Der Feind hinter den Mauern
oder auch: ΟΙΚΟΣ
Eine spartanische Erzählung
Alexandros' Vater war schon sehr früh von der Familie weggegangen, hatte ihm seine Mutter erzählt. Alexandros, der hinter den Mauern eines kleinen Hauses wohnte, wusste gar nicht mehr, wie er aussah oder was ihn besonders machte. Fortan sollte ihm etwas in seinem Leben fehlen. Während andere Kinder mit ihren Vätern Hand in Hand durch die Straßen liefen, ihre Sorgen und Geschichten teilten, hatte Alexandros nur sich selbst, um über die Probleme zu sprechen, für die er einen Vater benötigt hätte. Andere Männer hätten ihm nichts genutzt, wären sie ja nicht mit ihm verbunden gewesen, nicht sein eigener, die Männer hätten einen eigenen Vater nicht ersetzen können. Die besondere Beziehung zwischen Vater und Sohn, die bei jedem unterschiedlich zu betrachten ist und sich ausprägt, fehlte in Alexandros' Leben gänzlich und er merkte unbewusst, wie er nur ein Teil seiner selbst wurde. Alexandros war alleine mit seiner Mutter gewesen und wuchs mit der Legende eines reisenden Odysseus auf, dem Krieger, der über Meere zog auf der Suche nach seinem zu Hause in Ithaka, und sein ganz eigener Held wurde. Vielleicht war es Odysseus gewesen, der mehr oder minder zum Vater des Alexandros wurde und somit seine Ideale so entscheidend prägte. Fakt ist jedoch, dass ihn sein Sohn jahrelang gesucht hatte und sich immer unvollständig fühlte, nicht zu wissen, wessen Kern er in sich trug. Alexandros war nicht vollkommen, ein Stück seiner Geschichte, der Geschichte seines Vaters, fehlte ihm. In einer Gesellschaft, die den Nachnamen vom Vater ableitet, war Alexandros ein Kind ohne Name geworden. Alexandros war nur noch ein Bruchstück, ein Ostrakon, auf denen andere Männer Kennzeichen hinterließen, um im Scherbengericht angebliche Tyrannen zu verbannen.
Niemand wusste, wo sein Vater hingegangen war, nachdem er die Mutter zurückgelassen hatte. Bis heute zeichnen tiefe Wunden ihren Körper und dennoch war Alexandros fasziniert von der Vorstellung, eines Tages seinen Ursprung zu finden. Die Imagination, die ihn zweifelsfrei sein ganzes Leben lang begleitete, versprach ihm ein glücklicheres Leben, wenn er die Antwort auf die Frage finden würde, wo, wer und wie sein Vater gewesen sei. Groß hatte er ihn sich vorgestellt, groß an Stolz und Stärke, ein tapferer Krieger, der für die Ideale seiner Familie einstand, der niemanden fürchtete und seinen Sohn für immer Rückendeckung geben sollte. Wie ein Fels in der Brandung hatte er ihn sich vorgestellt, wie das Schild, das Alexandros von hinten beschützte, während er mit Schwert in die kämpfenden Massen rannte. Zusammen wären sie unaufhaltbar gewesen, träumte Alexandros fast jede Nacht. Am Tage begleitete ihn immer etwas Unbehagen, wenn er seine Mutter ansah: Zwar liebte er sie abgöttisch, wie es sich für einen anständigen spartanischen Jungen gehörte, doch stets begleitete ihn ein gewisser Missmut, wenn er tief in ihre Augen blickte. Sie hätte sich nicht so verhalten sollen, dachte er und kam zur Überzeugung, dass es ihre Schuld gewesen sei, dass er nun alleine in einer Welt war, die von Männern dominiert wurde. Wie blickte Alexandros doch neidisch auf die Nichten seiner Mutter, denn sie hatte eine Schwester und zwei Kinder, die einen so treuen und ehrwürdigen Vater besaßen? Während die tapferen Krieger, mit denen er so sehr befreundet war, über die Leistungen ihrer Väter sprachen, stand Alexandros nur wortlos daneben, lächelte vielleicht ein zwei Mal, dachte an den Mann seiner Tante, doch versank stets in seinen Wünschen und Träumen einer besseren Vergangenheit. Auch im Gymnasion, dort, wo die mächtigen athletischen Krieger trainierten, hatte er es schwer: Während die anderen Kämpfer eine angemessene militärische Ausbildung erhielten, sie von ihren Vätern darin unterstützt wurden, wie sie die Waffe richtig trugen und sich in der Phalanx ordnungsgemäß zusammenstellten, damit sie bestmöglich eine uneinnehmbare Front symbolisierten, war Alexandros wieder auf sich und seine eigene Kreativität und Begabung gestellt, alle Hürden im Alleingang zu überwinden. Gemeinsam mit dem Vater in den Krieg zu ziehen, von dem niemand hoffte, dass er eines Tages wieder ausbrechen würde, war wohl sein größter Traum gewesen. Er hatte häufig den Wunsch gehabt, mit seinem Vater eine bessere Welt zu begründen, für etwas zu kämpfen, für das sie beide standen: für uneinnehmbare Werte, ihr Land und Boden vor böswilligen Eindringlingen zu beschützen. Wenn der Feind ins Innere kommt, dann ist es schon zu spät, wusste Alexandros. Und obwohl der spartanische Junge, der zeitlebens ohne Vater aufwuchs, viel schwierigere Kämpfe bestritt, gönnte ihm die Schicksalsgöttin Tyche einen angemessenen Lohn: Die Feldherren sahen ihn kämpfen und waren von seinem Engagement und Geschick derart beeindruckt, dass sie ihn an ihre Seite stellten und ohne ein Wort der Diskussion anderer Krieger zum Strategen über die, zwar recht kleine aber nicht zu verachtende, Marine erklärten. Unter jubelndem Beifall, die Krieger hatten selbst häufig mitbekommen, wie gut das Talent des Alexandros' gewesen war, nahm er die Verantwortung über dem Krieg zu Wasser an sich. Alexandros war stolz und dennoch, als er bei Speis und Trank seine Ernennung feierte, dachte er wieder an seinen Vater und an das Unglück, nicht zu wissen, welche Eigenschaften er mit ihm teilte. War sein Vater auch ein großer Krieger gewesen, würde er stolz auf ihn sein? Alexandros teilte nichts mit ihm, weil es nichts gab, was von seinem Vater übrig geblieben war. Alexandros war alleine.
So begab es sich aber nun, wie es das Schicksal häufig so will, dass sich im Verlauf der Jahre zwischen dem attisch-delischen Seebund, beherrscht von Athen, und den befreundeten Städten um Sparta, die Beziehungen rasant verschlechterten. Die Zeichen standen auf Aggression und Krieg und Alexandros überraschte es nicht, als sich die Führung Spartas dazu entschloss, gegen Athen zu ziehen. Zu groß sei der Machtanspruch der Poleis geworden, bereit, jeden kleinen Stadtstaat gewaltsam einzunehmen, wenn er sich ihnen nicht unterwarf. In diesem Augenblick war die Stunde gekommen, um für seine Werte zu stehen, um die Staaten, die sich nicht ihrem Vermögen, sondern dem Wohle aller verschrieben, zu beschützen. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, wo Alexandros so sehr einen Vater benötigt hätte, der ihm im Kampf gegen die unsäglichen Athener hätte helfen sollen. Mit ihm an seiner Seite, so Alexandros, würde er jede Schlacht ohne Zweifel begehen, jeden Kampf würde er auf sich nehmen, ohne darüber nachzudenken. Im Gedanken an seinen eigenen Vater himmelte er beinahe jedes Paar, das aus Vater und Sohn bestand, an und träumte von einer besseren Zukunft. Trotz aller Wünsche zog er so dann zu Wasser in den Krieg und vielleicht war es gerade eben jener Verlust gewesen, sein Vater, der ihn mit einem umso größeren Kampfeswillen begleitete. Alexandros zog auf, um nach den Sternen zu greifen: Er beschützte seine Welt vor der Einnahme eines fremden Athens, das sich nur um dem Vorteil seiner selbst sorgte, dem Profit, das es besitzen und ausgeben wollte, und segelte mit einer Mannschaft aus vielen hundert Männern dem übermächtigen Feind entgegen.
Es war somit auch nicht überraschend gewesen, dass schon nach den ersten Meilen, die sie dann mit ihrem guten und großen Schiff zurücklegten, auf ein Schiff der Athener trafen. Die Polis war dafür bekannt gewesen, die mächtigsten Schiffe aus ganz Griechenland besessen zu haben und die Führung in Sparta wusste, dass sie nicht über den Seeweg siegen konnten. Dennoch entschied man sich, vielleicht mehr aus Symbolik als aus Praxis, mit den Schiffen gegen die übermachte Seemacht zu ziehen. Alexandros, der das Ruder übernahm, befahl den Angriff und wie durch ein Wunder versank der Gegner vor ihren Augen in den Wellen des Poseidon schneller, als erwartet. Alexandros, der sich zwar inzwischen als siegreicher Kämpfer betitelte, insgeheim auch davon ausging, da er den Verlust seines Vaters durch den Krieg doch eher verdrängte, als aktiv darüber nachzudenken, war dennoch überrascht: er hatte mit seinen Männern, die eher zu Land als zur See kämpfen sollten, im Alleingang ein attisches Schiff bewältigt. War das das göttliche Schicksal, das sie segnete? War es, weil die Spartaner das Richtige taten und sich gegen ihren ärgsten Feind, der alles um sich herum einzunehmen und ausrauben versuchte, aufbegehrte? Die Herz führte Alexandros, als er unter tosendem Applaus befahl, weiterzufahren. Die wenigen Stimmen, es waren vielleicht ein Duzend gewesen, die ihm zur Rückkehr aufforderten, um den Sieg über die geschlagenen Athener zu überbringen, verhallten in der tosenden Masse. Alexandros war unaufhaltbar geworden und so zogen sie weiter Richtung Attika, umsegelten die Peloponnes Stück für Stück, und zerstörten Schiff um Schiff, alle, die sich Alexandros in den Weg stellten. Durch den Übermut gepackt, ließ Alexandros nach einer Wasserschlacht mit vielen blutenden Todesopfern das weiße Segel seines Schiffes hinunterholen, befahl, einen im Wasser treibenden Athener aufzunehmen und schrieb mit seinem Blut in riesigen Buchstaben ΑΛΕΞΑΝΔΡΟΣ, seinen Namen, auf das weiße Tuch, unter dem sie segelten. Nach Vollendung seiner Tat überließ er den verblutenden den Wellen und veranlasste erneut, die Segel zu spannen. Fortan sollten die Gegner sofort wissen, mit wem sie es zu tun haben sollten. Alexandros fühlte sich unbesiegbar, es war, als wäre die Lücke, die sich so tief in seinen Geist und sein Herz aufgetan hatte, endlich zugegangen wäre. Alexandros hatte etwas gefunden, dass ihm einen halt gab, seinen militärischen Erfolg, etwas, das ihm in den Irrungen seiner Zeit Rückhalt gab. Und so segelte das Schiff, sein Schicksal, durch die im Wasser treibenden Planken und Kisten, vorbei an der keuchenden und ächzenden attischen Besatzung. Die Rufe, die ihn warnten und nach Rache rüsteten, konnte er nicht wahrnehmen - zu laut waren der jubelnde Applaus, der ihm auch dieses Mal begegnete. Dennoch erhob sich wieder eine Stimme, diesmal nur eine einzige, Kassandra, meilenweit über das Wasser, die den jungen Reisenden zur Vernunft rufen wollte: » Halte ein, Alexandros, du steuerst auf Calypso zu! « Doch auch dieses Mal schenkte der unaufhaltbare Alexandros der Warnung keine Beachtung: Die blutroten Buchstaben seines Segels bestärkte ihn im Vorhaben, dem ausufernden Athen zurechtzuweisen. Endlich hatte Alexandros eine Aufgabe erhalten, etwas dass ihn gänzlich erfüllte. Er wollte der Vater werden, den er nie hatte, dachte er. Er wollte seinem Sohn von den Abenteuern des Peloponnesischen Krieges berichten. Er wollte der Held werden, der seinen Sohn im Lagertraining half, den die anderen Knaben bewunderten. Alexandros strebte nach einem Ideal, das er sich selbst inszenierte und gewünscht hatte. Und obwohl Alexandros sich doch inzwischen so sicher gewesen war, keinen Vater mehr zu brauchen, segelte er doch nur seinetwegen weiter, damit sein Name, Alexandros, derart verbreitet würde, dass sein Vater nicht umhinkam, von ihm zu hören. Seine Reise glich einem finalen Ruf zu seinem Vater: » Höre mich, Vater, und sei dir gewiss, was du aufgegeben hast. «
Kurz bevor sie die Halbinsel erreichten, Alexandros versicherte, schon den Hafen Piräus erblicken zu können, stellte sich abermals ein Schiff den Männern unter der Führung des Strategen Alexandros entgegen. Für wenige Minuten standen sich die beiden Kolosse, die aus Holz und Nägeln zusammengeschustert waren, aktionslos gegenüber. Alexandros erwartete einen Angriff, der, wie er und seine Mannschaft es gewöhnt waren, überholt und voreilig sie ereilen sollte. Doch das Schiff der Athener stand ihm regungslos gegenüber. In diesem Augenblick wusste Alexandros, dass seine altbewährte Taktik, die ihm bis hierhin viele Siege erbrachte, diesmal wohl nicht funktionieren würde. Verwundert und dennoch imposant schritt der junge Stratege zum Bug seines Schiffes. Der Stratege des anderen Schiffes tat es im gleich, auch er setzte sich in Bewegung und stellte sich dem jungen Alexandros gegenüber. Da erblickte er ihn. Alexandros sah einen kleinen, buckligen Mann mit grauem Bart, der ihm regungslos gegenüberstand. Alexandros, geblendet von seiner Erinnerung, ließ den greisen Mann so dann in sein Herz, schrie noch: » Petros! «, bevor das attische Schiff das der Spartaner rammte und letzteres imstande war, unterzugehen. » Was bist du nur für ein Schwächling « waren die letzten Worte seines Vaters, bevor das Schiff und die Mannschaft mitsamt Alexandros, unter den Augen eines schwachen Mannes für immer in den Wellen des Poseidon verstummten.
Und mit dem Untergang des Alexandros' ging auch die Idee zugrunde, einen kurzfristigen Sieg über das so mächtige Athen zu erreichen. Wieder einmal war es ein kleiner Mann gewesen, ein Krieger, der als Feind einen Kampf überlebte und ganz Athen von der Geschichte des segelnden Alexandros' berichtete, der drauf und dran war, die Welt der Athener, die seines Vaters, zu zerstören. Der Ruf von Alexander erreichte den Vater gerade rechtzeitig, um mit dem letzten Schiff, das Athen seinerzeit verließ, zur See zu fahren und sich seinem Sohn entgegenzustellen. Hinter den Mauern von Athen lebte der Vater noch viele Jahre ungesühnt, wohlwissend, dass er seinen Sohn umgebracht hatte. Als dann jedoch Sparta, in nicht allzu ferner Zukunft, über das einst so reiche und mächtige Athen siegte, war es der Vater gewesen, der sich auch dieses Mal für eine bessere Zukunft unterwarf.
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