Sie gingen abends
Die Stadtbewohner erwarteten, dass der Flötenspieler sich sofort an die Arbeit machen würde. Aber er blieb am Brunnen sitzen, trank von dem klaren Wasser, zog die Stiefel aus und goss sich Wasser über die Füße und beobachtete das Treiben in der Stadt. Er sah die Männer vor dem Kaffeehaus und der Schenke sitzen, trinken und rauchen und die Frauen geschäftig hin- und herlaufen. Nachdem er sein Spiel beendet hatte, waren die Tiere wieder ihrer Wege gegangen, doch immer wieder kam das eine oder andere Tier zu ihm und beschnupperte ihn. Er hatte für jedes Tier ein freundliches Wort, schöpfte mit seinen Händen Wasser für ein Kitz, welches nicht über den Brunnenrand kam, kraulte einen Hund hinter den Ohren, klopfte einer Muttersau freundschaftlich auf den Rücken und bewunderte ihre Ferkel und mehr als eine Katze ließ sich auf seinem Schoß nieder.
Mehrmals sprach er auch die Frauen an, die Wasser holten oder die Wäsche auf dem breiten Steinrand sauber rubbelten. Die meisten sahen fort und schwiegen, einige kicherten und erröteten (selbst durch das halb durchsichtige Gewebe, welches Stirn und Augen bedeckte, konnte er es erkennen) und nur wenige wagten es, ihm eine Antwort zu geben. Doch immerhin erwiderten einige seinen freundlichen Gruß und zwei oder drei gingen sogar auf seine Bemerkungen ein, bevor sie davoneilten.
Erst gegen Abend nahm der Flötenspieler sein Spiel erneut auf. Diesmal klang es hell und zart; die Töne folgten rasch aufeinander und verstiegen sich immer wieder zu feinen Trillern. Aber zwischendurch schien die Melodie zu stocken, um dann umso lebhafter fortzufahren. Die Menschen ahnten nicht, dass der Musikant diesmal auch Töne verwendete, die für menschliche Ohren unhörbar sind. Aber was sie nicht wahrnahmen, klang für die Ratten klar und deutlich in ihre Verstecke und Wohnbaue hinein.
Es war keine Warnung, welche die Tiere in wilder Panik aus der Stadt getrieben hätte. Es war keine Lockmelodie, der die Ratten wie willenlos gefolgt wären, ganz egal wohin. Es war ein Versprechen, die Verheißung einer besseren Welt, in der sie nicht mehr gejagt und verfolgt würden.
Und die Ratten verstanden es. Sie machten sich bereit. Mütter sammelten ihre Kinder ein, Väter stopften sich noch einmal die Backen mit Nahrung voll, um auf dem Weg nicht zu darben, Söhne und Töchter halfen den Alten aus den Verstecken heraus. Nach einigen Minuten, in denen der Reisende scheinbar wirkungslos sein Spiel zelebriert hatte, kamen sie heraus, sammelten sich vor dem Brunnen und warteten geduldig auf sein Signal.
Als der Platz grau und braun vor Ratten war, stand der Fremde auf. Sein Spiel veränderte sich leicht, die Töne waren kräftiger und regelmäßiger; sie sprachen nun nicht mehr vom gelobten Land, sondern vom Wandern über Wege und Felder. Schließlich stand er auf, ging lässig durch die Tiere hindurch, ohne eines zu treten oder zu schubsen und erreichte unangefochten das Stadttor.
Hinter ihm formierten sich die Ratten. Und der Flötenspieler verließ in gemählichem Schritt die Stadt, sorgsam darauf achtend, dass auch die Alten und Schwachen ihm folgen konnten.
Der Bürgermeister hatte Beobachter eingeteilt, welche dem Flötenspieler folgen sollten. Er traute dem Fremden nicht, der seine Macht auf so wunderliche Weise bewiesen hatte und wollte sichergehen, dass die Ratten tatsächlich verschwunden waren, bevor er sich von seinem Gold trennte.
Der Wanderer wanderte erneut. Er ging den Weg zurück, den er gekommen war, vorbei an dem begradigten Fluß, dessen Ufer mit Stein eingefasst waren und keinen störenden Bewuchs mehr aufwiesen. Vorbei an den noch immer kahlen Feldern, an dem kleinen See, am Steinbruch und den Lehmgruben, welche sich wie zahlreiche Wunden am Weg aufreihten.
Er lief immer weiter, fast die ganze Nacht durch. Kurz vor der Dämmerung erreichte er die sanften Hügel und den dichten Wald, der von der Stadt nur vage in weiter Ferne zu erkennen gewesen war. Hier blieb er stehen. Das Spiel seiner Flöte wurde nun langsamer und dunkler, sang von Heimat und Schutz, versprach Nahrung und Behaglichkeit.
Die Ratten verstanden. Sie rochen das klebrige Harz der Kiefern und die Süße der Blaubeeren; spürten die Nadeln und Blätter unter den winzigen Pfoten; bemerkten den linden Luftzug auf ihrem weichen Fell, weder schneidend kalt noch brütend heiß und drückend schwer; hörten die vertrauten Geräusche eines von Lebewesen aller Art bewohnten Gebietes und sahen die Umrisse von Bäumen und Büschen, die ihnen allerlei Nahrung und gute Verstecke boten.
Das lockende Spiel war nicht mehr nötig. Die Tiere quiekten und trillerten erfreut, teilten ihr Entzücken über den neuen Lebensraum miteinander. Und dann setzten sie sich alle gleichzeitig in Bewegung, verschwanden in einer einzigen, dunklen Woge im Wald. Die Stadtbewohner sahen sie niemals wieder.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top