Er kam nachmittags

Er war schon von weitem zu hören. Das fröhliche Spiel seiner Flöte wehte über die karge, weite Landschaft, als wolle es den Gesang der Vögel imitieren, die nach der Rodung in andere Gefilde übergesiedelt waren, soweit sie noch die Kraft dazu besaßen. Außer den hellen Tönen, die sich in die sonnenwarme Luft erhoben, war es still, da hier keine Tiere mehr lebten und so fielen die Lieder des Flötenspielers umso mehr auf.

Verwundert blickten die Menschen in der Stadt auf ihn, als er die Tore durchschritt und gemächlich zum Brunnen in der Mitte der Stadt schlenderte. Er setzte sich auf den breiten Rand um das kühle Wasser herum und trällerte zunächst das begonnene Lied fertig, bevor er die Flöte absetzte, einen Becher aus seinem Bündel holte und ihn ins Wasser tauchte.

Neugierig beäugten ihn die Frauen hinter ihren Schleiern. Die meisten drückten sich scheu an die Hauswände; sie trauten dem Fremden nicht recht. Aber einige kamen etwas näher und zwei junge Mädchen mit Krügen in den Händen gingen beherzt zum Brunnen und füllten ihre Gefäße mit dem kühlen Nass. Eine von ihnen zog sogar vorsichtig den Schleier ein wenig zur Seite, um den Spieler genauer ansehen zu können.

Er schien jung zu sein, besaß nicht einmal einen Bart, der ihn aber wohl auch beim Flötenspiel gestört hätte. Doch seine braunen Wangen waren so glatt, dass sie wohl noch kein Rasiermesser kannten. Sein Kopf war unbedeckt und sein blondes Haar floß frei über die lederbedeckten Schultern.

Seine Kleidung wirkte absonderlich auf die Frauen. Er trug kniehohe Stiefel mit breiten Aufschlägen, nicht die halbhohen, vorne spitzen Stiefel der Männer in dieser Stadt. Seine grünen Hosen lagen eng an und ließen schlanke, gutgeformte Beine erahnen und manche Frau errötete hinter dem schwarzen Schleier, denn sie kannte nur die hier üblichen, weiten Pluderhosen. Das ebenfalls grüne Hemd des Fremden wenigstens war weit und lang, verbarg den Oberkörper, den Unterleib und den oberen Teil der Beine. Gebändigt wurde der Stoff mit einigen Lederriemen statt einer breiten Schärpe und auch die lange Weste bestand aus Leder. Für die Frauen war er eindeutig nicht aus dieser Gegend, aber auch nicht so anders, dass sie einen bösen Geist in ihm sahen.

„Heho! Wer bist du und was machst du hier?" Der Bürgermeister kam mit einigen Stadträten auf den Flötenspieler zu. Dieser nahm erst einen tiefen Schluck aus seinem Becher, bevor er gelassen antwortete: „Ich bin ein Reisender und lösche hier meinen Durst."

„Wohin reist du?" Misstrauisch beäugte ihn der Bürgermeister.

„Nach Hause, in die Heimat." Der Flötenspieler war offenbar nicht gewillt, genauere Auskunft zu geben.

„Und wo kommst du her?"

„Aus der Ferne – hier und da", eine unbestimmte Handbewegung deutete an, dass der Mann wohl die halbe bekannte Welt bereist hatte.

„Und was willst du in unserer Stadt?"

„Etwas Wasser schöpfen, meine Beine ausspannen und vielleicht eine Nacht hier ruhen."

„Und betteln, eh?"

„Warum sollte ich betteln? Ich habe, was ich brauche und begehre nicht mehr als ich mit meinen eigenen Händen verdienen kann."

„Und was soll die da?" Der Bürgermeister deutete auf die Flöte, die der Wanderer lässig in einer Hand hielt.

„Die – ah!", sagte der Mann leise. „Die ist mein Handwerkszeug."

„Du bist also doch ein Bettler!"

„Bin ich ein Bettler, weil ich zum Tanz aufspiele und die Menschen mit meiner Musik erfreue?"

„Anständige Menschen arbeiten! Sie feiern nicht jeden Tag."

„Ich auch nicht. Meine Arbeit ist mehr als nur Tanzmusik." Der Fremde hob die Flöte an die Lippen.

Die Töne, die er nun seinem Instrument entlockte, hatte niemand in der Stadt je zuvor gehört. Dunkel und geheimnisvoll klangen sie, erinnerten an das zufriedene Maunzen einer satten Katze, an das sanfte Schnarchen eines Hundes nach einer erfolgreichen Jagd, an das behagliche Grunzen einer säugenden Muttersau.

Und sie kamen. Die Katzen, die sich ein Schläfchen auf den von der Sonne erwärmten Dächern gegönnt hatten. Die Hunde, die durch die Stadt streiften, auf der Suche nach einem Spielkameraden. Die Schweine, die in den Abfällen am Strassenrand nach Essbarem wühlten. Sie alle begaben sich zum Brunnen, legten sich dem Spieler zu Füßen und lauschten seinem Spiel.

Der Bürgermeister und die Stadträte staunten. Und fragten alle gleichzeitig: „Wie hast du das gemacht?" „Bist du ein Zauberer?" „Warum gehorchen dir die Tiere?" "Kannst du das mit allen Tieren machen?"

Die letzte Frage griff der Bürgermeister auf. Und erhielt Antwort: „Ja, die meisten Tiere hören auf mein Spiel. Ich kann sie zu mir ziehen oder vertreiben. Nicht wenige baten mich bereits, ihnen ein verirrtes Schaf oder Kalb wiederzufinden oder die Vögel vom Feld fernzuhalten, bis die Saat ausgetrieben hat."

„Kannst du auch Ratten vertreiben?"

„Ja. Aber wenn ihr welche hier in der Stadt habt, werden sie wiederkommen. Es gibt sonst nichts zu beißen für sie."

Der Bürgermeister sah nachdenklich um sich, als suche er Bestätigung bei den Räten, aber auch bei den lauschenden Frauen. Dabei bemerkte er das Mädchen, welches nahe beim Fremden am Brunnen stand. Angesichts der kleinen Stickerei an ihrem Kopfschleier erkannte er sie und herrschte sie sogleich an: „Was machst du hier? Geh nach Hause, die Mutter wartet auf das Wasser! Frauen sollen sich nicht auf der Strasse herumtreiben!"

Gehorsam nahm das Mädchen den Krug auf und eilte fort. Der Flötenspieler blickte ihr nachdenklich hinterher, während sich auch die anderen Frauen eilends in die Häuser zurückzogen. Der Bürgermeister hatte ja recht, sie hatten ihr Tagewerk zu erledigen und wahrlich keine Zeit, sich am hellen Tag auf dem Platz aufzuhalten wie die Männer.

Der Bürgermeister hatte den Blick des Spielers nicht bemerkt. In geschäftsmäßigem Ton, der in krassem Gegensatz zu seinem barschen Gebahren zuvor stand, fuhr er fort: „Was verlangst du, wenn du die Ratten dieser Stadt für immer von hier vertreibst?"

„Was bietest du?", kam die Frage prompt zurück.

Der Bürgermeister blickte seine Stadträte an. Mehrere nickten zustimmend, einer öffnete seine Geldkatze und begann zu zählen. Der Bürgermeister wandte sich wieder dem Wanderer zu: „Dreißig Goldstücke!" Das war nicht wenig. Aber der Schaden, welchen die Ratten bereits angerichtet hatten, überstieg diese Summe bei weitem.

„Einverstanden!"

„Bis wann wirst du deine Arbeit erledigt haben?"

Der Reisende blickte überlegend durch das Stadttor auf die Ebene außerhalb der Stadt. „Bis morgen Mittag, denke ich."

„Dann komm morgen Abend zu mir", der Bürgermeister deutete auf sein Haus. „Du wirst bei uns mitessen und ich übergebe dir deinen Lohn."

Der Flötenspieler blickte auf die Tür, hinter der das Mädchen mit dem Wasserkrug verschwunden war.

„Einverstanden."

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