„You're bleeding on my floor."
Ächzend grabe ich meine Finger in den rauen Boden unter mir. Habe ich es geschafft?
„Scheiße, verdammt", presse ich unter zusammengebissenen Zähnen hervor. Wie konnte denn das passieren?
Da will man schon einmal sterben und dann wird man von dem Schicksal erbarmungslos im Stich gelassen und überlebt diesen Mist mit Ach und Krach. Es ist ja schon ein Wunder, es überhaupt ans Ufer geschafft zu haben.
Nachdem ich mich soweit gesammelt habe, kämpfe ich mich auf die Knie und schaue zurück auf den Fluss. Wie konnte ich das nur überstehen?
Ich zittere am ganzen Körper und der Schmerz lässt mich unsicher wanken, als ich aufstehe. Trotzdem macht mein Körper einfach nicht schlapp. Unaufhörlich schlägt der faustgroße Muskel in mir vor sich hin.
Langsam, aber zielstrebig entferne ich mich vom Flussufer und kämpfe mich einem Abhang neben einer relativ großen Brücke nach oben. Wahrscheinlich wird sie nur von Fußgängern benutzt, deshalb schaue ich zuerst, ob die Luft rein ist, bevor ich mich auf die Straße wage.
Ich muss dringend etwas für meine Verletzung finden. Und etwas zu Essen.
„Trockene Kleidung wäre vielleicht auch nicht schlecht", murmel ich, als meine Schuhe ein erneutes Pfatsch von sich geben und sich Hose und Oberteil an meine Haut saugen.
Hinkend schlage ich die nächste Seitenstraße ein, welche wohl eher eine Verbindung zur nächsten Hauptstraße ist. Hier scheinen die Häuser zwar kleiner zu sein, dafür aber auch mal einen Garten oder eine eigene Garage zu besitzen. Wahrscheinlich ist das hier das Luxusviertel der nervigen Kleinfamilien. Bei einem der Häuser kann man bestimmt auch durch die Terassentür einsteigen.
Ich steuere auf einen hohen Lattenzauen weiter vorn zu, als ich plötzlich auf ein flackerndes Licht aufmerksam werde. Vor mir, auf der nächsten großen Straße.
Genau in dem Moment, in dem ein Polizeiwagen vorüberfährt, werfe ich mich in den Schatten der Mauer zu meiner Rechten. Meine Beine geben unter mir nach und ich rutsche daran herab. Wenigstens fährt der flache Streifenwagen vorbei, ohne dass die Insassen auf mich aufmerksam geworden sind.
Ich lasse meinen Kopf nach hinten kippen und versuche, wieder zu Atem zu kommen. Das Beste wäre es, mich auf einen Lastwagen zu schleichen oder sogar einen Bahnhof zu finden und so zu verschwinden. Je weiter ich komme, desto besser.
Ich halte inne, als ich hinter mir etwas spüre. In der Mauer - befindet sich ein Loch. Ich fahre herum und nehme es in Augenschein. Da komme ich durch!
Wenn ich möglichst der Straße fernbleibe, kann ich es schaffen.
Flach lege ich mich auf den Boden und werfe einen Blick auf die andere Seite. Ein kleiner Garten eröffnet sich mir. Gelbe und blaue Beete, ein kleiner Gartenteich und ein steinerner Weg, der sich über den Rasen zieht. Und da - ganz hinten - befindet sich eine breite Terrasse. Das ist genau das, was ich wollte.
Ich atme tief durch, dann ziehe ich mich nach vorne. Fast hätte ich aufgeschrien, aber ich kann es noch unterdrücken und nur ein ersticktes Stöhnen kommt über meine Lippen.
Aber unermüdlich ziehe und schiebe ich mich weiter vor. Es wäre doch gelacht, wenn ich jetzt schlappmachen würde. Stück für Stück komme ich meinem Ziel näher, auch wenn ich niemals durchgekommen wäre, wäre ich ein Stück größer. Für einen kurzen Augenblick bekomme ich sogar Panik, festzustecken und wie ein Kaninchen in der Falle zu sitzen, aber dann gibt es einen Ruck und ich drücke mehrere Nelken platt. Sind es Nelken? Oder doch eher ... auch egal. Ich habe es schon fast geschafft.
Ich stütze mich beim Aufstehen an der Mauer ab, was sich als Glück erweist. Meine Umgebung verschwimmt und das Wasser des Teiches ist alles, was ich gerade höre. Ich muss für ein paar Sekunden meine Augen fest zukneifen, dann vergeht der Schwindel wieder. Ich brauche jetzt etwas gegen die Blutung.
Ich stoße mich von der Wand ab und stolpere auf die Terrasse zu. Ich hoffe, dass ich dabei nicht zu viel Krach veranstalte, vor allem als ich den Verandaboden betrete, aber alles bleibt ruhig. Kein Licht geht an, niemand schreit und vor allem wird keine Waffe auf mich gerichtet.
Ich kneife meine Augen zusammen und werfe einen Blick durch die Glastür. Auf der anderen Seite ragen die Schemen einer Kücheninsel auf. Volltreffer. Da lässt sich so einiges Nützliches finden.
Ich will schon ausholen und die Scheibe mit meinem Ellenbogen einschlagen, als mir etwas auffällt. Die Tür ist nicht abgeschlossen.
Zwar steht sie nicht völlig offen, aber der vorgeschobene Riegel auf der anderen Seite sagt mir, dass ich auch ohne Gewalt hereinkomme. Ich drücke einmal vorsichtig gegen die Tür und sie schwingt auf. Unglaublich.
Ich betrete das Haus und falle prompt auf die Knie. Vorsichtig ziehe ich mein nasses Oberteil hoch und stoße ein Zischen aus. Dickflüssiges Blut quillt aus der Wunde hervor. Es ist so viel, dass ich nicht einmal ausmachen kann, wie schlimm es nun genau ist.
„Verflucht ..."
Irgendwie komme ich wieder auf die Beine und stolpere auf den nächsten Küchenschrank zu. Kurz werfe ich einen Blick auf die schemenhafte Durchgangstür gegenüber der Terrasse, dann reiße ich ihn auf. Blütenweiße Teller türmen sich klappernd in dem Fach auf. Darüber und darunter sind lediglich Schüsseln und Töpfe untergebracht worden.
Ich wende mich dem nächsten Schrank zu. Hier befindet sich nur Besteck, aber dann habe ich Glück. Ich nehme eines der fein säuberlich zusammengelegten Geschirrtücher heraus und drücke es mir in die Seite. Kurz verkrampft mein Körper und mir wird schwarz vor Augen, aber nach ein paar kräftigen Atemzügen geht es wieder. Mit einem zweiten fixiere ich es, zugegeben, ziemlich stümperhaft, doch es muss ja nur halten bis ich etwas Besseres finde.
Ich blinzle einmal kräftig, als die Arbeitsplatte und ein Brett voller Kräuterdosen vor mir verschwimmt. Meine Finger krallen sich am Schrank vor mir fest und tun alles, damit ich nicht umkippe. Ich brauche ein wenig mehr als nur zwei Geschirrtücher. Und höchstwahrscheinlich reicht unter diesen Umständen auch keine einzelne Bierdose.
Gleich an der Wand links von mir befindet sich ein Kühlschrank. Ich will mich dem gerade nähern, als - ein Klicken ertönt und ich in einen breiten Lichtkegel getaucht werde.
Ich fahre herum und kneife geblendet meine Augen zusammen. Hinter der Helligkeit kann ich jemanden im Schatten des Türrahmens ausmachen. Scheiße!
Kurz herrscht völliges Schweigen, während dem ich fieberhaft überlege, was ich jetzt tun soll - obwohl ich schon damit überfordert bin, überhaupt aufrecht stehen zu bleiben.
Und genau, als mein Gegenüber ein leises „Sie bluten auf mein Laminat" von sich gibt, geben meine Beine endgültig nach und ich krache zu Boden.
Meine Zähne scheinen auseinanderzubrechen, als ich mich wieder aufstützen will, aber innerhalb von Sekunden ist der Hausbesitzer bei mir.
„Licht an!"
Der ganze Raum wird sofort erleuchtet und ich weiß, dass ich spätestens jetzt meine Flucht vergessen kann. Der kleine Mann, der sich jetzt über mich beugt, die Waffe immer noch in der Hand, mustert mich kurz, dann greift er in seine Tasche und zieht eines dieser gläsernen Handys heraus.
„La- lassen Sie ... das!", schaffe ich es hervorzustoßen.
Mittlerweile bin ich aber wohl kaum in der richtigen Verfassung, meinen Willen irgendwie durchzusetzen. Der Mann, dessen seidenweißes Haar im Licht noch heller erscheint, tippt völlig unbeeindruckt auf seinem Handy herum und hebt es an sein Ohr. Dafür, dass er gerade mitten in der Nacht einen Fremden in seiner Küche erwischt hat - bei meinem Glück hat er mich auch im Fernsehen gesehen -, ist er erstaunlich ruhig. Abgesehen von seinen bleichen Händen, welche ein wenig beben.
„Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie wecke", spricht er ein paar Sekunden später in das Handy. „Ich habe hier ... jemanden in meiner Küche. - Nein, ich empfange so spät keinen Besuch, das wissen Sie doch. Nein, einen Fremden. Er ... - Ich habe eine Waffe in der Hand und er liegt vor mir auf dem Boden. Er blutet, ich könnte Ihre Hilfe also durchaus gebrauchen. Natürlich möchte ich Sie nicht von Ihrem Schlaf abhalten, den benötigen Sie zweifelsohne, aber ..."
Ich will mich irgendwie von ihm wegschieben, doch er hebt die Waffe ein wenig mehr, sodass ich mich ächzend zurückfallen lasse. Es wundert mich, dass er das Teil mit seinen zittrigen Fingern so fest halten kann. Eigentlich müsste sie ihm gleich aus der Hand rutschen.
„Es sieht schon sehr ernst aus. Seine Hautfarbe könnte vermutlich mit meinen Badfliesen konkurrieren."
Ich starte noch einen Versuch, von ihm wegzurutschen, doch allein diese kleine Bewegung lässt mir wieder schwarz vor Augen werden.
„Vielen Dank", meint der Hausbesitzer dann, ohne einmal seinen Blick von mir genommen zu haben. „Sie sind unbezahlbar."
Er lässt das gläserne Handy wieder verschwinden und hockt sich nieder. Die Waffe hält er immer noch auf mich gerichtet, so, als ob ich irgend etwas unternehmen könnte.
„Ich nehme an, Sie nehmen mir die hier nicht weg?"
Schnaufend schließe ich meine Augen. Was für ein Idiot. Sehe ich etwa so aus?
Ich höre nur ein Klappern und als ich wieder aufblicke, kniet der Mann sich nun völlig auf den Boden – wohl darauf bedacht, seine Hose nicht mit Blut zu beschmieren – und ehe ich mich versehe, presst er seine Hand auf die Tücher in meiner Seite. Stöhnend fahre ich zusammen. Was ist denn nur mit diesem Arschloch los?
Ich hebe meine Hand, um ihn abzuwehren, aber wie nebenbei drückt er sie zurück auf den Boden und schüttelt bekräftigend seinen Kopf.
„Bewegen Sie sich lieber nicht. Es soll nicht noch schlimmer werden."
Im Endeffekt wäre mir das wahrscheinlich sogar lieber. Denn wenn es schlimmer wird, heißt das, dass ich verblute – was wiederum heißt, dass sich das ganze Problem von allein löst. Und dass ich dann mit diesem Kerlchen fertig werde, versteht sich ganz von selbst. Ich grabe die Fingernägel in meine Handflächen.
Nur mit Mühe gelingt es mir, die Augen zu öffnen, als ein Geräusch von draußen ertönt. Mein Atem hat sich zwar beruhigt, geht nur ein wenig flach, aber jetzt beginnt mein Brustkorb, sich wieder schneller zu heben.
Mittlerweile weiß ich immer noch nicht, wie ich von hier wegkommen soll. Leider brauche ich dringend eine Idee, im Anbetracht der Dinge, dass ich mir keine Geräusche einbilde – der Mann hat ebenfalls seinen Kopf gehoben – und es jetzt vermutlich mit noch mehr Leuten zu tun bekomme.
Als ich dumpfe Schritte höre, hebe ich meinen Kopf, aber er ist so schwer, dass ich ihn kaum richtig oben halten kann. Man kann doch nicht dermaßen die Kontrolle über seinen eigenen Körper verlieren, wenn man nicht gerade mit Medikamenten vollgepumpt ist.
„Harriet, wir sind hier!", ruft der Mann und zischend greife ich nach der Waffe neben ihm. Es ist wohl eher eine Verzweiflungstat, als eine wohl überlegte Handlung, aber er ist sowieso schneller. Mit einer fließenden Bewegung bringt er die Pistole aus meiner Reichweite.
„Bitte nicht, Sir. Sie ist sowieso nur auf mich zugelassen. Sie würden sich nur überanstrengen und das wollen wir doch nicht, richtig?"
Die Tür öffnet sich und eine Frau betritt den Raum. Ihre dunklen Haare sind zu einem lockeren Zopf gebunden, in der Hand hält sie eine glänzende Tasche und gehetzt richtet sie ihren Blick erst auf mich, dann auf den Hausbesitzer.
„Mein Gott." Sie kniet sich neben ihm nieder und er entfernt seine Hand. „Sagen Sie bitte nicht, dass Sie das waren, Wendell."
Der Mann lächelt. „Sie glauben, dazu wäre ich in der Lage?"
Sie antwortet nicht, sondern entfernt die Geschirrtücher und zieht mein Oberteil hoch. Hektisch atmend versuche ich, vor ihr zurückzuweichen. Der Mann, Wendell, erhebt sich aber, umrundet mich einmal und kniet sich dann wieder nieder. Jetzt bleibt mir so gut wie kein Fluchtweg mehr.
„Bleiben Sie ganz ruhig. Sie weiß, was sie tut, Sie haben nichts zu befürchten."
„Warum haben Sie eigentlich mich gerufen und keinen Krankenwagen – oder wenigstens Sicherheitsbeamte?" Die Frau hat ihre Tasche geöffnet und zieht ein Fläschchen, Watte und Tücher hervor. Mehr sehe ich nicht, denn mir wird schon wieder schwindelig.
„Haben Sie das heutige Programm auf VOBA gesehen?"
„Was glauben Sie denn?", erwidert sie leise. „Ich muss mir das nicht antun."
„Das verstehe ich, meine Liebe. Aber wie dem auch sei. Dieser gute Mann hier war das Diskussionsthema."
Ihre Hände halten schwebend über mir inne. Sie starrt ihn an.
„Was? Er ist ... das Projekt des SEA?"
„So wie sie das artikulieren, ja. Wahrlich, die feinen Leute waren ganz entzückt." Er hält inne und räuspert sich. „Verzeihen Sie, Harriet, aber ... nun ja, es blutet noch immer."
Sie blinzelt einmal und holt sich damit zurück aus ihrer Erstarrung. Während sie weitermacht, murmelt sie:
„Das bringt Sie noch in richtige Schwierigkeiten, Wendell. Halb Washington sucht nach ihm, ich wurde auf dem Weg hierher angehalten. Wissen Sie, was passiert, wenn auch noch die Bevölkerung eingeschaltet wird? Das kann nicht gut ausgehen."
„Keine Sorge, vertrauen Sie mir einfach. Wie viel Glück kann man denn haben?"
Sie arbeitet nur stumm weiter. Mir dagegen wird heiß und kalt gleichzeitig. Entweder liegt es am Blutverlust oder, was noch wahrscheinlicher ist, an der Tatsache, dass dieser Wendell mich erkannt hat. Verdammt!
Und als die Frau neben mir dann auch noch eine Spritze zur Hand nimmt und aufzieht, verflüchtigt sich meine Selbstbeherrschung völlig. Schmerz überrollt mich, als ich mich aufrichten will. Aber gegen den festen Griff des Mannes kann ich einfach nichts ausrichten. Wie kann so ein hageres Kerlchen nur solche Kraft haben?
„Ver- schwinden Sie", stoße ich keuchend hervor. „Weg! We- weg!"
„Bleiben Sie ganz ruhig, Sir", antwortet sie und greift nach meinem Arm. „Ich werde Ihnen nicht wehtun."
Dieses Gefühl kann ich bald nicht mehr ertragen. Das Gefühl, wach zu sein, aber trotzdem nichts ausrichten zu können. Wenn alles so schwer ist, wie es das auch war, als ich im Fluss auf den Grund gezogen wurde.
Ich balle meine Hand zur Faust und atme tief ein, um dem bleiernen Gefühl irgendwie zu entkommen. Wenigstens spüre ich das Ziehen in meiner Seite, was mich etwas beruhigt. Ich bin nicht mehr völlig betäubt. Vielleicht kann ich ja schon in wenigen Minuten etwas gegen meine Situation ausrichten. Ich kneife meine brennenden Augen zusammen und atme möglichst gleichmäßig durch. Wo bin ich hier überhaupt?
Ein leises Rascheln dringt zu mir und kurz darauf streicht ein Hauch kühler, frischer Luft über mein Gesicht. Ich drehe meinen Kopf in die Richtung, aus der sie kam und fülle mit ihr meine Lungen.
Nach und nach erwachen meine Lebensgeister wieder vollständig und ich bin in der Lage, meine Augen richtig zu öffnen. Für eine Sekunde scheint mein Gehirn nicht das verarbeiten zu können, was ich sehe, aber dann werde ich mir meiner Lage bewusst. Das Bett, in dem ich liege, wurde an die Wand des Zimmers gerückt, welches noch zusätzlich mit einem Kleiderschrank neben dem Fenster, einem Nachtschrank und einem blauen Sessel vor einem Bücherregal voll ausgestattet ist.
Anscheinend hegt hier niemand die Befürchtung, ich könnte einen dieser Wälzer als Waffe benutzen.
In der Luft liegt ein Geruch von Alkohol und ... angestrengt suche ich nach dem richtigen Wort. Zimt! Ich schaue mich noch einmal um, kann aber nicht erkennen, woher das kommt.
Dann erst bemerke ich den seltsamen Druck in meinem Ellenbogen. Ich drehe meinen Kopf und sehe erst den Verband an meinem Handgelenk, dann die Nadel in meiner Haut, welche durch einen dünnen Schlauch mit einem Beutel verbunden ist, welcher improvisatorisch zwischen Bett und Nachttisch aufgehängt wurde.
Schnell hebe ich meine andere Hand und entferne erst die dünnen Pflasterstreifen, dann die Nadel. Vorsichtig. Trotzdem verziehe ich mein Gesicht. Das Blut, das jetzt hervorquillt, veranlasst mich zwar nicht zur Panik, aber vielleicht sollte ich dennoch etwas dagegen tun.
Ich winkel meine Arme an, um mich vorsichtig aufzusetzen. Ein scharfes Ziehen entsteht dabei in meiner Seite und ich muss tief durchatmen, um den aufkeimenden Schwindel zu überwinden. So ein Dreck!
Ich bin so gut wie hilflos. Sollten hier Leute des SEA oder des Sicherheitsamtes hereinstürmen, hätte ich nicht den Hauch einer Chance. Entschlossen schiebe ich die Bettdecke zur Seite und ziehe das graue Shirt hoch, welches ich trage. Ein dicker Verband schlingt sich um meinen Oberkörper und drückt genug Druck aus, um wahrscheinlich zu verhindern, dass die Wunde wieder aufreißt.
Ich hebe meine Hand an etwas Raues hinter meinem Ohr - ein Pflaster - und verziehe grimmig mein Gesicht. Es kommt gar nicht infrage, dass ich hier liegen bleibe, bis man mich abholt. Am Ende auch noch mit einer ganzen Polizeieinheit.
Tief atme ich durch, dann hebe ich mein rechtes Bein über die Bettkante. Zuerst gilt es, herauszufinden, wo ich hier liege und warum ich hier liege. Dieser Mann – wie hieß er noch gleich? – hätte einfach die Polizei rufen und somit jedes Problem aus der Welt schaffen können. Andererseits ... hat er nicht gesagt, so viel Glück wie er könne man gar nicht haben? Was hat er damit gemeint?
So langsam erinnere ich mich wieder an die Geschehnisse nach meinem Einbruch. Wendell. So hieß er.
Mein linkes Bein folgt und ich starre auf den Fußboden. Die Dielen sind so sauber, dass man sich fast darin spiegeln kann. Ein Bluttropfen stört das Bild, dann ein zweiter. Ich presse meinen Arm ein wenig mehr gegen den Körper. Meine Augen wandern zur Tür, dann stütze ich mich auf. Den Atem anhaltend stehe ich für einen Moment ein wenig schwankend da, mich fast verkrampft an dem Nachttisch festhaltend. Doch dann knicken meine Beine ein und ich lande mit den Knien voran auf dem Boden.
Ich stoße die angestaute Luft aus und balle ich meine Hände zu Fäusten. Ein Atemzug. Zwei Atemzüge. Drei ...
Noch ein Versuch. Ich ziehe mich wieder hoch und unterdrücke ein aufkommendes Stöhnen. Wie kann das denn noch so wehtun? Zwar weiß ich nicht, in welchem Zustand ich mich verhältnismäßig befinde – ich bin auf jeden Fall froh, mich überhaupt bewegen zu können –, aber wie soll ich so auch nur gegen einen Gegner etwas ausrichten können?
Ich atme tief ein, zähle in Gedanken bis zehn, dann stoße ich mich von dem Nachttisch ab und stolpere auf das einen Spaltbreit geöffnete Fenster zu. Gerade noch so, kann ich mich am Sims festhalten, bevor ich wieder stürze.
Mein Gesicht halb hinter den Vorhängen verbergend werfe ich einen Blick nach draußen. Im Erdgeschoss bin ich auf jeden Fall nicht. Bei einem Sprung würde ich mir vielleicht nichts brechen – wenn ich nicht verletzt wäre –, sehen würden mich aber auf jeden Fall mindestens die Nachbarn.
Wenigstens entdecke ich keine verdächtigen Schatten, welche sich auf das Haus zubewegen.
Ich passiere das Fenster, lehne mich gegen den dunklen Kleiderschrank und nehme den Sessel in Augenschein. Wenn ich den erreicht habe, bin ich schon so gut wie bei dem bis zur Decke reichenden Bücherregal angelangt. Dann noch eines von den Dingern und ich stehe nicht mehr mit völlig leeren Händen da.
Als ich diesmal ohne jede Stütze gehe, sacke ich wieder zusammen. Kurz vor meinem Ziel, aber das tut dafür umso mehr weh. Ich Idiot hätte von Anfang an nach einem Weg suchen sollen, zu sterben, dann würde ich mich jetzt nicht in dieser misslichen Lage befinden. Wahrscheinlich hätte ich schon längst die Stadt verlassen können und würde kein Gefangener in diesem Zimmer sein.
Mir bleibt fast die Luft weg, als ich mich am Sessel hochziehe. Aber ich beiße die Zähne zusammen und starre auf die schwankenden Bücherrücken. Es wäre doch gelacht, wenn diese kurze Entfernung ein Hindernis für mich darstellen würde.
Plötzlich ertönen dumpfe Schritte auf der anderen Seite der Tür. Dem Klang nach befindet sich die Person auf einer Treppe, unausweichlich näherkommend.
Die letzten vier Schritte überwinde ich so schnell wie möglich und ziehe das erstbeste Buch heraus. Soll es nur jemand wagen, diese Tür zu öffnen. Ich drehe mich zu ihr und stütze mich am Regal ab.
Die Schritte werden lauter, dann verstummen sie ganz. Entweder ist derjenige auf dem Treppenabsatz stehen geblieben oder – es klopft drei Mal – da draußen liegt ein Teppich.
Die Tür schwingt auf und der Mann von gestern Abend betritt den Raum. Ich hebe das Buch, aber er hat bereits das leere Bett gesehen und dreht sich zu mir. Helle Augen – eingelassen in einem blassen Gesicht, umrahmt von fast weißblonden Haaren – lassen mich förmlich erstarren.
„Guten Morgen, Sir. Sie haben sich also schon umgesehen?" Er nickt mir knapp zu. „Das ist im Übrigen eine Enzyklopädie von Christian Ewing. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie sie nicht beschädigen."
„Was?", stoße ich krächzend hervor und bedenke erst das Buch mit einem verwirrten Blick, dann ihn.
Er lächelt. „Haben Sie Hunger? Es wäre zwar gegebenenfalls besser, Sie bleiben vorerst noch im Bett, gerade aufgrund der benötigten Infusion, die Sie so ohne Weiteres entfernt haben, aber ich kann Ihnen das Frühstück auch bringen."
Ich merke gar nicht, wie ich das Buch sinken lasse. Ich starre ihn einfach nur verwirrt an und ziehe in Erwägung, ob das ein Täuschungsmanöver ist, um mich hinzuhalten. Vielleicht hat er ja auch vorhin erst jemanden gerufen, der mich jetzt wieder einsammeln soll.
„Oh, verzeihen Sie bitte meine Unhöflichkeit. Ich bin Wendell Capryse", fährt er fort, wohl, um das Schweigen zu überbrücken. Capryse also. „Ich bin der Bewohner des Hauses, in welches Sie vorgestern eingebrochen sind und ich habe beschlossen, dem SEA keinen weiteren Gefallen zu tun."
„Einen ... einen Gefallen?", wiederhole ich leise.
Wendell Capryse geht durch den Raum zum Fenster und zieht die Vorhänge richtig zu.
„Drücken wir es doch so aus: Nachdem ich dieser Firma fast fünfundzwanzig Jahre lang treu gedient habe, ist der Leitung nichts Besseres eingefallen, als mich in den Dreck zu stoßen." Für einen Moment nimmt seine Stimme eine Schärfe an, die mich das Buch wieder heben lässt.
Als er sich wieder zu mir dreht, lächelt er aber genauso freundlich wie zuvor.
„Glauben Sie, da liefere ich Sie an Cornelius aus? – Ich bitte noch einmal vielmals um Verzeihung, ich bin heute ein wenig durcheinander. Mr. Summit."
Er kennt tatsächlich Summit. Hat sogar für ihn gearbeitet. Wie viel Pech kann man eigentlich haben?
„Das würde sich sicher für Sie lohnen", bringe ich stockend zur Sprache. Mein ganzer Oberkörper scheint in Flammen zu stehen und ich schwanke immer heftiger.
Capryse faltet seine Hände. „Sobald Ihre Flucht zugegeben wird, wächst die Belohnung sicher in die Höhe, da bin ich mir sicher. Aber das braucht Sie nicht zu beunruhigen, ich habe genug Geld."
„Sie sagten, dass ... Sie sagten, so viel Glück könne man gar nicht haben." Ich erinnere mich nicht genau an den Wortlaut, aber das war auf jeden Fall der Inhalt seiner Feststellung.
„Damit meinte ich ja wohl Sie. Nicht mich", antwortet er. „Ein Streifschuss ..." Er legt seinen Kopf ein wenig zur Seite. „Zugegeben, es war ein wenig übler als ein Streifschuss. Dazu kommt aber sicher noch, dass Sie damit weiterhin durch die Stadt gelaufen und sogar in den Anacostia gefallen sind, dem Zustand Ihrer Kleidung nach zu urteilen, und damit eine beträchtliche Unterkühlug davongetragen haben. Ein Wunder, dass Sie das überlebt haben und dann noch den Mann finden, der Ihnen hilft."
„Es wäre mir lieber gewesen, ich wäre gestorben", zische ich und funkel ihn an. Er soll endlich mit der Sprache herausrücken, was er eigentlich von mir will.
„Wirklich?"
Der Mann bedenkt mich mit einem solchen Blick, dass mir jede Erwiderung im Hals stecken bleibt.
Natürlich wäre mir das lieber gewesen. Dann würde ich jetzt nicht hier stehen. Und ich würde auch das richtig können, ohne befürchten zu müssen, jeden Moment umzukippen. Warum muss es auch so wehtun?
Der Kerl hat doch selbst gesagt, es war nur ein Streifschuss. Könne ich die Zeit zurückdrehen, würde ich das Ganze definitiv anders aufrollen. Da wäre mir meine Aufmachung erst einmal egal gewesen und ich hätte schon heute ... mir bleibt die Luft weg.
„Sagten Sie vorgestern?"
Der Mann sieht mich ein wenig bedauernd an. „Oh ja, in der Tat. Ihr Zustand war äußerst besorgniserregend. Sie sind den gestrigen Tag über nicht einmal zur Besinnung gekommen. Umso erstaunlicher, dass sie jetzt schon das Bett verlassen konnten. Auch wenn ich anmerken muss – ohne Sie persönlich angreifen zu wollen –, dass Sie einen ausgesprochen unpässlichen Eindruck erwecken. Hören Sie auf mich, wenn ich Ihnen sage, dass Sie sich für solche Aktionen keinesfalls schon genug erholt haben."
Ich kneife meine Augen zusammen. Was labert der Kerl da? Unpässlicher Eindruck?
Ich taumel ein wenig und ja, ich habe das Gefühl, als würde es mich zerreißen. Aber ich bin doch nicht so schwach und erst recht habe ich keinen ganzen Tag verschlafen. Nur wegen einer Unterkühlung und Blutverlust. So viel war das doch jetzt auch wieder nicht.
Tief ziehe ich Sauerstoff in meine Lungen und kralle mich an das Regal in meinem Rücken, als der Raum für einen Moment verschwimmt. Auf keinen Fall darf ich mich jetzt irgendeiner albernen Schwäche hingeben, da kann ich mich auch gleich selbst ausliefern.
„Wollen Sie sich nicht wieder hinlegen?", fragt Capryse, der mir direkt in die Seele zu schauen scheint.
Meine Augen wandern zurück zu dem Bett. Auf der anderen Seite des Zimmers. Jetzt erst merke ich, wie schwer meine Beine wirklich geworden sind.
„Geben Sie mir das Buch. Dann bringe ich Ihnen ein Pflaster, damit Sie mir bis dann nicht doch noch verbluten, und Sie legen sich derweil wieder hin. – Ich kann Ihnen gerne helfen." Seine Mundwinkel zucken.
„Das schaffe ich auch alleine" fauche ich ihn an.
„Natürlich." Er streckt seine Hand nach dem Buch aus und sieht mich abwartend an. Ich gebe mich geschlagen und reiche es ihm. Langsam. Sollte er auch nur Anstalten machen, mir zu nahe zu kommen, sind mir die Schmerzen erst einmal egal.
Den Weg zurück durch das Zimmer muss ich aber immer noch irgendwie überwinden. Und solange sich meine Finger nicht von dem Holz des Regals lösen, komme ich auch nicht von hier weg. Gleichzeitig bezweifle ich nun doch, überhaupt noch einen Schritt tun zu können. Wahrscheinlich sacke ich noch auf dem ersten Yard zu Boden.
„Ich würde meinen, ich schaue erst einmal nach Ihrem Frühstück." Capryse legt das Buch auf die Armlehne des Sessels und verlässt den Raum. „Eine Stärkung könnten Sie ganz gut vertragen."
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