Er kam am Mittag

Der Weg zurück war für Flötenspieler und Beobachter schneller zu bewältigen. Doch die Beobachter blieben bald zurück. Es hatte nur eine kleine Pause sein sollen, aber Sekunden später waren alle fest eingeschlafen.

Dem Flötenspieler schien die durchwachte Nacht weniger ausgemacht zu haben. Er schritt munter aus und erreichte die Stadt gegen Mittag. Und steuerte sofort den Brunnen an.

Hier schöpfte er sich einen kühlen Trank. Dann holte er eine Decke aus seinem Bündel, breitete sie vor dem Brunnen aus, legte sich darauf und schob sich das Bündel unter den Kopf. Er war bereits eingeschlafen, als der Bürgermeister und die Stadträte ihn behelligten.

„He! Was wird das?"

Der Flötenspieler öffnete die Augen und erwiderte träge: „Ich schlafe ein bisschen. Ich war die ganze Nacht wach."

„Wo sind meine Leute?"

„Die schlafen auch. Sie werden wohl bald kommen."

„Hast du sie verhext?"

„Nein. Warum sollte ich?"

„Und warum schläfst du jetzt?"

„Ich sollte am Abend zu dir kommen. Jetzt ist Mittag. Ich habe Zeit, ein wenig zu schlafen." Der Flötenspieler schloß die Augen wieder. Auf weitere Fragen des Bürgermeisters antwortete er nicht.

Die Männer ließen ihn also in Ruhe. Die Frauen ebenfalls. Tatsächlich gingen sie besonders leise zum Brunnen und schöpften behutsam Wasser, verzichteten auf die Wäsche und ermahnten die Kinder, nicht am Brunnen zu spielen. Sie gönnten dem Wanderer den Schlaf.

Gegen Abend erwachte der Flötenspieler. Er wusch sich Hände und Gesicht, packte seine Decke ein, fuhr sich mit den Fingern durch das blonde Haar und machte sich auf den Weg zum Bürgermeister. Seine Flöte hielt er in einer Hand, das Bündel ließ er sorglos am Brunnen liegen.

Am Tisch saßen nicht nur der Bürgermeister, sondern auch einige der Stadträte. Seine Frau und seine Tochter huschten leise und behände um sie herum, brachten Schüsseln und Platten mit Braten, Reis und Gemüse; Krüge mit Wein und Wasser; Teller, Becher und Besteck. Erst dann setzten sie sich dazu. Da hausfremde Männer anwesend waren, hatten sich beide verschleiert. Zu unterscheiden waren sie nur an der Stickerei an der Schläfe.

Und an ihrem Verhalten. Als sich der Flötenspieler zwischen sie auf die Bank setzte, raffte die eine Frau die Kleider, um ihm mehr Raum zu geben. Die andere lüftete den Schleier einen Moment, um ihn genauer ins Auge zu fassen und wurde sogleich vom Bürgermeister zur Ordnung gerufen: „Lass das! Du entblößt dich zu sehr! Von Frauen soll man nichts sehen!"

Der Flötenspieler runzelte ein wenig die Stirn, sagte aber nichts dazu. Er schwieg auch während der Mahlzeit, wenn man ihn nicht ansprach.

Der Bürgermeister führte das große Wort. Die Beobachter waren zurückgekehrt und hatten ihm Bericht erstattet; zudem waren in dieser Nacht die Vorräte unberührt geblieben. Um es zu prüfen, hatte man extra einen Sack Getreide offen auf der Strasse stehenlassen. Keine Ratte hatte sich daran zu schaffen gemacht. Der Bürgermeister und die Räte waren also sicher, dass die Tiere aus der Stadt verschwunden waren.

„Das hast du fein gemacht", lobte er den Flötenspieler. Doch er war nicht wirklich zufrieden. „Kannst du versichern, dass sie nicht wiederkommen?"

„Es gefällt ihnen dort, wo sie jetzt sind. Und der Weg zu euch ist weit für Ratten, sie würden ihn nicht mehr finden. Sie sehen nicht gut und können sich über lange Strecken nicht orientieren, sonst wären sie nicht in die nahe Stadt gekommen. Sie hätten gleich diesen Wald aufgesucht."

„Warum hast du sie überhaupt dorthin verbracht? Ich bin davon ausgegangen, du würdest sie in den Fluß locken, damit sie ertrinken."

„Ratten können schwimmen. Und es gab keinen Grund, sie zu töten. Sie haben nur versucht, zu überleben."

„Du klingst, als wärest du auf ihrer Seite. Ratten sind Ungeziefer, das vernichtet gehört, basta!"

„Ich bin auf niemandes Seite. Ich erkenne keine Seiten an."

Dazu sagte der Bürgermeister erst einmal nichts und nahm sich eine weitere Portion. Doch später erkundigte er sich: „Woher kannst du eigentlich dieses Flötenspiel?"

„Ich habe es studiert."

„Studiert? Das klingt, als hättest du eine Universität besucht!" Der Bürgermeister lachte schallend. Doch der Flötenspieler erwiderte gelassen: „Das habe ich. In meiner Heimat gibt es Akademien für vieles und Musik gehört dazu. Ich lernte dort, für Menschen und für Tiere zu spielen."

„Wie interessant!", entfuhr es der Tochter. „Ich würde auch gerne studieren!"

„Halt den Mund!", schimpfte der Bürgermeister. „Frauen haben zu schweigen, wenn Männer sprechen. Und studieren – was für Faxen! Frauen sind zu einfältig dafür!"

Der Flötenspieler setzte den Becher mit Wasser ab. „Ich studierte bei einer unserer besten Lehrerinnen für Musik. Sie ist keineswegs zu einfältig."

Beide Frauen horchten sichtlich auf. Doch Bürgermeister und Räte begannen herzhaft zu lachen und übertönten das scharfe Einatmen rechts und den jubelnden Ausruf links vom Flötenspieler. Nur er selbst nahm es wahr und einer seiner Mundwinkel zuckte belustigt.

„Der war gut!" Der Bürgermeister wischte sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln. „Der war wirklich gut! Aber jetzt mal im Ernst, du hast das Spielen also einfach so gelernt? Es ist keine Magie?"

„Nein. Nur die Kenntnis davon, auf welche Töne die Tiere hören und was sie ihnen mitteilen."

„Das hätte also jeder von uns tun können? Wir hätten nur eine Flöte gebraucht und die richtigen Töne?"

„So ist es."

„Ach, und dann kommst du und forderst dreißig Goldstücke für eine einfache Arbeit, die jeder von uns hätte erledigen können? Nichts bekommst du! Du hast soeben ein gutes Mahl genossen, damit darfst du dich als bezahlt betrachten!"

Gleichmütig stand der Flötenspieler auf. „Dann bedanke ich mich für eine vortreffliche Mahlzeit von zwei großartigen Köchinnen. Ich habe selten so Gutes genossen." Er blickte dabei nicht den Bürgermeister an, sondern dessen Frau und Tochter. Dann jedoch fasste er den Bürgermeister scharf ins Auge. „Was dich anbetrifft, sind wir noch nicht fertig miteinander. Du verweigerst mir meinen Lohn – nun gut. Aber du verweigerst mir auch die einfachste Achtung, die ein Mensch seinen Mitmenschen entgegenbringen sollte. Dafür wirst du bezahlen!"

Bis dem Bürgermeister endlich eine scharfe Antwort einfiel, hatte der Flötenspieler das Haus bereits verlassen.

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