⬩⬥Der fehlende Duft von Vanille⬥⬩
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Es gibt etwas, das ich heute herausgefunden habe – Balance ist mir nicht in die Wiege gelegt worden.
Lichterketten sind unabhängig der Jahreszeit Dauerbrenner in meinem Dekosammelsurium. Doch für die festliche Zeit im Jahr namens Advent verdreifachen sich die warmen Lichter in meiner Wohnung. Der kleine Hocker, den ich auf einen Sessel platziert habe, um den dunkelbraunen Holzschrank gänzlich in wohligen Schein zu tapezieren, ist vielleicht nicht die sicherste Lösung. Aber in Ermangelung einer Leiter muss ich auf meine Balancierkünste setzen. Wir erinnern uns?
Ein unachtsamer Augenblick und ich falle. Ein erstickter Schrei entfährt meiner Kehle, als ich auf den Teppich lande. Mit mir der Hocker und die Lichterkette, welche noch ein paar Bücher mit ins Verderben reißt, weil ich diese daran befestigt habe. Ein stechender Schmerz rast durch meinen Körper, er scheint von überall und nirgendwo zu kommen. Als ich mich ächzend wieder aufrichte, erkenne ich den Übeltäter meiner Schmerzen - ausgenommen vom unausweichlichen Boden.
„Rudolf, ich dachte, wir wären Freunde?", grummele ich und setze ein „Aua" hinterher, als ich mich nach vorne strecke und die fußgroße Dekofigur in die Hand nehme. Wenn das keinen blauen Fleck geben würde. Wie eine alte Lady mit kaputten Gelenken erhebe ich mich absolut stillos und stelle Rudolf wieder an seinen Platz. Durch vier kleine staublose Flecken auf dem dunklen Regal fällt mir auf, dass Blitz ebenfalls nicht an Ort und Stelle ist. Mein Blick wandert über den Teppich und bleibt am umgefallenen Hocker liegen. Scheiße, das hätte katastrophal enden können. Wäre ich mit dem Kopf gegen eine Kante geknallt, könnte ich jetzt tot sein. Eiszapfen bohren sich in meine Haut, als ich darüber sinniere, wie viel Glück ich mit meiner unbedachten Situation gehabt habe.
„Wie wär's, Rudolf. Stoßen wir auf mein unverschämtes Glück an?" Schnell hebe ich noch ein paar Weihnachtsromane auf und lege den Stapel auf dem Regal ab. Für Ordnung kann ich auch später noch sorgen. Schon mehrmals habe ich mein Glas auf Rudolf erhoben, wenn ich Situationen gemeistert habe, die mir absolut unmöglich erschienen sind. Nach meiner bestandenen Abschlussprüfung habe ich eine gewisse rot leuchtende Ähnlichkeit mit meinem Lieblingsrentier gehabt. Da ich aber keinen Alkohol mehr trinke, nehme ich mir stattdessen eine Flasche Apfelsaft aus dem Kühlschrank und fülle damit mein Glas. Kaum setze ich es an meine Lippen an, fällt mein Blick auf einen Gegenstand auf dem vollgeräumten Esstisch, der definitiv nicht dort hingehört. Neben benutztem Geschirr, meinem Laptop und einem blutigen Krimi - im wahrsten Sinne des Wortes, denn ich Tollpatsch habe mich am Papier geschnitten - liegt das vermisste Rentier. Mit gerunzelter Stirn stelle ich das Glas Apfelsaft auf die Seite und nehme stattdessen Blitz in die Hand.
„Wer hat dich denn so zugerichtet?", entfährt es mir schockiert. Das schöne Geweih der Keramikfigur ist abgesplittert, ein Teil fehlt davon völlig. Fündig werde ich auf dem Tisch. Meine Verwirrung erreicht einen neuen Grad, toppen könnte das nur noch eine tanzende grüne Giraffe. Meine Finger greifen nach dem entdeckten Bierverschluss neben dem Keramikgeweih und eine leere Pflasterverpackung. Ich trinke kein Bier, aber ich habe welches im Kühlschrank, weil bald Freunde zu Besuch kommen. Doch ich trinke keines.
Oh Santa! Habe ich ein Alkoholproblem? Weiß ich nicht mal mehr, dass ich trinke? Nein! Niemals! Mein Absturz letztes Jahr ist kurz gewesen und ich habe mich wieder gefangen, bevor ich in ein bodenloses Loch gefallen wäre. Das muss von der letzten Feier liegen geblieben sein. Wann ist die noch mal gewesen? Vor vier Wochen? Sofort verwerfe ich den Gedanken wieder. Mein Zuhause gleicht zwar oftmals einem Saustall, aber so unordentlich bin ich dann auch wieder nicht.
Nachdem ich alle rationalen Erklärungen, die mir eingefallen sind, eliminiert habe, rattern die absurden Überlegungen durch meine Gehirnwindungen.
„Komm schon, Noella! Hier ist kein biertrinkender Einbrecher in meiner Wohnung und kein unsichtbarer Dämon mit einer Vorliebe für hopfenlastigen Alkohol", spreche ich mit mir selbst. Kein Mensch, kein übernatürliches Wesen und kein Santa Claus mit Alkoholproblemen stattet mir einen Besuch ab. Da bin ich mir absolut sicher. Vielleicht bin ich doch chaotischer, als ich gedacht habe.
Kaum habe ich beschlossen, diesen Fund, um meiner geistigen Gesundheit zuliebe, einfach zu ignorieren, stolpere ich beim Rausgehen aus der Küche fast über eine leere Bierflasche. Gerade noch so kann ich mich von einem zweiten Sturz heute Vormittag retten, indem ich mich an der Wand abstütze. Der Schock, der durch meine Nerven brennt, lässt mich jedoch glauben, gefallen zu sein. Wie Alice stürze ich durch ein schier endloses Loch, auf dessen Boden mir Panik, Angst und Sorge um meine mentale Berechenbarkeit mit kalten Augen entgegenstarren.
„Ssscheiße. Verdammte Ka-hicks-acke!"
Stocksteif verharre ich in meiner Position, als ich die unbekannte Stimme vernehme. Meine Gedanken rasen schneller, als ich sie erfassen kann. Doch einer sticht ganz klar hervor: Ruf die verdammte Polizei! Was sich allerdings als schwierig herausstellen könnte, da mein Handy noch bei dem gefallenen Hocker liegt. Um dahin zu gelangen, müsste ich an der Quelle der Stimme vorbei.
Bei den neun Rentieren, was soll ich jetzt nur machen?
Die Stimme ertönt erneut in meinen Ohren. Sie klingt seltsam hohl, so, als wäre sie nicht wirklich existent. Und die Person lallt. Das ist doch verrückt!
„Jetscht komm schon, du weihnachtlichesch Stück Elend, damit du wenichstensch für eine Sache gut bischt!"
Augenblicklich gesellt sich überquellende Neugier zu meiner Angst. Mit wem redet der Unbekannte? Und wieso klingt es fast so, als stecke der Bier-Dieb in einer Existenzkrise? Die Neugier ist der Katze Tod, summt es in meinen Ohren, dennoch wage ich es, von meinem Versteck in der Küche hervorzukriechen. Und als ich sehe, wer vorm Bücherregal steht, entfährt mir fast erneut ein Schrei. Doch das Entsetzen schnürt mir die Kehle zu wie ein heißer Draht, der sich um meinen Hals schlingt.
Das Wesen scheint meine Anwesenheit gespürt zu haben, denn es dreht sich zu mir um. Sein Blick ist vor Frustration verzerrt.
„Kannscht du mi-hicks-iir helfen?", fragt es verzweifelt und hält mir eine volle Bierflasche hin. Alles an dem Ding sieht so echt aus. Die kurz geschorenen blonden Haare. Die kristallblauen Augen. Die schiefe Nase, die vor Jahren Bekanntschaft mit einer unnachgiebigen Tür gemacht hat und die dazu passende verblasste Narbe über der linken Augenbraue. Dennoch kann ich nicht anders, als diesen Anblick als Ergebnis einer vermeintlichen Gehirnerschütterung zu betiteln.
Denn mein Bruder ist tot. Und trotzdem steht er hier in meiner Wohnung und bittet mich, das Bier in seinen Händen von seinem Verschluss zu befreien.
Ich muss halluzinieren.
„D-du kannst nicht hier sein", stammle ich und trete einen Schritt zurück. Die Wand hinter mir hält mich davon ab, ins Nichts zu stürzen. „Du bist tot." Es ist eine Feststellung, dennoch klingt es mehr nach einer Frage. Mein Bruder ist letztes Jahr gestorben. Er hat damals seine Traumarbeit ergattert, die ihn jedoch weit von uns fortgebracht und auch an Feiertagen eingespannt hat. Trotzdem hat er uns zu Weihnachten besucht. Er hat uns eine Freude machen wollen. Stattdessen ist er in einem Sarg gekommen.
„Ooohhh", seufzt das Wesen gedehnt. „Ich muss misch wohl für mein Erscheinen entschuldigen. Aber isch kann es nischt ändern. Tu-tut mir leid."
Die Einbildung kommt auf mich zu, doch ich kann nicht weiter zurück. Ich fühle mich gefangen zwischen alten Erinnerungen. Der Anruf der Polizei. Die Streiche an den Nachbarskindern. Die mitleidigen Blicke meiner Freunde. Die Fernsehabende zu zweit. Der fehlende Duft von Vanillekipferl. Die stundenlangen Telefonate. Alle alten Empfindungen – ob gut oder schlecht – prasseln auf mich ein wie golfballgroßer Hagel. Und das Ding kommt immer näher, eine Flasche Bier in den Händen und ein Blick, der mich endlos fallen lässt.
„Ich bin nischt dein Bruder. Isch weiß, dass du ihn siehst, aber er ist es nischt."
Die Worte richten bloß Schaden in meinem Kopf an und helfen mir kein bisschen, das zu verarbeiten, was ich mit eigenen Augen sehe.
„Mei-meineschgleichen hat das so an schich. Isch nehme für jede Person automatisch die Gestalt an, die sie am meischten vermisst. E-Egal ob tot oder lebendig. Egal, ob die Person Hilfe nötig hat oder allein zureschtkommt. Ich kann es nischt ändern."
Für die lallende, hohle Stimme, klingen die Worte viel zu ernst und reuevoll. Doch irgendwie dringen sie endlich zu mir durch. Was auch immer da vor mir steht – es ist nicht mein Bruder. Nicht. Mein. Bruder.
„Was bist du?", wispere ich.
„Dasch sach ich dir, wenn du mir hierbei hilfscht." Ein weiteres Mal streckt mir das Wesen die ungeöffnete Bierflasche entgegen. Mein perplexer Blick muss Bände sprechen, denn das Ding in Gestalt meines Bruders wackelt mit der Hand, um mir noch mal demonstrativ zu zeigen, dass ich doch endlich die Flasche Bier öffnen soll. Wo bin ich hier gelandet? Vielleicht liege ich doch bewusstlos am Boden. Wie in Trance nehme ich die Flasche entgegen, bewege mich langsam zurück in die Küche und suche den Flaschenöffner. Kaum ist das Plop verklungen, steht das Wesen neben mir und nimmt mir das Bier wieder aus der Hand. Gurgelnde Geräusche gehen von ihm aus, als er die gesamte Flasche auf einmal ext.
Gerade will ich meine Frage erneut stellen, jedoch kommt mir das Wesen zuvor. Ein lauter Rülpser löst sich aus seiner Kehle und der Gestank nach Bier verpestet meinen Geruchssinn.
„Sorry", entschuldigt sich das Ding lahm, klopft sich mit seiner Faust auf die Brust, ein weiterer kleinerer Rülpser kommt über seine Lippen, dann sammelt er sich wieder.
„Isch bin Orion. Ein Geischt der Weihnacht."
„Ein – Was?", entfährt es mir und ich schüttle ungläubig den Kopf. „So etwas wie Geister gibt es nicht." Das Wesen lässt seinen Blick über die Einrichtung meiner überschaubaren Wohnung schweifen, seine Augenbrauen näher dem Haaransatz als den Sehorganen.
„Du glaubscht an den Weihnachtsmann, an seine Rentiere und seinen kleinen Helferschen, aber ein Weihnachtsgeist exschi-exschi-existiert nicht?"
„Was, nein! Ich bin kein kleines Kind mehr", protestiere ich und höre mich in dem Moment sehr wohl wie eine kleine naive Minderjährige an.
Ich habe das Ende der Grube noch nicht erreicht, wobei mich der Anblick meines Bruders tief hat fallen lassen. Mein Verstand weigert sich schlichtweg, dass Geister - in der Gestalt geliebter Menschen - in fremde Wohnungen eindringen und Bier klauen. Überhaupt, dass sie existieren. Doch nachdem der erste Schock überwunden ist und um meine Halluzination ohne Konflikte zu überstehen, entschließe ich mich kurzerhand, einfach mitzuspielen. Vielleicht werde ich ihn so schneller los.
„Nehmen wir mal an, du bist echt, willst-"
„Isch bin echt!", fährt mit der Geist patzig dazwischen.
„Willst du mir dann verraten, weswegen du hier bist und meinen Biervorrat aussäufst?"
Das Wesen druckst herum. „Ich... ahm. Weischt du, ich...." Es verstummt und sieht beschämt auf den Boden. Küchenfliesen müssen schon ziemlich interessant sein, denn es vergehen zwei Minuten, bis der Geist wieder aufsieht und mir eine Antwort gibt. Und ja, ich habe die ganze Zeit über meine Küchenuhr im Augenwinkel beobachtet.
„Menschen schind dämlich."
Keine gute Erklärung, warum gerade ich einen Geist an der Backe habe. Wenn ich einschlafe, verschwindet meine Halluzination dann wieder? Blöd nur, dass mich das Adrenalin wacher als Santa auf Crack hält.
„Und das rechtfertigt dein Verhalten?" Ich bemerke, wie der Geist zum Kühlschrank schielt und bevor er mich um eine weitere Flasche bitten kann, fahre ich fort.
„Alkohol löst deine Probleme auch nicht." Ich verstumme, das habe ich entgegen meiner Vernunft selber herausfinden müssen. Jedoch formt sich in meinem Kopf eine Idee und ein kleines Lächeln breitet sich auf meinen Lippen aus. Wenn das hier eine Halluzination ist - wovon ich stark ausgehe - vertreibe ich mir nur die Zeit, bis es vorbei ist. Aber wenn nicht, dann kann ich das genauso gut ausnutzen.
„Wenn du den Einbruch und Diebstahl wiedergutmachen willst, dann kannst du mir beim Saubermachen helfen. Und vielleicht hast du dir nachher eine Flasche verdient", erläutere ich ihm meinen Plan. Als ich seine leuchtenden Augen sehe, füge ich noch schnell hinzu: „Aber nur vielleicht! Und dabei könnten wir uns noch darüber unterhalten, weswegen du eigentlich hier bist. Doch vorher bekommst du einen Kaffee."
Ist das ein guter Plan? Kann ich damit umgehen, ständig meinen toten Bruder vor meinen Augen zu haben, oder mute ich mir zu viel zu? Aber was wäre die Alternative? Ich kann nicht weiterhin mit dem vermeintlichen Geist der Weihnacht über seine Biersucht und Existenz diskutieren. Außerdem scheint ihm was auf dem Herzen zu liegen und ich kann keine verletzte Seele sich selbst überlassen, egal wie dreckig es mir selbst geht. Eine der unzähligen Sachen, die mein Bruder und ich gemeinsam gehabt haben.
„Na gut", murmelt der Geist und während er seinen verordneten Kaffee getrunken hat, habe ich die Putzsachen von unter der Spüle hervorgeholt. Dem Wesen reiche ich ein Mikrofasertuch, welcher das rote Stück Stoff skeptisch entgegennimmt. „Was mache isch damit?"
„Staubwischen", antworte ich knapp, während ich ein grünes Exemplar derselben Sorte schnappe. „Fangen wir mit den Regalen im Wohnzimmer an."
Der Geist sieht mir zuerst nur zu, unsicher, was er mit dem Fetzen anstellen soll, doch nach einer Weile findet er Gefallen daran und ist schneller als ich. Und da man dabei großartig nachdenken kann, geht mein Hintergedanke auch schon bald auf.
„Niemand weiß mehr Weihnachten zu schätzen", seufzt der Geist gerade noch laut genug, damit ich ihn verstehen kann. „Jeder denkt nur noch an Geschenke, Geschenke und noch mal Geschenke. Doch nicht, um anderen damit eine Freude zu machen! Sie wollen Unleistbares und sind dann enttäuscht und wütend, wenn sie nicht das bekommen, was sie wollen. Dabei geht es zu Weihnachten ja nicht einmal um verdammte Geschenke! Jeder ist nur mehr gestresst und sieht nicht einmal mehr, wie schön der Advent und Weihnachten wäre, wenn man sich darauf einlassen würde", beschwert er sich - der Kaffee hat zum Glück seine Arbeit getan und Orion kann wieder halbwegs normal reden - und fegt in seiner Wut beinahe Rudolf von seinem Platz.
„Und weil keiner mehr den wahren Wert von Weihnachten erkennt, versteckst du dich hier und ertränkst deinen Kummer in Bier?", hake ich nach. Zufrieden betrachte ich das Regal, welches ich gerade entstaubt habe. So sauber ist es das letzte Mal bei meinem Einzug vor vier Jahren gewesen. Vom Geist erhalte ich ein zustimmendes Grummeln.
„Du hast ja keine Ahnung, wie viel Arbeit das ist. Die meisten meiner Kollegen haben schon aufgegeben und sich andere Stellen gesucht. Mein bester Freund arbeitet nun als Schreckgespenst, kannst du dir das vorstellen?"
Nein, das kann ich nicht. Ist es wirklich meine Fantasie, die sich all diese absurden Sachen zusammenreimt, oder steht ein wahrhaftiger Geist neben mir und befreit meine Regale von jahrealtem Schmutz?
„Wie viele sind denn noch als ... Weihnachtsgeist zuständig?", frage ich interessiert.
„Nur mehr sieben. Auf der ganzen Welt", seufzt Orion. „Wir waren mal über 300", fügt er verzweifelt hinzu. „Ich denke, ich werde ebenfalls aussteigen. Sollen die Menschen doch selber sehen, wo sie mit ihrer Gier landen." Seine hohle Stimme klingt trotzig.
Mein Blick wandert zu Orion. Eiskristalle umschließen mein Herz, als ich sein trauriges Gesicht sehe. Wie oft habe ich meinen Bruder aufgeheitert, wenn er in der Schule gehänselt worden ist? Wie oft habe ich seine Wangen getrocknet und ihm gesagt, dass all diese Vollidioten seine Tränen nicht wert sind? Wie oft habe ich seine traurigen Augen wieder zum Glänzen gebracht? Mein Bruder hat kein leichtes Leben geführt, für seine Schüchternheit und seine herausragenden Noten hat er mehr als einmal einen blauen Fleck eingesteckt.
Doch Orion ist nicht mein Bruder. Obwohl ich mir nichts Sehnlicheres wünsche, als noch einmal mit ihm zu reden. Noch ein letztes Mal mit ihm Weihnachten zu feiern. Mein Bruder ist der König unter den Vanillekipferlbäckern gewesen. Nie wieder werde ich dieses feine Aroma nach Vanille und Mandel auf meinen Lippen schmecken. Nie wieder werde ich sein Lächeln erblicken, wenn er mir am Heiligabend mein Geschenk überreicht, weil ihn nichts glücklicher gemacht hat, als anderen eine Freude zu bereiten. Sein Tod hat mir nicht nur meinen besten Freund gestohlen, sondern auch die Liebe für Weihnachten.
Ich sehe seine glasigen Augen und ich wünschte mir, dass ich die Macht hätte, ihm seinen Lebenswillen zurückzugeben. Doch wie soll ich das anstellen, wenn ich es nicht einmal bei mir selber schaffe? All diese weihnachtliche Deko, die Rentiere, die Wichtel, die Schneeflocken, die von den Vorhangstangen hängen, alles nur trügerischer Schein für Freunde und Familie. Geboren als Christkind habe ich Weihnachten trotzdem erst durch meinen Bruder zu lieben gelernt. Doch nun ist er uns genommen worden. Wie soll ich ohne ihn noch Freude an diesen Tagen empfinden?
„Wir könnten uns gegenseitig helfen", schlage ich schließlich vor und lege das Mikrofasertuch aufs Regal.
„Was meinst du?"
Im Moment hoffe ich, dass ich mir das alles nicht einbilde. Dass ein wahrer Geist der Weihnacht vor mir steht und mir helfen kann, Weihnachten wieder zu schätzen zu lernen. Dass ich nicht rückfällig geworden bin und nicht ich dieses Bier getrunken habe und meinen Bruder halluziniere.
„Ich helfe dir, wieder Freude an deiner Arbeit zu finden, und du hilfst mir, Weihnachten wieder zu lieben." Vielleicht schafft Orion das, was Freunde und Familie nicht vermocht haben. Vielleicht kann Orion den schwarzen Schleier, der sich über meine Sinne gelegt hat, wieder verschwinden lassen. Vielleicht kann ich Vanillekipferl backen und ihren Duft genießen. Bis Weihnachten sind es noch ein paar Tage. Wir haben Zeit.
„Denkst du das wirklich?", fragt Orion zweifelnd. „Denkst du wirklich, ich kann dir deine Trauer nehmen?"
„Ist das so offensichtlich?"
„Nein, aber wir Weihnachtsgeister spüren so etwas."
„Ich denke, wir schaffen das. Doch nur, wenn wir deine pessimistische Einstellung wegbekommen. Ich bin mir sicher, dass diese Eigenschaft nicht in der Stellenbeschreibung von Weihnachtsgeistern steht", witzle ich und schnappe mir wieder das Tuch. Orion grummelt vor sich hin. Dann setzt auch er wieder seine Arbeit fort.
„Und wie?"
„Wir putzen", antworte ich. „Eine saubere Umgebung hellt die Stimmung auf, zumindest hat das Mama immer gesagt."
„Und danach ein Bier?"
„Nur mehr Kaffee", verneine ich streng.
Eine Weile wischen wir schweigend den Staub von den Regalen und ich stelle mir vor, wie ich Schicht für Schicht auch meinen Körper von meiner Trauer reinige. Doch so einfach wird das nicht.
„Noella?"
„Mhm?"
„Du wirst wieder Frieden finden. Versprochen."
„Du auch", spricht mein wachsender, totgeglaubter Optimismus und hofft auf ein Weihnachtswunder.
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