Sie gingen morgens
Der Flötenspieler kehrte zum Brunnen zurück und blieb dort. Mehrere Tage lang. Manchmal spielte er, mehrmals holte er sich im Kaffeehaus etwas zu essen und verzehrte es am Brunnen, des Nachts schlief er dort, in seine bunte Decke eingewickelt. Er wartete. Und beobachtete. Aber vor allem sprach er.
Nicht mit den Männern. Aber mit den Frauen, die mehrmals täglich zum Brunnen kamen. Sie brauchten Wasser zum Kochen, Putzen und Waschen, um die Tiere zu tränken, die Beete zu gießen und den Männern das Bad zu bereiten. Sie kamen oft und es fiel den Männern nicht auf, dass sie in diesen Tagen viel mehr Wasser brauchten als sonst.
Der Brunnen war der Treffpunkt der Frauen. Die Männer kannten es nicht anders, als dass die Frauen dort mehr Zeit verbrachten, als zum Wasserschöpfen nötig war. Wenn die Männer im Kaffeehaus oder vor der Schenke saßen, Karten spielten und die Weltordnung besprachen, konnten sie es genau verfolgen.
Solange es nicht zuviel wurde, griffen sie nicht ein. Frauen waren nun einmal schwatzhaft veranlagt. Und wenn sie ansonsten ihre Arbeit gut verrichteten, konnte man ihnen das nachsehen.
Was die Frauen am Brunnen besprachen, interessierte die Männer nicht. Es konnte nichts Wichtiges sein, denn der Horizont der Frauen reichte nicht weit. Kochrezepte, Pflanzenpflege, Heilmittel für Mensch und Tier, Schneidern und Reparieren von Kleidung, Haltbarmachen von Lebensmitteln, Instandhaltung des Hauses, das Tun und Lassen der Nachbarn, zu mehr reichte es bei den Frauen nicht. Uninteressant für Männer.
Da sie nie zuhörten, fiel es ihnen nicht auf, dass die Frauen nun mit dem Flötenspieler sprachen. Anfangs gaben sie nur scheu seinen Gruß zurück. Dann antworteten sie auf seine Fragen. Und dachten später darüber nach. Später stellten sie ihm Fragen. Und er gab Auskunft.
Einmal bekam der Bürgermeister mit, dass der Flötenspieler mit zwei Frauen sprach. Er trat näher und bekam noch die Worte mit: „Drei Minuten sieden lassen, abkühlen lassen und dann abseihen."
Er lachte leise vor sich hin, als er weiter zur Schenke ging. Der Flötenspieler hatte auch nicht mehr im Kopf als die Frauen; er tauschte mit ihnen Kochrezepte aus, während er wartete. Bürgermeister und Stadträte waren sich einig, dass der Flötenspieler in der Stadt blieb, weil er noch auf seinen Lohn hoffte. Nun, das Warten würde ihm wohl irgendwann langweilig werden. Das Gold würde er nicht bekommen.
Und wenn der Spieler stattdessen Kochrezepte mitnehmen wollte, sollte es dem Bürgermeister recht sein. Wahrscheinlich kochte der Mann sogar selbst. Eine solch minderwertige Arbeit traute der Bürgermeister dem Wanderer, der sein Auskommen mit seiner Flöte zu erlangen suchte, durchaus zu. Bei manchen Männern reichte es eben nicht zu Höherem.
Wovon die Frauen und der Flötenspieler wirklich sprachen, blieb den Männern verborgen. Auch später noch, als er sie längst verlassen hatte.
Aber die ständige Anwesenheit des um seinen Lohn Geprellten störte die Stadträte allmählich. Es war wie ein kleiner Dorn im Fleisch, nicht wirklich schmerzhaft, aber nervend, weil er einfach nicht weichen wollte. Sie sahen ihn jedes Mal, wenn sie zum Kaffeehaus gingen oder zu ihren Werkstätten, in den Läden einkauften, von der Feldarbeit kamen oder die Tiere auf die Weide trieben. Und jedes Mal fragten sie sich, welche Schliche der Flötenspieler noch kannte. Und ob er sie anwenden würde, um doch noch den versprochenen Lohn zu erhalten.
Die Räte sprachen mit dem Bürgermeister und fanden ein offenes Ohr, denn auch ihm wurde der Wanderer allmählich lästig.
Der junge Mann spielte selbstvergessen vor sich hin und sah nicht einmal auf, als der Schatten des Bürgermeisters über ihn fiel. Erst dessen harsche Stimme schreckte ihn auf.
„Wie lange gedenkst du noch hier zu weilen?"
„Solange es nötig ist", gab der Flötenspieler zur Antwort.
„Du hoffst vergeblich. Das Gold steht dir nicht zu und du bekommst es auch nicht. Und die Gastfreundschaft der Stadt wirst du auch nicht länger in Anspruch nehmen, verstanden?"
„Hm?"
Dem Bürgermeister war nicht klar, ob der Mann stur oder begriffsstutzig war. „Morgen früh bist du verschwunden!" Diese Anweisung konnte nicht missverstanden werden.
Der Flötenspieler lächelte. „Wie schade. Wo ich doch eure Gastlichkeit so sehr genossen habe. Nun gut, morgen früh wirst du nichts mehr von mir sehen oder hören."
An diesem Abend schmeckte den Männern die Mahlzeit noch einmal so gut. Die Frauen tischten zu den üblichen Gerichten eine neue Soße auf, die allem einen besonders würzigen Geschmack verlieh. Die meisten Männer nahmen sich noch einmal davon. Und manche erklärten sogar, eine solche Leckerei sei nichts für Frauen, deren minder feiner Geschmack die vielfältigen Nuancen gar nicht so wahrnehmen konnte.
Noch im Schlaf spürten die Männer dem Aroma der Soße nach. Und schlafen konnten die Männer in dieser Nacht besonders gut.
Noch vor der Dämmerung erhob sich der Flötenspieler. Decke und Becher waren schnell im Bündel verstaut, die Flöte hatte er auch im Schlaf in der Hand behalten. Nun setzte er sie an die Lippen, spielte eine sanfte, aber eindringliche Melodie. Dabei streifte er durch die ganze Stadt, passierte prachtvoll bemalte Villen, einfache Häuser und brüchige Katen. Selbst die Lagerschuppen, an denen sich abends die Menschen niederließen, die kein Dach ihr eigen nennen konnten, ließ er nicht aus.
Und sie kamen zu ihm. Die Männer nicht, sie schliefen ruhig weiter. Doch die Frauen und Kinder traten aus den Türen, kletterten aus Fenstern, schälten sich aus zerlumpten Decken. Sie schulterten vorbereitete Bündel, nahmen die Kinder an der Hand und folgten dem Flötenspieler. Manche noch etwas zögernd, andere begierig, aber alle fest entschlossen.
Aus dem Haus des Bürgermeisters traten zwei Frauen, wie alle anderen in schwarze und graue Schleier gekleidet. Doch als sie am Brunnen vorbeikamen, zog die eine plötzlich die Schleierhaube ab und schälte sich aus dem verhüllenden Mantel. Die Frauen sahen geschockt, der Flötenspieler lächelnd zu, als die Tochter des Bürgermeisters zum ersten Mal ihr Gesicht den Blicken anderer Menschen als Vater und Mutter aussetzte.
Als sie weitergingen, spielte der Flötenspieler nicht mehr. Es war nicht nötig. Die Frauen folgten ihm freiwillig. Und mit der Zeit verschwanden immer mehr Schleier, bis eine grau-schwarze Spur den Weg kennzeichnete, welchen die Frauen und der Flötenspieler genommen hatten.
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