Kapitel 11: In der Wüste

Eliza war nicht überrascht, dass jemand am frühen Abend an ihrer Hoteltür klopfte. Während der Dreharbeiten war es schon häufiger vorgekommen, dass Nick ihr auf diese Weise Nachrichten zukommen ließ. Einmal hatte er zum Beispiel den Dialog einer Szene, die am Folgetag gedreht werden sollte, kurzfristig abgeändert, und ein anderes Mal hatte es aufgrund eines drohenden Sandsturms, der Außendrehs am Folgetag unmöglich machte, Verschiebungen im Drehplan gegeben. Deshalb rechnete Eliza damit, dass es wieder eine kleinere Änderung geben würde, als sie die Tür öffnete.

Womit sie nicht rechnete, war, dass Charlie Gilbert in seiner ganzen Pracht vor ihr stehen würde. „Hallo, Eliza. Ich glaube, wir müssten mal miteinander reden und ein paar Dinge klären, wenn wir weiter miteinander arbeiten wollen. Was hältst du davon, wenn wir eine kleine Spritztour durch die Wüste machen?"

Er sah wirklich unverschämt gut aus, so wie er sich vollkommen locker an den Türrahmen lehnte und sie mit seinen Augen fixierte, die so elektrisierend-blau waren, dass man (oder doch eher frau) sich darin verlieren konnte. Hinzukam, dass sich die Konturen seines perfekt geformten Körpers durch sein Filmkostüm vom heutigen Dreh, das er noch nicht ausgezogen hatte, so deutlich abzeichneten, dass er ihr seine Männlichkeit quasi auf dem Servierteller präsentierte. Wenn man Charlie in eine knallenge Jeans steckte und in ein einfaches Hemd, dessen obere Knöpfe man bis zum Brustansatz locker offen ließ, musste er nicht viel sagen oder tun, um eine Frau zu becircen. Eliza wusste, dass sich Charlie seiner Wirkung auf Frauen sehr wohl bewusst war, und fragte sich, warum er in diesem Aufzug ausgerechnet an ihrer Tür geklopft hatte.

„Kannst Du mir einen vernünftigen Grund nennen, warum ich das tun sollte? Etwa damit du mich verführen oder irgendwo in der Wüste zurücklassen kannst, falls wir uns wieder streiten?", fragte Eliza. In einer Stunde würde es draußen nämlich dunkel sein, und deshalb verstand sie nicht, wieso er ausgerechnet jetzt in ihrem Hotelzimmer auftauchte und mit ihr weggehen wollte. Sicher konnten sie das, was er mit ihr diskutieren wollte, noch morgen besprechen und zwar bevorzugt in Nicks Gegenwart.

„So sehr mir der Gedanke, dich irgendwo da draußen auszusetzen und dich dir selbst zu überlassen, in den Momenten gefallen mag, in denen wir uns miteinander streiten, so bitte ich dich jetzt einfach, mir zu vertrauen. Es ist mir schon klar, dass ich dieses Vertrauen in deinen Augen nicht verdiene, und ich kann dir das nicht einmal übelnehmen...", begann er.

„Charlie, was willst du von mir?", unterbrach Eliza ihn plötzlich. Sie hatte eigentlich geplant, sich einen gemütlichen Abend in ihrem Hotelzimmer zu machen. Aber wenn er eine bessere Idee hatte, sollten sie sich besser früher denn später auf den Weg machen.

„Ich möchte, dass wir einfach ein wenig hier in der Gegend herumfahren und miteinander reden. Wann immer ich ein Problem habe, steige ich normalerweise ins Auto und mache das. Es hilft mir dabei, genauer über etwas nachzudenken, und das Problem von einem anderen Blickwinkel aus zu betrachten", erklärte er und schaute sie mit seinen großen, blauen Augen an, denen sie kaum widerstehen konnte.

Eliza war klar, dass es gefährlich war, mit ihm wegzufahren. Ihr Verstand sagte ihr, dass es ein Riesenfehler war, sich ihm auf diese Weise auszuliefern. Vielleicht würde er sie wirklich in der Wüste zurücklassen oder ihr Gewalt antun, wenn niemand in ihrer Nähe war, weil sie eben bei den Dreharbeiten dieses blöde Glas nach ihm geworfen hatte. Doch sie vernahm auch eine weitere innere Stimme, vermutlich die ihres Herzens, die ihr sagte, dass er wirklich gekommen war, um Frieden mit ihr zu schließen. Denn grundsätzlich war Charlie kein schlechter Kerl - und er sah noch dazu verdammt gut aus. „Okay. Gibt mir eine Minute", sagte sie deshalb.

Wie sich herausstellte, hatte er einen der Jeeps, welche die Produktion gemietet hatte, ausgeliehen. Damit fuhr er mit ihr schnurstracks in das Wüstengebiet in der Nähe von Fort Bull. Sie fuhren dabei durch Landstriche, in denen es keine gepflasterten Straßen gab, sondern nur Pfade, welche die ortsansässigen Bauern und Cowboys benutzten. Obwohl Eliza zu ihrer Verwunderung feststellte, dass Charlie anders als so viele männliche Schauspieler nicht einmal versuchte, sie mit einem rasanten Fahrstil zu beeindrucken, sondern im Gegenteil ein sehr umsichtiger, guter Fahrer war, bestand die Gefahr, dass er sich in dieser Gegend einen platten Reifen holte oder irgendwo steckenblieb.     

„Können wir bald anhalten und zurückfahren? Hier findet uns doch kein Mensch, wenn es ein Problem mit dem Jeep gibt. Und ich will hier draußen nicht die Nacht verbringen!", beschwerte sich Eliza. 

„Denkst du etwa, ich will hier draußen stranden? Ich habe unserem Produktionsassistenten Matt gesagt, wo ich hinfahren werde, als ich mir den Jeep geliehen habe, und mit ihm vereinbart, dass er alle alarmieren wird, wenn wir um Mitternacht nicht zurück sind", versicherte Charlie, hielt jedoch den Wagen an. Um sie auf andere Gedanken zu bringen, wechselte er das Thema. „Aber, hey, die Aussicht auf den Sonnenuntergang ist doch einfach fantastisch!"

Das war wirklich so: Vor ihnen versank die Sonne am Horizont, wobei sie ganz nah und doch fern zu sein schien. Noch nie zuvor hatte Eliza erlebt, dass die Sonne diese fast schon majestätische Größe angenommen hatte und den Himmel dominierte, obgleich die Grenze zwischen Himmel und Erde in diesem Moment fließend war.

Die Atmosphäre stimmte Charlie nachdenklich. „Weißt du, Eliza, du hältst mich wahrscheinlich nicht für einen Philosophen oder überhaupt für tiefgründig, aber das stimmt nicht ganz. Wenn ich mich verloren fühle oder mich über etwas aufrege, dann fahre ich raus in die Natur. Kleine Dinge wie der Sonnenuntergang, den wir gerade erleben, zeigen mir auf, wie wertvoll und vergänglich wir selbst sind. Dasselbe gilt für alles, was uns umgibt. Gewissermaßen brauche ich die Schönheit der Natur, um in solchen Situationen zu mir selbst zu finden." Er war sich wohl der Tatsache bewusst, dass das, was er gerade in einem für seine Verhältnisse sehr verträumten, idealisierenden Ton gesagt hatte, wenig zu seinem Image passte, denn obwohl seine Stimme für sie deutlich vernehmbar war, blieb sie leise und verschwörerisch, so als ob er ihr gerade ein schmutziges Geheimnis erzählen würde.

„Aber du gibst schon zu, dass du mit deinem Verhalten einen Teil dazu beigetragen hast, dass viele Leute dich für einen oberflächlichen Playboy aus Hollywood halten, oder?", fragte Eliza, weil sie sich nicht sicher war, wie sie sonst auf seine Worte sowie sein Geständnis, das auch er seelische Tiefs erlebte, reagieren sollte.

„Wie du weißt, gibt es in Hollywood viele talentierte Leute. Irgendwie muss ich mich doch von der Masse abheben und im Gespräch bleiben!", verteidigte sich Charlie.

„Na ja, vielleicht hast du es ab und zu etwas zu bunt getrieben und Grenzen des guten Geschmacks überschritten."

Kaum dass sie das gesagt hatte, spürte sie, wie er nach ihrer linken Hand griff und sie fest drückte. „Was ich die ganze Zeit schon sagen möchte, ist einfach Entschuldigung. Ich entschuldige mich dafür, wie ich mich benommen habe!"

„Mir tut mein Benehmen auch leid."

„Die meiste Zeit weiß ich gar nicht, warum ich all diese gemeinen Dinge zu dir sage. Du brauchst nur in meine Nähe zu kommen, und schon verhalte ich mich wie ein Idiot!"

„Mir geht es genauso."

Als sich ihre Augen dieses Mal trafen, war es, als ob sie einander zum ersten Mal wirklich sahen. Zumindest sahen sie einander wortwörtlich mit anderen Augen. Sie hielt ihn für einen unverschämt schönen Mann, der viel zu schön für sie war und der unter der Playboy-Fassade, die er der Welt ständig präsentierte, sehr feinsinnig war und sein Herz am rechten Fleck trug.

Er dachte bei sich, dass er sich womöglich deshalb so zu ihr hingezogen fühlte, weil sie so völlig anders war als die Frauen, mit denen er sich bisher eingelassen hatte. Auch wenn er sich das ungern eingestand, hatte es ihn oft gestört, dass sie sich zu sehr an Hollywood angepasst hatten: Sie trugen für gewöhnlich zu kurze Kleider, zu viel Schminke und waren nicht selten sogar noch selbstbezogener als er selbst. Eliza dagegen war ganz sie selbst. Und während sie es hasste, wenn er den Filmstar und unverbesserlichen Playboy gab, schien sie ihn gerade jetzt in diesem Moment, in dem er inmitten der Wüste ganz einfach Charlie war, interessant zu finden.

Es war sowohl Charlie als auch Eliza klar, was als Nächstes passieren würde. „Hat dir jemand schon einmal gesagt, dass du schöne Augen hast?", fragte Charlie leise, während er sich langsam zu ihr hinüberlehnte. 

Sie konnte nicht anders, als ihn gebannt anzustarren, und brachte kein Wort heraus, sondern konnte nur nicken, wobei sie kurz an den New Yorker Bettler dachte und daran, dass sie nicht die gleiche privilegierte Kindheit wie Charlie gehabt hatte und sie aus unterschiedlichen Welten stammten. War es dennoch möglich, dass Charlie Gilbert wirklich an einer Beziehung mit ihr interessiert war? Oder wollte er einfach nur eine weitere Nacht mit ihr verbringen, ohne dass es jemand mitbekam?

Der Kuss, den er ihr gab, war großartig. Noch nie war sie so geküsst worden - oder wie Charlie es ausdrückte, als er kurz nach Luft schnappte: „Du hast auch tolle Lippen, die es verdienen, öfter geküsst zu werden."

Einige der Dinge, die dieser Mann mit seiner Zunge in ihrem Mund anstellen konnte, waren so verrückt und heiß zugleich, dass man sie eigentlich verbieten sollte - und er hatte offensichtlich seinen Spaß dabei, sie zu küssen. Möglicherweise, dachte Eliza bei sich, war es doch gar nicht so schlecht, Lippen zu haben, die aussahen wie die einer Ente. Denn diese Lippen wirkten offensichtlich so anziehend auf ihn, dass er eine ganze Weile nicht aufhören konnte, sie zu küssen.

Oder wollte er einfach nur mit ihr schlafen, weil er Arielle nicht haben konnte, und machte er ihr deshalb so unglaublich tolle Komplimente? Charlies Hände waren schon unter ihre Bluse gewandert und machten sich am Verschluss ihres Büstenhalters zu schaffen, als ihr dieser neue und für ihn wenig schmeichelhafte Gedanke kam. Und er war leider auch nicht so einfach von der Hand zu weisen: Während es für ihn anscheinend okay war, sie hier zu verführen, hatte er bestimmt nicht vor, ganz offiziell eine Beziehung mit ihr zu führen, oder? Er hätte mit ihr ja auch ins Restaurant des Hotels gehen können und das bewusst nicht gemacht. Deshalb beendete sie den langen Kuss und zog sich auf den Beifahrersitz zurück. „Nein, nicht hier", flüsterte sie und war wegen der Küsserei noch ganz außer Atem.

„Wieso nicht? Hier stört uns doch niemand."

„Ich bin nicht die Art von Frau, die mit dir schläft, bloß weil du mit ihr im Auto unterwegs bist und die Gelegenheit günstig ist."

„Nun ja, da wir gerade miteinander arbeiten, werde ich dich morgen und übermorgen auch sehen. Ich kann also kaum die Flucht ergreifen", entgegnete Charlie und näherte sich ihr wieder.

Aber sie zog ihren Kopf deshalb hastig noch mehr zurück und hätte ihn sich um ein Haar an der Autoscheibe angeschlagen. „Bitte nicht! So bin ich nicht!"

„Was stimmt nicht, Eliza? Habe ich etwas falsch gemacht?" Tatsächlich verstand Charlie nicht, warum sie sich plötzlich von ihm entfernte. Sie befanden sich an einem romantischen Fleckchen Erde, und es wäre ja nicht das erste Mal gewesen, dass sie miteinander geschlafen hätten.

„Ich möchte darüber nicht reden. Lass uns einfach bitte zurückfahren!", erwiderte sie und brachte es nicht fertig, ihn anzuschauen, weil ihre Gefühle total durcheinandergeraten waren.

„Okay. Ich werde dich zu nichts drängen, was du nicht willst", sagte Charlie und bemerkte, dass es sinnlos war, mit ihr zu diskutieren, wenn sie sich in so einem Zustand hineingesteigert hatte.

Deshalb fuhr er sie umgehend zurück nach Fort Bull, wobei sie sich während der gesamten Fahrt weigerte, auch nur einmal den Kopf in seine Richtung zu drehen und ihn anzuschauen. Sie saß zwar neben ihm, und doch hatte sie sich ganz weit von ihm entfernt. Obwohl er sich fragte, ob sie weinte, traute er sich nicht, sie anzusprechen. Die Stimmungen dieser Frau waren unberechenbar.

Als sie vor dem Hotel ausstieg, wirkte sie zumindest gefasst. Da die Schauspielerei ihr Beruf war, wollte das zwar nichts heißen, zumal ihre Haltung ihm gegenüber mehr als nur seltsam war: Sie behandelte ihn wie einen Fremden und nicht wie jemanden, den sie an diesem Abend innig geküsst hatte. Für ein paar Minuten hatte er gedacht, sie seien weiter und würden es schaffen, den Film in Frieden zu drehen. Wahrscheinlich war die Lage jetzt schlimmer als vorher.

Bis zu dem Moment, als er das Hotel betrat, dachte er, dass sein Abend nicht schlimmer werden könnte. Dann rief ihn O'Grady jedoch zu sich als die Rezeption: „Mister Gilbert, eine Dame hat für Sie angerufen. Sie sagte, ihr Name sei Veronica."

„Eine Damenbekanntschaft von dir?", fragte Eliza mit hochgezogener Augenbraue.

Dass sie ihm wegen seiner Frauengeschichten nicht ganz vertraute, war offensichtlich, wodurch Charlie endlich dämmerte, dass das auch der Grund für ihr Verhalten in der Wüste gewesen sein könnte. „Eher eine flüchtige Bekannte", sagte er deshalb vorsichtig.

„Die so nett war, sich um dich zu sorgen und hier angerufen hat. Ich verstehe", merkte Eliza an, obwohl sie den ironischen Ton in ihrer Stimme selbst nicht verstand. War sie jetzt eifersüchtig auf seine Flirts mit anderen Frauen, die er sich natürlich erlauben durfte, nachdem sie ihn abgewiesen hatte? Er war Charlie Gilbert und hatte einen schlechten Ruf zu verteidigen. Was erwartete sie da von ihm? Vielleicht war ein vollständiger Rückzug auf ihr Hotelzimmer in diesem Fall die beste Strategie, um darüber nachzudenken, was in den letzten Stunden passiert war und was sie tatsächlich für ihn empfand. „Du solltest sie zurückrufen. Gute Nacht!"

Sie hörte gar nicht mehr, dass er auch „Gute Nacht" zu ihr sagte, so schnell entfernte sie sich aus seiner Nähe. Sie rannte regelrecht vor ihm davon.

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