» Bahnfahren ist sicherer«

Kapitel 2

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          Einsteins Rosenbrücken waren nicht dafür ausgelegt Menschen zu transportieren und ich war mir ziemlich sicher, dass ich es auch nicht hätte versuchen sollen.

Mit einem weiteren sehr uneleganten Würgen beugte ich mich nach vorne und begoss einen Busch mit den Einzelteilen des Pizzastücks, dass ich kurz vor meiner Abfahrt noch in der Dusche gegessen hatte.
Ich fühlte mich, als hätte man meinen gesamten Körper durch ein Nadelöhr gequetscht und es war mir unbegreiflich, wie die drei Männer so gelassen neben der Teufelsmaschine stehen konnten und mir beim Wiederkäuen zusahen.

„Vielleicht solltest du bei ihr bleiben, Jules. Nur bis sie sich wieder erholt hat. Wir kommen euch abholen, sobald wir den Luftschiff-Hafen gefunden haben", schlug Forges gerade vor, den Mund mitleidig verzogen. Er hatte mir versichert, dass es den meisten Erst-Reisenden so ginge und mir nichts peinlich sein brauche. Doch ich wusste, dass da lediglich der Vater aus ihm sprach. Die Bilder seiner Kinder waren so deutlich in seinen grauen Augen gestanden, dass selbst ich dieses Gefühl erkannt hatte.

Jules warf ihm einen leidenden Blick zu. „Warum kann Bram nicht auf sie aufpassen? Ich bin Mechaniker, kein Doktor! Die Koordinaten sind bereits für die Heimreise eingegeben, das heißt, ich hab hier null mehr zu tun", er drehte seine Handmanschetten und wandte sich wieder an mich, „Nichts für ungut, Queenie."

Mit unsicheren Schritten verließ ich den Tatort. Meine Kniescheiben hatten den Sprung in eine andere Welt noch nicht ganz geschafft. Wenn meine Mutter gewusst hätte, wie ätzend diese Reisen waren, hätte sie sich bestimmt eine andere fixe Idee gesucht. Dann wiederum wäre meiner Mutter vermutlich auch nicht schlecht geworden.
Mein Blickfeld drehte sich und ich hielt mich an dem nächsten Baum fest. Wie hatte TWTA den Piloten bitte entkommen lassen? Wenn es ihm nur ansatzweise so dreckig gegangen war, hätten sie vielleicht ein Putzteam und keinen Außeneinsatz gebraucht.

„Bram hat aber im Gegensatz zu dir zumindest ein rudimentäres Wissen von dieser Welt. Er wird mich unauffällig zum Hafen bringen, ohne dass wir alle sofort den Stecker ziehen müssen", erwiderte Forges ungerührt.

Die Erwähnung des Sensors ließ mich erschaudern. Ich hörte ihn leise in mein Ohr ticken, wie ein zweiter Herzschlag. Davon abgesehen merkte ich kaum einen Unterschied von der Kopie meines Körpers, zum Original. Außer dass dieser hier anscheinend keine Pizza vertrug.
Ich wollte heim.

Bram war genauso wenig begeistert von Forges Vorschlag, auch wenn sein Protest leiser und kürzer ausfiel. Unser Teamleiter verabschiedete sich in wenigen Worten vom Rest seiner Gruppe und trichterte ganz besonders Jules ein, sich nicht von der Zeitkapsel wegzubewegen.
Dann waren sie auch schon verschwunden.

Mit einem lauten Scheppern, das mich gehörig zusammenzucken ließ, hievte dieser sich auf ein breites abstehendes Rohr der Apparatur und ließ die Beine baumeln. Den Kopf in den Nacken gelegt, betrachtete er die aufragenden Dächer der Stadt, die hinter der Mauer ihre Schatten warfen.

Es war vormittags, doch die Sonne hatte sich nicht durch die dicke Wolkendecke gekämpft und die Luft schmeckte nach Abgasen und Regen.
Entschieden, dass Jules mein momentaner Anthony-Ersatz sein musste, lehnte ich mich neben ihn gegen das bronzene Gehäuse der Kapsel.

„Es ist nicht gerade schön hier", stellte Jules nach einem Moment des Schweigens fest. Seine grünen Augen huschten über die unzähligen qualmenden Schornsteine, die Fachwerkhäuser und metallenen Gerüste. Große Hallen mit Glasfassaden reihten sich an Mehrfamilienhäuser aus rotem Stein. Brücken und Spitzdächer, Außensäulen und Bögen vereinigten die Erscheinung der Stadt zu einem unübersichtlichen Gewusel.

„Ästhetik steht hier deutlich hinter praktischer Anwendung." Ich starrte in dieselbe Richtung. „Diese Welt war der Traum meiner Mutter", sagte ich halblaut zu mir selbst. Es war die Hoffnung, dass die ausgesprochenen Worte vielleicht den grauen Schleier über der Stadt heben könnten. Doch Fehlanzeige. Jules hatte recht. Diese Welt war hässlich.

„Deine Mom wollte nach Pria?", fragte Jules ungläubig nach, genauso blind gegenüber den Vorzügen, die so eine Reise mit sich bringen sollte. Von hier außen mochte die Metropole friedlich genug wirken, doch ich fürchtete mich vor dem, was uns drinnen erwarten mochte. „Warum?"

„Pria wurde entdeckt, kurz nachdem mein Vater uns verließ", erwiderte ich mit einem Schulterzucken, das wie ein Schutzschild gegen meine eigenen Gefühle wirkte. Und mit ‚verließ' meinte ich, dass er an amyotrophe Lateralsklerose gestorben war. Ich hatte nicht einmal Bilder von ihm daheim, weil meine Mutter der Vorstellung verfallen war, in Pria die Reinkarnation ihres Mannes zu finden und mich nicht mit Äußerlichkeiten verwirren wollte. Als wäre alles andere in ihrem Leben so einfach gewesen. Doch diesen Gedanken ersparte ich Jules.

Das donnernde Geräusch eines riesigen Rotors erübrigte sowieso jede Antwort. Es gehörte zu einer Kuppel aus braunem Stoff, die sich gerade zwischen den Dächern der Stadt erhob und nur wenige Augenblicke später die Form eines Zeppelins annahm.

„Schon mal von der Hindenburg gelesen?", fragte Jules mit einem bewundernden Unterton. Behände sprang er von seinem Rohr herunter und lief einige Schritte, um das Luftschiff besser im Blick behalten zu können, „Ich wollte immer mal mit so einem Ding fliegen."

Bei namentlicher Nennung der Hindenburg konnte ich auf so ein Erlebnis getrost verzichten. Meine letzte Reise lag mir quer im Magen und wenn ich den Kopf nur weit genug in den Nacken legte, spielte ich ein gefährliches Spiel um die dritte Wiederholung des Pizza-Songs. Keine Hindenburg für mich. Jemals.
„Nur das Militär und die Superlative der Wohlhabenden können sich hier so eine Reise leisten."

„Hat Pria bereits die Eisenbahn?", fragte Jules, von einem abrupten Bewegungsdrang gepackt. Mit aufgerissenen Augen sprang er von einem Bein auf das andere, bemüht dem Luftschiff noch einige Augenblicke länger hinterher sehen zu können, ehe es hinter den Nadelwäldern verschwand.

Mein Blick wanderte vielsagend zu den Gleisen im Osten, die sich am Horizont zu einer Brücke über die Berge erhoben. Pria war technisch gesehen deutlich näher an der Modernen dran als andere Welten. Sie hatten nur eine unterschiedliche Vorgehensweise, um dasselbe Resultat zu erzielen.

Der jugendliche Mechaniker wurde noch unruhiger. In großen Schritten sprang er auf und ab, unfähig seine Neugierde auf diesen Ort in seinem Körper zu halten. Immer wieder warf er dem Stadteingang hoffnungsvolle Blicke zu, als würden Forges und Bram schneller zurückkehren, wenn er sie nur mit stummen Gedanken anspornte.
„Was wäre, wenn wir ihnen entgegenlaufen?", schlug er schlussendlich vor.

Und gleich den ersten Befehl ignorieren, den ich jemals bekommen hatte? Ich zog die Nase kraus. Forges war ziemlich eindeutig mit seinen Anweisungen gewesen. Das spontane Auftauchen eines Flugschiffes würde sicher nichts daran ändern. Meines Wissens nach.

Doch Jules war niemand, der so einfach aufgab.
„Was soll uns schon passieren? Du kennst dich hier aus und ich", er machte ein verschwörerisches Gesicht und zog sein Hemd ein Stückchen hoch, „Habe von der Garderobe diese Schönheit mitbekommen."
Der hölzerne Griff einer veralteten Pistole, schimmerte matt im diffusen Licht der nicht vorhandenen Sonne. Ein Duellier-Modell. So zielsicher wie Kirschkerne spucken.

Ich seufzte und ließ die Schultern fallen. Wenn ich ehrlich zu mir selbst war, wollte ich Jules nicht stoppen. Sein Elan hatte eine seltsame heilende Wirkung auf meine Seele, die zuletzt nur noch die Gesellschaft einer Hauspflanze gewohnt gewesen war. Wäre es wirklich so schlimm, ein wenig durch die Straßen zu stromern? Schließlich waren es noch vier Tage, bis alles in die Luft gehen würde...
„Fein", gab ich mich geschlagen und warf die Hände in die Luft, „Aber bei dem kleinsten Anzeichen von Barrikadenbau und wütenden Mobs, ziehen wir uns sofort wieder hierher zurück."

„Heiliges Pfadfinderehrenwort!" Er hob seine flache Hand an die Schutzbrille. Und ich war mir zwei Dingen spontan sehr sicher: Erstens, er war niemals bei irgendwelchen Pfadfindern gewesen und zweitens, ich würde diese Entscheidung ebenfalls schrecklich bereuen. Momentan hatte ich einen Lauf.

Das Licht der Glühwürmchen verschob sich und offenbarte einen anderen Pfad des Schicksals, den wir nun mehr oder weniger neugierig entlang trabten.

Im Pflaster unter dem Eingangstor war eine Druckplatte versteckt, die mit einem leisen Zischen nachgab, wenn man sie überquerte. Ein in der Mauer verborgener Mechanismus löste ein unheilvolles Ticken aus, das am Ende jedoch keine weitere Konsequenz hatte als ein kleiner grüner Stein, der aus einer Röhre in eine Schüssel fiel.
Gebannt starrte Jules durch die Sicherheitsscheibe, bis er beinahe einen Abdruck mit seiner Nase hinterließ. Für jeden Besucher ein Quader.

Ich ließ ihn gewähren. Sie zählten die Bevölkerung, um im Falle eines Aufstands zu wissen, wie viel Unterstützung sie schicken mussten. Doch leider wusste ich auch, dass die Edelsteine während den Aufständen zuerst gestohlen werden würden.

Die hoch aufragenden Gebäude, die den engen Straßen jedes Licht nahmen, erweckten in mir eine ganz fremde Art an Hochachtung. Jede Fassade war aufwendig verziert durch Spitzbögen und Vorsprüngen, Erkern und Verstrebungen. Darunter eilten die unterschiedlichsten Leute hin und her, die einen ständig summenden Geräuschpegel schufen. Männer mit vergoldeten Bärten, Frauen mit Pfeifen und mechanischen Beinen. Sie alle trugen Brillen oder Hüte und mir wurde empfindlich bewusst, dass ich meinen Eigenen bei der Frühstückswiederholung liegen gelassen hatte. Unschicklich, grenzend an vulgär.

Ein beißender Geruch tropfte wie grüne Wolken zwischen den Dächern herunter und ließ mich husten.
Jules warf mir einen besorgten Blick zu. „Wie giftig ist das Zeug?"

Ich zog es vor, ihm darauf keine Antwort zu geben. Die verlorene Kindergasmaske mitten auf dem Fußweg tat das für mich. Viele Geschäfte waren mit Brettern verrammelt worden. Niemand spazierte zwischen den Läden entlang oder unterhielt sich mit Nachbarn und Bekannten. Sie alle hasteten, bedacht, möglichst schnell in die Sicherheit ihres Heims zurückzukommen. Elektrisch. Im Land der Dampfmaschinen.

Ein Polizist in schwarzer Uniform und Helm kontrollierte an der Straßenecke Passanten. Die Menschen warfen ihm flüchtige Blicke zu. Doch nicht unähnlich unserer eigenen Welt, kümmerte sich jeder lieber um seine eigenen Probleme, als mit den Männern des Gesetzes in Konflikt zu kommen.
Ich griff Jules am Arm und drängte ihn diskret zu der anderen Straßenseite.
„Das ist die Art von Aufmerksamkeit, die wir vermeiden wollen", wisperte ich in sein Ohr, bedacht darauf keinen Blickkontakt herzustellen. Es galt Ausweispflicht in Pria, aber unser Aufbruch war zu spontan gewesen, um solche Dokumente für uns herzustellen.

Ich täuschte Interesse an der Auslage eines Schuhladens vor, der allerlei technisch modifizierte Ware ausgestellt hatte und versuchte mich möglichst unauffällig an dem Mann vorbei zu schieben. Wenn ich den Kopf hob, sah ich die hoch gelegenen Andockstellen der Luftschiffe bereits. Sie lagen hinter einem Hang, doch die Überdachungen ragten weit in die regendicken Wolken hinaus.

Meine Aufmerksamkeit kehrte zu dem Polizisten zurück, wie er gerade einem grimmig wirkenden Arbeiter ein Stück Papier zurückgab und sich nach seinen nächsten Opfern umsah. In seinem Rücken, im ersten Moment vor unseren Augen verborgen, lauerte Verstärkung auf sein Kommando, verdeckt durch ein schmuddeliges Glasdach vor einem Shop-Eingang.

Ich griff Jules bei der Hand, der viel zu interessiert die Menschen und ihre mechanischen Verbesserungen anstarrte und zog ihn hinter mir her auf eine eher dunkle Seitengasse zu. Der Schlick der Straße ruinierten meine antiken Schuhe und hinterließen widerliche Flecken auf seinen weißen Turnschuhen. Pfützen sammelten das Wasser eines vergangenen Regens in allen schillernden Facetten der grünen Wolken. Einige dampften sogar.

„Miss, Mister. Ihre Ausweise bitte."

Ich gefror jäh in meiner Bewegung, was dazu führte, dass Jules mit einem dumpfen Stöhnen direkt auf mich drauf lief. Meine Brust zog sich mehr als die Korsage zusammen, was nach außen glücklicherweise nicht sichtbar war. Shit. Shit, shit, SHIT.
Der Polizist war in meiner Ablenkung unbemerkt zwischen mich und mein Ziel gerutscht und verbarrikadierte den Weg in die Freiheit mit seinem schwarzen Helm und der breitschultrigen Uniform. Ein schneller Check zeigte einen Schlagstock im Gürtel, aber auch zwei Pistolen an der linken Hüfte. Stark bewaffnet, selbst für diese Zeit. Sie erwarteten also bereits einen Aufstand.
Mein Blick sprang zu der nächsten Häuserecke, einem Wagen, von dem gerade ein junger Mann Kohle herunter schaufelte und weiter zu Jules, der allenfalls ahnungslos zurück guckte. Ruhig bleiben. Einfach nur ruhig-...

Mit einem Ruck, der weder natürlich noch elegant war, richtete ich mich auf und strich meine Bluse glatt, ehe ich mich dem Wachmann zuwandte. Dieser musterte aus zusammengekniffenen Augen unseren Aufzug. Eindeutig. Die Kostüme stimmten nicht. Und dann fehlte auch noch mein Hut...
„Darf ich wissen auf welcher Basis Sie das fordern?", fragte ich in meinem höflichsten blasierten Tonfall, der mir auf die Schnelle einfiel. Zumindest hatte ich das gehofft. Stattdessen klang ich genauso piepsig und panisch, wie ich mich fühlte. Aber nicht jede Stadt hatte Ausweispflicht in Pria. Und wir kamen ganz eindeutig von außerhalb.

„Standartkontrolle", schnarrte der Polizist zurück, eine Hand bereits aus seinem Gürtel, „Wenn Sie keine Papiere vorzeigen, muss ich Sie beide leider in Gewahrsam nehmen." Fordernd streckte er die andere Hand aus, als könne er sich überhaupt nicht vorstellen, dass jemand keine Papiere bei sich trug.
Im Hintergrund richteten sich die zwei lümmelnden Helfer auf, wie Hunde, die Ärger rochen.
Sogar der schaufelnde Arbeiter hob den Kopf, als spüre er die Veränderung in der Luft.

„Ich... wir..." Mein Kopf war wie leergefegt. Meine Hände hielten die losen Enden einer passablen Lüge, doch ich konnte sie nicht verknüpfen. „In Casei herrschen keine derartigen Kontrollen. Wir haben hier nicht damit gerechnet."

Die Brauen des Beamten verdichteten sich und seine Männer schoben sich langsam aus dem Schatten der Häuser auf uns zu. „Hier ist es die Pflicht eines Bürgers, sich zu jeder Zeit ausweisen zu können", informierte er uns, die Lippen schmal vor Wertung, „Das hier ist kein Urlaubsziel, Miss. Ich werde Sie also trotzdem mitnehmen müssen."

Ich schluckte. Wie lange würde es wohl dauern, bis Forges uns in den lokalen Gefängnissen suchte? Einen Tag? Zwei?
Es hing vermutlich ganz davon ab, wie gut er seinen jungen Schützling kannte. Jules rutschte unauffällig an mich heran. Er hatte sein Hemd wieder hochgezogen und spielte mit dem Griff der Waffe. „Ich lenke ihn ab, du rennst", schlug er in heroischem Flüsterton vor.

Ich starrte ihn aus stumpfen Augen an. Wie bitte? Ich würde nicht in einem Rock über Kopfsteinpflaster rennen. Oder Jules zurücklassen. Ich war Historikern, kein James Bond Girl und ich wollte ganz bestimmt nicht wie Eines enden.
Meine Hände schwitzten trotz der herbstlichen Luft. Ich hätte auf Forges hören sollen. Oder niemals mein Apartment verlassen. Alles außerhalb meines Sofas war unberechenbar und gefäh-...

Ein Kohlestück traf den Polizisten am Helm. Der dumpfe Laut wie ein Paukenschlag in meiner Panik.

Ich zuckte zurück, als der schwarze Brocken mir vor die Füße fiel und einen rußigen Fleck auf den nassen Steinen hinterließ.
Auch der Polizist starrte das Ding an, als müsse er gedanklich noch einmal den Wetterbericht nachprüfen. Dann traf ihn ein zweites Kohlestück am Kopf.

Irgendwo im Hintergrund schrie eine Passantin hysterisch auf und riss mich aus meiner Starre. Ich sah den jungen Mann auf seinem Wagen, bevor der Polizist reagieren konnte. Schwarzer Ruß bedeckte seine Handflächen.
Jules packte meine Hand und rannte los.

Dicht gefolgt von einem leicht desorientierten Wachmann.

„Steigt ein!"
Der Mann mit den kurzgeschorenen Haaren sprang von der Ladefläche eines Oldtimers und schwang sich in die Fahrerkabine. Dabei verlor er fast seine eigene Schutzbrille, die ihm rücklings über den Kopf schlitterte.

Jules fischte sie im letzten Moment vom Boden, ehe er mich Kopf voraus auf die Rückbank warf. Ich stieß mir empfindlich die Nase, konnte jedoch nichts dagegen tun, weil meine Korsage mich steifer als ein Bügelbrett machte. Wie ein Fisch auf Land versuchte ich, mich zu wenden, und rutschte stattdessen in den Fußboden des Gefährts. Großartig!

Jules griff von der Ladefläche weitere Kohlestücke und feuerte sie mit einem fröhlichen Jauchzen auf den Wachmann, während der Fremde mehrere Schalter und Pumpen bediente, um den Wagen fahrtüchtig zu machen.
Mit einem lauten Knall startete der Motor und schüttelte mich gründlich durch, noch ehe das Gaspedal neben meiner Nase zu Boden gedrückt wurde und wir uns hopsend unseren Weg die Pflastersteine entlang suchten.

Ich wurde nach links geworfen und nach rechts, verknotete mich mit meinen eigenen Armen und stieß mir den Kopf unter dem Fahrersitz. Das hier war entwürdigend. Aber irgendwie nichts Neues.
Ich hörte kaum etwas anderes als Jules freudiges Heulen über dem lauten Schnarren mehrerer Pumpen und ratternder Räder. Das passierte mit Leuten, die sich nicht an Absprachen hielten. Sie wurden unter den Fahrersitz geworfen und mussten auf Rettung warten.

„Alles in Ordnung da unten?", unser Fahrer brüllte mich förmlich über den Lärm seiner Maschine an, doch ich konnte die Belustigung trotzdem in seiner Stimme hören. Machte er sowas etwa öfters? Der Gedanke hatte seine eigene grausige Wirkung auf mich.

„Achtung, Männer mit Helmen links!", rief Jules aus dem Hintergrund und ich wurde nach rechts geschleudert. Die Korsage stach in meinen Magen und entlockte mir ein gedämpftes Ächzen. Wie hoch waren die Chancen, dass uns dieser Fremde zu den Luftschiffdocks fahren würde, anstatt in den sicheren Tod?
„Mir geht's prima, vielen Dank!", presste ich zwischen zwei ungedämpften Sprüngen des Wagens hervor und wurde wie zur Antwort wieder gegen die Autowand geworfen.

„Oh Shit, sorry Queenie!" Jules Füße kamen in mein Sichtfeld, als er zurück auf die Rückbank kletterte. Mit beiden Armen griff er um meine Taille und zog, weshalb ich mir erst neuerlich den Kopf stieß und dann plötzlich im Freien hing. War das ein guter Grund den Stecker zu ziehen? Nahtoderfahrung?
Als Erstes stieg mir der fiese Gestank des Motors in die Nase, ehe meine Welt spontan wieder Kopf gestellt wurde und ich auf einem Sitzpolster neben Jules saß.
Dieser warf meiner Frisur einen mitleidigen Blick zu.

Sicher. Das war auch meine größte Sorge. Mit einer wegwischenden Bewegung wandte ich mich an unseren unverhofften Retter, bzw. potentiellen Entführer, der in einem beinahe schon angemessenen Tempo durch die engen Gassen preschte.
„Wohin bringen Sie uns?"

Ohne Vorwarnung riss er das Lenkrad herum und bog in eine Seitengasse ab, die fast nicht breit genug für das Gefährt war. Sollte sich auch nur ein Fußgänger auf diesen Straßen bewegen... ich wollte den Gedanken nicht zu Ende denken. Diese Welt kannte ohnehin keine Gesetze zur Fahrerflucht.

„Runter, in die Hallen!", brüllte er über seine Schulter und beinahe direkt in mein Gesicht, während ich mich an seiner Kopfstütze festhielt. Als er meine Nähe bemerkte, begann er zu lachen und drückte noch einmal aufs Gas.

„Haben Sie überhaupt eine Lizenz, um eines dieser Gefährte zu bedienen?" Haltlos rutschte ich gegen Jules, dessen Grinsen weiter leuchtete als die Klingelschilder in unserer Welt. Entweder er kannte überhaupt keine Angst und Verzweiflung, oder er war vollkommen übergeschnappt.

„Ich würde es ja behaupten, aber das hier ist noch nicht einmal mein Wagen!", bestätigte der Fremde meine größten Sorgen und ich sank hinter ihm zurück in die Polster. Airbag und Anschnallgurte waren wohl zu viel verlangt. Und von was für ‚Hallen' hatte er da gerade geredet? Ich vermutete, dass sie zweckentfremdete Lagerhallen waren. Meine Sorge bezog sich eher auf ‚zweckentfremdet wofür'.

Unser Retter gab uns darauf auch keine Antwort, sondern setzte seine Flucht mit einem fröhlichen Pfeifen fort, das so schräg war, dass ich heimlich hoffte der Motor würde lauter werden. So dankbar ich ihm auch war, ich musste den Kerl wieder loswerden. Unsere Anwesenheit sollte im Idealfall allein von Bürgermeister Ives bemerkt werden, um möglichst keinen Fußabdruck in dieser Welt zu hinterlassen. Und Miss Cane hätte sicherlich keinen Grund gehabt, vor der Polizei in einem gestohlenen Fahrzeug zu fliehen.

Der Mann hielt genau da, wo er es versprochen hatte. In einem kleinen Hinterhof, den wir durch ein aufgebrochenes Tor in einem Zaun erreichten, parken wir unser Fluchtfahrzeug und fanden uns an der Stirnseite einer riesigen Maschinenhalle wieder.

Etwas beklommen sahen Jules und ich dem Fremden zu, wie er eine überdimensionale Plane über (nicht-)sein Auto warf und sie mit herumliegendem Schrott fixierte.
„Lust mir zu erzählen, warum ihr dem guten Wachmann Ärger gemacht habt?", fragte er so beiläufig nach, dass ich es beinahe nicht mitbekommen hätte.

Ich schätzte den Kerl auf Ende Zwanzig. Seine freien Oberarme waren von Kohle verschmiert und seine groben Stiefel wiesen kinderfaust-große Löcher auf. Wer auch immer er war- zu dem städtischen Adel gehörte er nicht.

„Wir hatten keine Papiere dabei", erklärte Jules bereitwillig, als ich keine Anstalten machte aus unseren Beobachtungen zu erwachen. Er hatte seine Hände tief in die Hosentaschen gestopft und kickte einen kleinen Stein vor sich her. Probleme. Er sah nach Problemen aus. Doch leider wollte mir mein Bauchgefühl nicht mehr über den Glühwürmchen-erleuchteten Weg vor meinen Füßen sagen.

Der Fremde hob überrascht den Kopf. „Oh, das klingt ja überhaupt nicht zwielichtig." Sein Misstrauen war zweifellos geweckt, doch er trug es mit Humor. Aus seiner Tasche kramte er eine Packung Streichhölzer hervor und steckte sich eines zwischen die Lippen.

Jetzt war es an Jules aus großen Augen zu starren. Der Typ sah so verboten lässig aus, wie er mit hochgekrempelten Ärmeln gegen sein Auto lehnte, dass er genauso gut aus einer Zigarettenwerbung gekommen sein könnte. Nur, dass in Pria schon lange niemand mehr das Geld für Tabak hatte.
„Wir sind hier, um uns in das Haus des Bürgermeisters zu schleichen und ihn zu stürzen!", fielen die Worte aus dem Mund des Jungen, sodass ich neben ihm gehörig zusammenzuckte.

Was TAT er da? Wir kannten diesen Mann nicht! Was wenn er umdrehen und uns doch der Polizei ausliefern würde? Was wenn-...? Irgendwo fiel das Schicksal lachend von einem Stuhl, da war ich mir sicher.

Jules kam ein ähnlicher Gedanke und er lief kreidebleich an. Unbewusst tat er einen Schritt zurück, als wolle er sich hinter mir verstecken, doch ich sah mich überhaupt nicht in der Lage, das Gespräch von diesem Punkt aus noch weiter zu führen. Wir wollen den Bürgermeister stürzen. Bullshit!

Der Fremde kratzte sich am Kopf und wechselte mit seinem Streichholz den Mundwinkel.
„Ist ja interessant. Und warum sollten zwei Landeier wie ihr das wollen?" Er warf erst Jules und dann meinem Aufzug einen vielsagenden Blick zu. Urteilte da jemand etwa über Äußerlichkeiten?

„Weil wir...", Jules war nicht in der Lage, den Mund zu halten. Er war wie hypnotisiert von dem Mann.
„Weil wir die Ungerechtigkeit des Regimes nicht ertragen?"

Ich hätte an dieser Stelle gerne mit den Augen gerollt. Glaubhaft war etwas anderes. Wir mussten hier weg, und zwar schleunigst. Forges konnte jeden Moment zur Zeitkapsel zurückkehren und wenn er sie erst verlassen vorfand, ließ sich nicht absehen, was er als Nächstes tun würde.

Ein trockenes Lachen erhellte das Gesicht des Mannes, ehe er es wegdrehte.
„Bitte. Die Stadt ist voll eigennütziger Lügner und ihr seid nicht einmal darin gut."

Für einen langen Herzschlag starrte ich einfach nur in seine erstaunlich blauen Augen. Sie hatten so eine Leuchtkraft, dass sie sich unverhofft fragte, warum sie mir nicht früher aufgefallen waren.
Ihm zu vertrauen wäre dumm. Es könnte alles eine Falle sein. Einer dieser Butterfly-Momente, der noch viele weitere Momente definieren würde. Und ich war mir nicht sicher, ob ich den eingeschlagenen Weg mochte. Aber eine kleine Stimme in meinem Kopf sprach dafür. Es war nur eine Ahnung, eine Art Erinnerung.
Dann traf ich eine Entscheidung. Wozu war ich hier, wenn nicht um ein bisschen historisches Wissen zu nutzen?
„Der Bürgermeister plant, sich in den Landesrat wählen zu lassen. Diese Art von Macht würde auch für die Bevölkerung auf dem Land Armut bedeuten."

Der junge Mann stutzte. Für einen kurzen Moment brach der Bann seiner Anziehung und er fixierte die Kraft seiner Aufmerksamkeit allein auf mich, als versuche er, in meinem Gesicht zu lesen, ob ich die Wahrheit sprach.

Was ich rein technisch auch tat. Ich erwiderte seinen Blick, ohne zu blinzeln. Es war einer der tief vergrabenen historischen Fakten, die langsam zu mir zurückgekehrt waren, seitdem ich den Namen Ives gehört hatte. Nach seinem Tod würde ein Mann namens Silver die Stelle antreten, ein Bürgerlicher aus den Inselstädten der dort heimlich einen Schmuggelring organisierte.

„Ich glaube, in dem Fall sollten wir rein gehen und mit Leuten sprechen, die euch glaubwürdige Kleidung besorgen können", schlug unser Fluchtwagenfahrer nach einer kurzen Pause vor und stieß sich mit einem Bein von der Motorhaube ab. Das hieß wohl, er glaubte mir?

Ich setzte alles daran, nicht erleichtert aufzuatmen. Das hier lief vielleicht nicht nach Plan, aber unter Umständen konnte es uns trotzdem nutzen. Ich tauschte mit Jules einen flüchtigen Blick und erntete ein begeistertes Augenbrauenwackeln.
Der Junge war unverbesserlich und erneuerte seinen Tatendrang schneller als der Hund meiner Nachbarin.
„Wem dürfen wir eigentlich für die Rettung vor dem Gesetz danken?", wandte er sich an den Mann, der bereits auf eine rotlackierte Feuertür zuhielt.

Unter lautem Quietschen und viel Körpereinsatz schob er sie auf und warf uns ein breites Grinsen über die Schulter zu. „Mein Name ist Nathaniel. Nathaniel Cub."

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"Voted und ich finde den Schmetterling, der diese Katastrophe zu verantworten hat!"- Queenie

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