Der Spaziergang
Mein Blick fiel auf die Phiole, die nun zerbrochen auf meinem Bauch lag. Ich lag wiederum auf dem Rücken unter einer Brücke. Irgendwie musste ich es wohl doch noch aus diesem Kellerloch geschafft haben. Dass ich mir dann die bläuliche Flüssigkeit aus der Phiole rein gekippt hatte, war wohl aus meinem Gedächtnis gelöscht worden. Jedenfalls stand ich schwankend auf und fühlte nichts. Nichts, außer den blauen Flecken auf meinem Oberkörper verrieten was in den letzten Tage passiert war. Und nicht einmal diese spürte ich. Zur Probe roch ich an der Phiole. Auch nichts. Komplett geruchlos. Wäre ja zu schön gewesen wenigstens einen Stoff von diesem Wundermittel identifizieren zu können. Die Polizei dachte da schon gut mit. Dann viel mir auf, dass ich nicht einmal Hunger verspürte, obwohl ich seit meiner Verhaftung nichts mehr gegessen hatte. Ob das so gesund war? Allerdings war es bestimmt ebenso wenig gesund so oft bewusstlos zu sein wie es mir in letzter Zeit geschah. Mein heutiges Tagesziel: Nicht K.o. gehen. Mit diesem Gedanken lächelte ich in mich hinein und machte mich auf den Weg zum Markt. Frisches Obst konnte nie schaden.
Ich könnte mir jetzt tausend Gedanken machen wie ausgerechnet ich schon wieder in so eine miserable Situation geraten bin, aber hätte ich die Zeit dazu, würde ich nicht auf der Straße leben. Genau, auf der Straße. Nicht unter der Brücke. Nur sonntags und wenn es regnete. Ein richtiges Hauptversteck hatte ich schon lange nicht mehr. Das wird einem ständig nur geplündert und da ist es einfacher zu den Plünderern zu gehören, hier und da zu wohnen und sich nicht um sein schäbiges Zuhause zu sorgen.
Als ich den Marktplatz erreichte, herrschte dort schon reges Treiben.
Viele Menschen, viele Augen. Aber auch viel Ablenkung. Den ersten roten Apfel stibitze ich mir bereits vom zweiten Stand, an dem ich vorbei schlenderte. Ich biss direkt hinein und der Saft schmiegte sich wohltuend an meinen Gaumen. Erstaunlicherweise schmeckte ich aber nichts. Langsam breitete sich Unbehagen in mir aus und ich überlegte was diese blaue Phiole alles mit meinem Körper angestellt hatte.
Um eine Vorahnung zu beseitigen, entzog ich dem Apfel schnell seine Farbe und er verblasste zu grau. Erleichtert atmete ich auf. Eine Frau warf mir einen beunruhigenden Blick zu und starrte mich erschrocken an, während ich weiter den grauen Apfel aß. Wenigstens passte jetzt für mich seine Farbe zum Geschmack. Auch wenn Obst im weitesten Sinne zu den Pflanzen zählte, konnte man meiner Meinung nach da wirklich mal eine Ausnahme machen. Ich hätte den Apfel sowieso gegessen, da spielte seine Farbe doch eigentlich keine Rolle mehr oder? Ich hatte eine ganze Weile heimlich geübt und trainiert die Farben von Lebensmitteln zu verwenden, obwohl es als unansehnlich galt und verboten war.
Ein Energieschub formte sich in meinem Körper: Die Farbe des Apfels, die ich aufgenommen hatte, wollte irgendwie verbraucht werden. Unruhig öffnete und schloss ich meine Fäuste. Im längeren Speichern der Farbmagie musste ich unbedingt Fortschritte machen. In einer unscheinbaren kleine Wasserpfütze auf dem Weg zwischen den Ständen sah ich meine Lösung. Mir genügte ein Blick und sie erstarrte zu Eis. Mittlerweile musste ich die Elemente nicht einmal mehr berühren, um sie zu beeinflussen. Ein älterer Herr mit Krückstock gerat durch die Pfütze ins Straucheln, was eigentlich nicht meine Absicht war. Selbst ich hatte noch ein Gewissen. Ein Händler, der Baguette in den wildesten Formen darbot, hastete hervor, um den armen Mann vor dem Sturz zu bewahren. Dabei rempelte er einige andere Besucher an. Ich nutze die Ablenkung und klemmte mir gleich zwei Baguettes in Form einer Schlange und eines zusammengerollten Teppichs unter den Arm. Wow, wie originell. Wenn das eine Nachahmung des Farbteppichs sein sollte, dann waren wir alle Idioten. Während die Meute sich noch über die Eispfütze bei recht sommerlichen Temperaturen wunderte, schlug ich den Pfad in den Park ein. Ich brauchte Zeit zum Nachdenken, um einen klaren Kopf zu bekommen. Der Park beherbergte eine wundervolle Seenlandschaft. Ein kleiner Tümpel, an dessen Ufer sich viele verschiedene Bäume säumten, lud mich zum verweilen ein. Ich kletterte mit meinen Baguettes auf eine Hängebirke, die ihre Äste wie Arme über der Wasseroberfläche ausbreitete. Als ich es mir auf einem Ast bequem gemacht hatte, tummelten sich ein einige Enten unter mir. Ich riss ein Stück Baguette ab, biss beherzt hinein und warf den Enten ein paar Krumen hinab. Sie schnatterten erfreut und erzeugten feine Wellen, die sich ringförmig ausbreiteten und das Licht der hochstehenden Sonne auf der Wasseroberfläche brachen. Die Welt schien doch in Ordnung zu sein. Aber das Bild des Friedens war trügerisch. Während ich langsam an einem Baguette kaute, begann ich zu grübeln. Ich brauchte einen Plan, naja eine Vorgehensweise wäre sinnvoll. Vielleicht brauchte ich auch eher einen Schlachtplan oder besser eine Überlebensstrategie? Ich seufzte. Zunächst einmal wäre es sinnvoll mehr über meine sogenannten Partner Steve und Julius zu erfahren. Doch bevor ich mich umhörte und irgendwelchen Gerüchten hinter her rannte, würde ich sie bei nächster Gelegenheit einfach selbst ausfragen. Egal, ob sie mir die Wahrheit über sich erzählen würden oder nicht, ein Dialog brachte mir immer irgendwas ein und sei es nur Futter für mein Bauchgefühl. Als Einzelkämpfer auf der Straße war es für mich unabdinglich mir selbst vertrauen zu können. Wenn du schon keinem anderen trauen kannst, dann vertraue wenigstens dir selbst. Sonst bist du verloren.
Der nächste Punkt war meine Ausrüstung, denn ich hatte nichts. Keine Waffen, keine bunten Kleidungsstücke am Leib, ja nicht mal einen Zahnstocher auf Tasche. Doch zurück zum eigentlichen Zielobjekt: die Silhouette bzw. dem Farbteppich. Wenn die Silhouette den Teppich wirklich habe wollte und ich den Teppich fand, dann würde ich auch wieder auf die Silhouette stoßen. So zumindest in der Theorie. Kurze Sinneseindrücke von meiner ersten Begegnung mit ihr flackerten durch meinen Geist. Wieso sie mich nicht einfach umgebracht hatte war einfach eine berechtige Frage. Ich fürchtete die Antwort früh genug zu erfahren. Die Enten bettelten nach mehr Baguette Krumen und ich ließ genervt mein letztes Viertel ins Wasser plumpsen. Als sie es endlich aufgeteilt hatten und davon flogen, sank ich auf den Bauch, mit Blick zur Wasseroberfläche hinab. So ganz ohne das aufdringliche Federvieh erstarrte der Tümpel allmählich in seiner Bewegung und ich konnte es sehen, konnte mich sehen. Mein silbergraues Haar ging fast ein bisschen in den Kontrasten des Tümpels unter. Ich verschloss die Augen vor meinem Spiegelbild, ruhte wie eine Raubkatze auf dem Ast.
Doch wenige Momente später riss mich eine weibliche Stimme aus dem dösenden Zustand. »Na Brüderchen, du faulenzt hier am helligen Tag?« Ich brauchte nicht einmal die Augen zu öffnen, um festzustellen um wen es sich handelte. Ihr Name war Cesca, eigentlich Francesca und nein, sie war nicht mein Schwesterchen. Sie war die engste Vertraute, Gehilfin, vielleicht sogar Freundin oder was auch immer meiner richtigen Schwester. Die wiederum war das Oberhaupt eines verfeindeten Clans, dem Black Sange. Naja was hieß schon verfeindet, ich war so gut wie mit jedem verfeindet oder kurzzeitig mal auf dem Kriegsfuß gewesen. Ich drehte mich um und schaute auf Cesca hinab, die sich zu freuen schien endlich meine Aufmerksamkeit erlangt zu haben und aus ihrer locker lässigen Körperhaltung, mit dem linken Arm in der Hüftbeuge, in eine theatralische Verbeugung mit den Worten »Die große Kinea des Black Sange schickt mich Ihnen Beistand zu leisten«, verfiel. Ich hob eine Augenbraue. Ihr Auftritt war völlig überzogen, aber das wusste sie. Apropos Beistand: Hatte mein Dilemma mit dem Auftrag der Polizei etwa schon die Runde gemacht? »Hör auf sie "die große Kinea" zu nennen. Ihr Name allein wirkt schon wie aus altägyptischen Schriften«, antworte ich trocken.
»Wieso?«, fragte Cesca rundheraus. »Kinea ist doch deine große Schwester oder etwa nicht?« Ich rutschte von meinem Ast herunter, landete direkt vor ihr und blickte in ihre braunen Augen. »Ja, wir sind aber nur ein Jahr auseinander.«
Cesca wich verunsichert vor mir zurück, eine seltene Gestik: »Was hast du mit deinen Augen gemacht? Dass du dir die Haare gefärbt hast, hab ich ja schon von Weitem gesehen, aber das? Was ist das?«
Ich fuhr mir durch die Haare, senkte den Blick und ein leichtes Schamgefühl kroch unangenehm meine Wirbelsäule empor. »Ist eine lange Geschichte. Was willst du?«
»Geschichten hören?«, erwiderte sie. Cesca war bislang immer nett zu mir gewesen, wenn man mal außer Betracht zog, dass sie für Kinea arbeitete. Diese Verbindung machte sie leider unberechenbar.
»Kommt da noch was?«, fuhr sie fort. Ihr war natürlich nicht entgangen, dass ich plötzlich tonlos vor mich hin gestarrt hatte. »Mhhmm«, gab ich mit einem Grummeln zurück.
»Ach Jackson, komm wir manchen einen Spaziergang.« Damit harkte sie sich bei mir unter und schlug schwungvoll einen Trampelpfad Richtung Parkzentrum ein ohne auf meine Zustimmung zu warten. Doch so viel Mühe sie sich auch gab, sie bekam nicht die Geschichte von mir, die sie hören wollte. Alles was ich ihr erzählte, erzählte ich praktisch meiner Schwester. Ich verfiel mit ihr in einen Smalltalk, der nicht viel aussagte und von jedem hätte geführt werden können. Doch es tat mir irgendwie gut wie normale Menschen an einem sonnigen Tag durch den Park zu schlendern. Cesca erzählte mir gerade zum dritten Mal die Geschichte wie sie ihr erstes Eichhörnchen erlegt hatte und dadurch festgestellt hatte was ihre wahren Talente waren. Doch meine Aufmerksamkeit schweifte ab, richtete sich auf die Schatten unter den Bäumen und den kleinen Verstecken in den Büschen, in denen zu meist kleine Kinder spielten. Meine Hände wurden leicht feucht und ein schmerzvoller Stich durchzog meine untere Rippenpartie. Cesca war ebenfalls eine gute Beobachterin und kam schnell auf den Punkt: »Du hörst mir gar nicht richtig zu!« Sie rüttelte empört an meinem Arm und ich stolperte über einen Kieselstein wie ein jämmerlicher Trottel. »Hey, alles in Ordnung Jackson?«, fragte sie. Ich schwankte kurz und brauchte ein paar Sekunden meiner Konzentration, um das Gleichgewicht zurück zu erlangen. Die Wirkung der blauen Phiole ließ nach und zwar abrupt.
»Nein, alles okay. Es geht schon«, versuchte ich, keideweiß im Gesicht, sie zu überzeugen. Ob Cesca eine gute Seele hatte ließ sich bestreiten. Jedenfalls schien sie Menschen helfen zu wollen, denen es offensichtlich nicht gut ging und stütze mich leicht mit ihrem Arm. »Ich nehm dich mit zu mir nach Hause«, sagte sie und geleitete mich zur nächsten Abzweigung. »Kommt gar nicht in Frage, Cesca.«
Als sie die Tür zu ihrer Behausung aufschwang, staunte ich nicht schlecht. Erstens hatte sie ein Haus, genau genommen ein Zimmerchen und zweitens schien meine Schwester sie wirklich für ihre Dienste zu bezahlen. Wie hätte sie sich das sonst alles leisten können? Ok, vielleicht hatte sie den Besitzer auch einfach umgebracht. Cesca lotste mich zu ihrem schmalen Bett, in dessen weiche Federn ich direkt versank. Ich schielte durch einen Türspalt in einen Nebenraum, wo tatsächlich ein Blick in ein Badezimmer zu erhaschen war. Insgesamt war die Bude recht runtergekommen, etwas dreckig und hatte keine Fenster. Aber ich wäre der Letzte, der jetzt wählerisch geworden wäre. Cesca reichte mir eine vergilbte Karaffe mit Wasser. Doch als ich mich zum Trinken aufsetzen wollte, protestierten meine Bauchmuskeln dermaßen, dass ich die Hälfte des Wassers auf den Boden verschüttete. »Ey, du brauchst mich nicht so penetrant darauf aufmerksam zu machen, dass ich aufwischen muss«, gab sie mit einem Lachen zurück. Cesca konnte charmant sein, wurde mir immer sympathischer.
Gefährlich.
Sie verschwand im Badezimmer nebenan und kam kurz darauf mit mehreren Tüchern, Lappen und einem Eimer mit lauwarmen Wasser zurück.
»Du willst jetzt echt putzen?«, grunzte ich vergnüglich. »Nein, das ist nicht für den Boden, das ist für dich, du Depp. Zieh dich aus.« Ich fing fast an zu lachen.
»Dein Ernst? Will meine Schwester jetzt auch noch meine Schwanzlänge wissen?«
»Sei nicht albern, Jackson. Zieh dein Oberteil aus.« Es war ein Befehl und ich versuchte ihm zu folgen. Es ging nicht. Meine Arme waren zu schwer geworden als dass ich sie über den Kopf hätte heben könnte, um mein Shirt abzustreifen. Fast genervt drückte Cesca mich mit einer Hand zurück auf die Matratze, trat ans Kopfende ihres Bettes und zog mir das Shirt aus. Dann folgte erstmal Stille. »Was ist? Seh ich so scheiße aus?«, fragte ich, den Blick zu ihr empor gerichtet. »Ja, das tust du«, antworte sie mit besorgter Miene. Sie ließ sich neben mir auf die Matratze sinken und fuhr bedächtig mit den Fingerkuppen über meine Blessuren und Prellungen. Ich hob den Kopf, sah an mir erhab und musste ihr innerlich zustimmen. Ich sah echt schlimm aus. Die anfänglichen blauen Flecken hatten einiges an neuen Farbtönen auf Lager und gerade die untersten Rippen wirkten stark geschwollen. Cesca tauchte einen Lappen in das warme Wasser und begann meinen Oberkörper damit zu betupfen. »Wie hast du nur so unbedarft durch den Park spazieren können?«, fragte sie nach einer Weile. »Drogen«, antworte ich mit einem schiefen Grinsen. Anders konnte ich mir die Wirkstoffe in der Phiole nicht erklären. Ich zuckte reflexartig zusammen als sie plötzlich ein kaltes Tuch auf meine Rippen presste. »Du musst echt besser für dich sorgen.« Es überraschte mich, dass sie das kümmerte. »Ich hab leider nur ein paar Eiswürfel, aber damit geht die Schwellung vielleicht schon bald zurück. Versuch dich zu entspannen«, fuhr sie fort. Ich schloss die Augen und meine Wahrnehmung folgte nur ihren Berührungen, die sanft über meinen Oberkörper glitten.
Als ich die Augen wieder öffnete war es bereits Nacht. Zumindest vermutete ich das, es gab ja keine Fenster. Aber Cesca lag auf dem Boden und schlief tief und fest. Ich schlich an ihr vorbei, konnte aber nicht anders und verweilte noch einen Moment nachdenklichen Blickes über ihrem Antlitz. Ich nahm ihre Bettdecke und breitete sie auf ihr aus. Über einem Stuhl in der Ecke hing ein blauer Schal. Ich nahm ihn mit und verließ ohne Shirt das Zimmer. Es war sowieso grau und somit für mich ohne Wert.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top