Nacht sicher nicht erreichen."
Jasper und Anastasia wechselten einen kurzen Blick, ehe sie ergeben nickten. Doch ihr Bruder konnte sich wieder einmal nicht mit der unliebsamen Situation abfinden.
„Und das hättet Ihr nicht früher sagen können? Wenn Ihr die Gegend hier so gut kennt, wie Ihr es angeblich tut, sollte Euch diese Tatsache bewusst gewesen sein."
„Er hat es oft genug erwähnt, Alex. Du willst nur wieder jemand anderem die Schuld geben", widersprach Anastasia ihm und verdrehte die Augen. Es war das erste Mal in den letzten zwei Wochen, dass sie etwas gegen ihn sagte. Dimitri konnte sein Grinsen nicht unterdrücken, als Alexander den Mund öffnete, um irgendetwas zu seiner Verteidigung zu sagen, es sich aufgrund des zornigen Blicks seiner Schwester dann aber doch anders überlegte und ihnen den Rücken zuwandte. Er murmelte etwas, das so klang, als wolle er trotzdem nach einer akzeptablen Unterkunft suchen, und verschwand in einer der Gassen.
„Wir sollten ihm wohl folgen", sagte Jasper seufzend. „Am Ende kommt er noch auf die Idee, die erstbesten Bürger aus ihren Häusern zu vertreiben."
„Mich würde es ehrlich gesagt nicht stören, wenn er von der Stadtwache ein paar Tage in den Kerker gesteckt wird. Aber sucht ihn meinetwegen. Ich warte hier." Dimitri verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere und stellte sich unwillig auf weitere Stunden an Wartezeit ein. Prinzipiell hatte er nichts dagegen, etwas länger an einem Ort zu verweilen, doch allein die Tatsache, dass Alexander daran schuld war, verschlechterte seine Laune.
„Wir beeilen uns", versprach Anastasia noch, bevor sie ihrem Bruder folgten.
Erneut zu Untätigkeit verdammt, ließ er seinen Blick zum wiederholten Mal über den gepflasterten Marktplatz gleiten. Viele Stände waren es nicht, die hier ihre Ware anboten. Eine alte Frau verkaufte ein paar Äpfel und Kartoffeln, ein Mann, der Ähnlichkeit mit einer Krähe hatte, bot mehrere Laibe Brot an, während der links von ihm sein Glück mit Fischen aus dem nahen Fluss versuchte. Am Rand stand schließlich noch ein etwa zwölfjähriger Junge, der Eier und Milch verkaufte. Der Wind frischte kurz auf, trug Dimitri den Geruch eines Eintopfs entgegen und erinnerte ihn daran, dass er seit Stunden nichts mehr gegessen hatte.
Genau genommen war dieser Markt im Verhältnis gesehen nicht anders als größere. Tratschende Frauen standen an jeder Ecke, in der Nähe saßen einige Bettler, an den Ständen wurde um jede Kupfermünze gefeilscht - es fehlten nur noch zwei Dinge, um das Bild zu vervollständigen.
Erstens eine Prügelei zwischen Betrunkenen und zweitens ein geschickter Taschendieb. Zu einem ordentlichen Kampf würde es heute nicht kommen, dafür waren zu wenige Männer unterwegs. Doch wie um diesen Umstand auszugleichen, erblickte Dimitri plötzlich etwas anderes, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein junges Mädchen, dessen hellbraune Haare zu einem langen Zopf geflochten waren, schlenderte scheinbar ziellos über den Platz. An und für sich nichts Ungewöhnliches, das eigentlich Interessante war ihre Kleidung. Entgegen der üblichen Sitten trug sie kein Kleid oder einen Rock, sondern feste Lederstiefel, eine lange Hose und vermutlich ein Hemd unter der abgenutzten Jacke.
Es war zwar schon lange nicht mehr verboten für Frauen, solche Kleidung zu tragen - dennoch war es eine Seltenheit, tatsächlich mal eine darin zu sehen. Eine angenehme Seltenheit, wie er schmunzelnd feststellte. Auch wenn viele Männer es für Unsinn hielten, Frauen Hosen tragen zu lassen, konnte niemand leugnen, dass diese deutlich figurbetonter als die langen Kleider waren.
Das Mädchen schien Dimitris unverhohlene Musterung zu spüren und drehte sich stirnrunzelnd um.
Er grinste, als sie fragend eine Augenbraue hob. Wusste sie tatsächlich nicht, welche Wirkung sie mit ihren eng anliegenden Kleidern bei Männern erzielte oder tat sie nur so? Ihrem genervten Kopfschütteln zufolge war sie sich sehr wohl darüber im Klaren, schien aber auf einen anderen Grund gehofft zu haben. Nach diesem kurzen Blickkontakt drehte sie sich sichtlich verärgert um und verschwand mit schnellen Schritten in der Menge.
Dimitri sah ihr einen Moment unschlüssig nach, ehe er ihr folgte. Bis Anastasia und Jasper ihren Bruder gefunden und dazu überredet hätten, wieder zurückzukommen, würde noch mehr als genug Zeit vergehen.
Warum die junge Frau sein Interesse geweckt hatte, wusste er selbst nicht genau. Doch es war allemal besser, ein paar Worte mit ihr zu wechseln, als sich hier die Beine in den Bauch zu stehen.
Nach wenigen Augenblicken hatte er sie in der Nähe einer größeren Gruppe schwatzender Frauen entdeckt und änderte sein Vorhaben. Anstatt auf sie zuzugehen, blieb er im Schatten eines Hauses stehen und beobachtete sie interessiert.
Scheinbar unsicher betrachtete sie das ausgebreitete Obst an dem Stand vor sich und überlegte ob und was sie kaufen sollte. Während dieser Überlegungen ging sie wie zufällig weiter in Richtung der Gruppe Frauen, um auch die Waren am Ende des Standes zu prüfen. Als würde sie in dem Angebot nicht das Passende finden, wandte sie sich schließlich seufzend ab. In Gedanken offenbar bei etwas anderem, stieß sie auf dem Rückweg gegen eine der gut gelaunten Frauen, stolperte und hielt sich an deren von Wohlstand zeugendem Mantel fest, um nicht zu fallen. Die Frau schwankte angesichts des Zusammenstoßes und fuhr das Mädchen an, ob sie denn nicht aufpassen könne. Diese wiederum stammelte erschrocken eine Entschuldigung, ehe sie sich mit gesenktem Kopf entfernte. Die Frauen waren wieder in ihre Gespräche vertieft und schienen den Störenfried vergessen zu haben.
Ganz im Gegensatz zu Dimitri, der das Geschehen verfolgt hatte. Es gab also doch Diebe hier, auch wenn das braunhaarige Mädchen vermutlich ebenfalls nur auf der Durchreise war. Trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer verbotenen Art an Geld zu kommen stieg sein Interesse an ihr. Er war neugierig, warum so ein hübsches junges Ding ihren Lebensunterhalt mit Stehlen verdiente und offensichtlich allein durch das Land zog, anstatt wohlbehütet bei seiner Familie oder schon verheiratet zu sein.
Sie schien zu bemerken, dass sie verfolgt wurde. Alle paar Schritte warf sie einen misstrauischen Blick über die Schulter und Dimitri machte sich einen Spaß daraus, immer in jenen Momenten in einer Gasse oder hinter einer Mauer zu verschwinden. Das kleine Versteckspiel war eine willkommene Abwechslung für ihn und wenn es nach ihm ginge, hätten sie das Ganze noch ewig weiter treiben können.
Unglücklicherweise schien die junge Frau das anders zu sehen. Sie blieb stehen, um mit wachsamem Blick jeden Winkel hinter sich zu durchbohren. Dimitri wandte ihr hastig den Rücken zu und tat so, als würde er gespannt die Versteigerung einer Fuchsstute verfolgen. Als er sich schließlich entschied, ihr jetzt lange genug Angst eingejagt zu haben und zu ihr gehen wollte, musste er feststellen, dass sie genauso leise verschwunden, wie vorhin auf dem Marktplatz aufgetaucht war.
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