„Wenn, dann jetzt."
Nach Palmer dauert es knappe dreißig Sekunden, ehe das Narkosemittel anfängt zu wirken. Im Moment sind wir bei Sekunde zehn und verkrampft starre ich auf den Boden, in der Hoffnung, die kleine Vorführung schlägt fehl oder eine Bombe schlägt ein, die das alles hier überflüssig macht. Denn zu einhundert Prozent wäre ich der einzige Überlebende und das an sich wäre für den Anfang eine Menge wert.
20 Sekunden. Ich presse meine Kiefer zusammen und blinzle, aufgrund des verschwommenen Randes meines Sichtfeldes. Ersteres stelle ich aber wieder ein und öffne meinen Mund, um besser atmen zu können. Zwar bin ich froh, dass sich diese Irren nicht für ein Messer oder Ähnliches entschieden haben, aber wer weiß schon, was sie tun, wenn sie erst einmal auf den Geschmack gekommen sind, immer und immer wieder zu töten und immer und immer wieder anzusehen, wie der Tote wieder aufsteht.
25 Sekunden. Der ganze Raum sieht wie ein frisches Gemälde aus, welches in Wasser getaucht wird. Alles verzerrt sich und zitternd registriere ich das schwere Gefühl in meiner Brust. Scheiße! Ich nehme einen tiefen Atemzug, aber die Luft scheint meine Lungen nicht mehr zu erreichen. Trotzdem bleibe ich möglichst aufrecht stehen und gebe mir die allergrößte Mühe, mir keine Blöße zu geben – das hätten diese Arschlöcher gerne.
Und plötzlich kippt die Bühne nach vorn und schnell hebe ich meine Hände, um mich irgendwo festzuhalten, bevor ich wegrutsche. Es ist Palmers Schulter, die ich erwische.
„Bleiben Sie ganz ruhig, Vincent", flüstert er und geht in die Hocke.
Idiot. Was glaubt der, weshalb ich mich an ihm festhalte?
In dieser Lage ist die Chance zudem geringer, auch nur ein Quäntchen Sauerstoff abzubekommen. Wenn er wenigstens ein bisschen ...
„Nun, meine Damen und Herren – Mrs. Forbes –, das sollte Sie alle überzeugen. Verehrter ehrwürdiger Vater" Summit legt eine kleine Pause ein. „Ich hoffe sehr, alles war zu Ihrer Zufriedenheit. Sollten Sie weitere Wünsche haben, ist es mir eine Ehre, diese erfüllen zu dürfen. – Für den großen ehrwürdigen Vater. Reinheit, Tapferkeit, Wachsamkeit."
„Für den großen ehrwürdigen Vater. Reinheit, Tapferkeit, Wachsamkeit", wiederholt der Saal. Jetzt glaube ich endgültig, hier im falschen Film zu sein.
„Geht es Ihnen gut?" Palmer will mir aufhelfen, aber ich schlage seine Hände weg.
„Als ob Sie das interessiert", zische ich zur Antwort, bevor ich selbst zurück auf die Beine komme.
Summit grinst derweilen triumphierend in die Runde. „Nach dieser erfolgreichen Darstellung einiger unserer derzeitigen Arbeiten, will ich nicht noch weiter ausschweifen und Sie von Ihrem wohlverdienten Abendessen abhalten."
Und das ist wirklich das Unglaublichste, was ich jemals gesehen habe, mir fallen fast die Augen aus dem Kopf. Während sich zwei Wachen rechts und links von mir positionieren, werden an den Wänden Tischen voller Platten, Schüsseln, einem Schokobrunnen und – ich muss zweimal hinsehen – eine goldene Schale, in deren Mitte ein waschechter Tiger präsentiert wird, aufgestellt.
Ich starre die tote Raubkatze an, welche allein auf ihrem Rücken kein Fell mehr hat, wohl, um sich Stücke des Fleisches herausschneiden zu können. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Erst recht, da die herausgeputzten Leute nicht einmal annähernd überrascht aussehen.
Ein munteres Summen erfüllt den Raum, als sich das Publikum nach und nach erhebt, um sich zum Buffet zu begeben. Tief atme ich durch. Da ich davon ausgehen kann, erst später etwas zu bekommen – wenn überhaupt –, verlagere ich mein Gewicht, um etwas bequemer stehen zu können und verlege mich darauf, die kleinen quadratischen Plättchen des Bühnenbodens zu zählen. Es reicht schon zu wissen, angegafft zu werden wie ein Affe im Zirkus. Sehen muss ich es nicht auch noch.
Unter meinen Lidern hervor bemerke ich Summit, welcher sich nahe der Bühne mit einer Frau und einem weiteren Mann aufgestellt hat. Bei ihr handelt es sich, wenn ich mich richtig erinnere, um Mrs. Tearson. Ihn kenne ich nicht.
„Genießen wir die Show?"
Ich blicke zur Seite. Clyde kommt auf mich zu, ein lässiges Grinsen auf seinen Lippen. Als er sich neben mich stellt, nickt er den beiden Männern, die mich flankieren, zu.
„Schön aufpassen. Nicht, dass er sich auf einen der Gäste wirft."
„Wir sind keine Amateure", erwidert der Mann zu meiner Linken mit eiserner Stimme.
Clyde zwinkert. „Aber natürlich." Dann mustert er mich. „Weißt du, was ich mich schon immer gefragt habe?"
Ich schweige und er fährt fort:
„Was würde wohl passieren, wenn man dich einfach" Er führt seinen Zeigefinger über die Kehle. „enthaupten würde? Würde sich dein Körper oder dein Kopf regenerieren? Und wenn es dein Kopf wäre – wem würde dann das Gehirn gehören? Wäre das immer noch von dir, wäre das immer noch deine Seele?" Er grinst. „Was glaubst du?"
Ich starre ihn an. „Hörst du dir eigentlich mal zu?", erwidere ich zischend.
Sofort bekomme ich einen Stoß in die Seite.
„Still! Du hast keine Erlaubnis zu sprechen."
Ich funkel den Wachmann an. „Du ..."
Vor Wut fällt mir gar nicht erst etwas ein, was ich ihm an den Kopf werfen könnte. Clydes süffisantes Grinsen wird noch ein wenig breiter.
„Nimm deine Unterlegenheit einfach hin und füge dich. Dann wird die nächste Zeit auch ein wenig einfacher. Für uns alle." Mit einem leisen Lachen lässt er mich stehen.
Ich drohe, zu stolpern, kann mich aber gerade noch so halten. Definititv habe ich nicht erwartet, dass es so lange gehen wird. Vor einem der Fenster des Raumes war es sogar schon dunkel geworden, trotz all der bunten Lichter der Stadt. Ich hatte schon öfter ziemlich lange an einer Stelle in einer Position verharren müssen, aber heute habe ich mich allgemein nicht besonders wohlgefühlt und all die Gespräche, Diskussionen und Begutachtungen über mich und von mir haben das nicht gerade besser gemacht. Mit dem Ergebnis, dass ich mich schon fast auf meinen Schlaf freue.
„Ist alles in Ordnung?"
Ich hebe meinen Kopf und begegne den dunklen Augen Palmers, welcher sich im Laufen zu mir umgedreht hat. Ich antworte nicht, sondern schaue einfach wieder auf meine Füße. Zum einen, weil ich nicht die geringste Lust verspüre, wieder auf eine seiner ach so scheinheiligen Fragen zu antworten, zum anderen, damit ich nicht noch einmal in Gefahr laufe, mir selbst ein Bein zu stellen.
Diesmal steuern wir einen anderen Gang an. Vermutlich ist ein Raum unser Ziel, in dem ich nicht besonders viel anrichten kann. Clyde, welcher uns begleitet hat, wendet sich – dort angekommen – auch direkt an die zwei Wärter, die mich den ganzen Abend über nicht einmal aus den Augen gelassen haben.
„Ab hier übernehme ich, vielen Dank."
Bevor einer von ihnen antworten kann, greift er grob nach meinem Arm und zieht mich durch die nächstliegende Tür. Das Zimmer hat tatsächlich kein Fenster, was ich irgendwie einschlagen könnte. Trotzdem habe ich bei Clydes Blick ein ziemlich mieses Bauchgefühl.
„Dr. Palmer, Ihr Einsatz." Der Mann löst die Ringe an meinen Gelenken, stößt mich weiter in den Raum und lässt den Arzt an sich vorbeigehen. Die zwei Wärter vor der Tür schnauben kurz, dann gehen sie wortlos.
„Entblößen Sie Ihren Unterarm und setzen Sie sich am besten gleich auf das Bett. Es wirkt sehr schnell."
Ich blicke zu Clyde, welcher grinsend seine Arme verschränkt hat.
„Warum, was ..."
„Tun Sie es einfach!" Palmer drückt mich bestimmt auf die Bettkante nieder und beugt sich zu mir. „Wenn Sie mir eine runterhauen, müssen Sie sich gleich auf ihn werfen. Solange er noch unachtsam ist", flüstert er.
Ich erstarre. Verwirrung macht sich in mir breit und verständnislos sehe ich ihn an.
„Was?"
Der Arzt zieht die Kanüle der Spritze auf. „Den Ärmel hochziehen! Soll ich es noch einmal sagen?"
Sein berechnender Blick trifft mich. „Und wenn Sie es tun wollen, dann jetzt!", zischt er leise.
Er hält die Spritze ins Licht und schnippt zweimal dagegen. Es tun? Hat er gerade ...
Ich sehe wieder an ihm vorbei zu Clyde. Völlig egal, was da gerade vor sich geht, eine Chance ist das aber auf jeden Fall. Nur er und Palmer. Etwas, was ich durchaus bewältigen kann.
Ich spanne mich an. Dann, als sich Palmer wieder zu mir beugt, springe ich auf und stoße ihn mit aller Kraft nach hinten. Der Arzt stolpert gegen Clyde, der ihn sofort von sich stößt und an seine Hüfte greift.
Aber ich bin schon bei ihm und lasse meine Faust gegen seinen Kiefer, dann in seinen Magen krachen. Er stürzt zu Boden. Bevor er sich wieder aufrichten kann, hebe ich meinen Fuß und ramme ihn in sein Gesicht. Mit voller Wucht schlägt sein Kopf auf dem Boden auf und regungslos bleibt er liegen. Ich trete ein zweites Mal zu, um auch wirklich sicher zu gehen. Zufrieden bemerke ich die wieder in Schräglage gebrachte Nase.
„Bringen Sie ihn nicht um, er steht nicht wieder a-"
Bevor Palmer zu Ende sprechen kann, wirbel ich herum, packe ihn an seinem Kragen und drücke ihn mit solcher Wucht gegen die Wand, dass ihm die Spritze aus der Hand fällt. Mit einem leisen Klirren landet sie auf dem Boden und rollt ein kleines Stück weiter.
„So, und jetzt sagst du mir, warum ich dich nicht hier und jetzt erschlagen soll!", fauche ich.
Ruhig sieht mich Palmer an. Er versucht gar nicht erst, sich zu befreien.
„Vielleicht, weil Sie dann den Weg aus diesem Gebäude nicht alleine finden werden. Ich verhelfe Ihnen gerade zur Flucht, Vincent. Denken Sie einmal nach."
Ich verstärke den Druck ein wenig. „Und warum? Warum jetzt? Gelegenheiten hat es doch sicher auch dort gegeben."
Der Kehlkopf des Arztes wippt nervös auf und ab.
„Vielleicht, weil das alles von Anfang an falsch war und ich das einfach nicht mehr kann."
„Aber warum jetzt?", wiederhole ich lauter.
Er funkelt mich an. „Glauben Sie, es bleibt bei Ihnen?", stößt er hervor. „Es gab noch ein Portal und es wird sicher auch noch mehr geben. Wir sind bisher das einzige Unternehmen weltweit, das sich ernsthaft mit paranormalen Strömungen beschäftigt. Wer weiß schon, wie viele es bis jetzt aus einer völlig anderen Welt hierher verschlagen hat, von denen weder wir etwas wissen noch sonst jemand auch nur irgendetwas ahnt. Allein Europa würde so einen kleinen Vorteil gewissenhaft für sich behalten – so wie wir. Es wird mehr geben und an ein Kind werde ich mich ganz sicher nicht vergreifen."
Mein Atem stockt. Ein Kind?
„Also ist es in Ordnung, wenn es nicht um ein Kind geht?" Meine Wut brennt tief in meinen Eingeweiden. „Deine Moral kannst du dir sonst wohin ..."
„Über Moral sollten Sie mich nicht belehren!", herrscht er mich an. „Das Mädchen mag zwar nicht so sein wie Sie, aber irgendwann wird es auch so weit kommen, dass es in einem Operationssaal landet, aus welchem Grund auch immer. Ich mag zwar sehr lange nachgiebig gewesen sein, aber weiter gehe ich definitiv nicht. Wenn ich Ihnen schon Leid zugefügt habe, dann werde ich Ihnen auch helfen zu entkommen."
„Warum habe ich das Gefühl, dass es dir nicht allein darum geht?", knurre ich.
„Vielleicht weil Sie recht haben. Und viel zu lange war ich der grausame große Bruder. Haben Sie eine Ahnung, was das für eine ... eine Einsamkeit mit sich bringt, wenn man außerhalb des Arbeitsplatzes an hinterster Stelle steht und doch genau weiß, weshalb?" Jetzt ballt der Arzt seine Fäuste. „Das Kind kann ich sobald vielleicht nicht retten, Sie kann ich jetzt aber hier rausbringen." Er nickt zur Tür. „Gehen Sie zweimal nach rechts und dann so lange geradeaus bis Sie das Treppenhaus erreichen. Um diese Zeit sollte niemand dort sein."
Tief atme ich durch, immer noch mit dem Gedanken spielend, einfach beide umzubringen. Dann lasse ich ihn aber los, drehe mich um und gehe.
„Warten Sie! Sie müssen ... Sie müssen mir noch einen Gefallen tun."
Ich glaube, mich zu verhören. Langsam drehe ich mich zu ihm um. „Wie bitte?"
„Sie müssen mir noch einmal helfen. Und nehmen Sie Mr. Clydes Jacke und Schuhe, wenn Sie nicht sofort auffallen wollen."
Mein Blick wandert zu dem bewusstlosen Wachmann, dann wieder zu Palmer.
„Was meinst du mit helfen?"
Der Doktor wirft einen Blick zur Tür. „Auf dem Gang sind Kameras. Wenn es nicht den Anschein erweckt, als würde ich Sie aufhalten wollen, ist denen schnell klar, was passiert ist. Und dann ..."
Ungläubig sehe ich ihn an. „Das ist jetzt nicht dein Ernst", unterbreche ich ihn. Ich stoße ein Lachen hervor. „Wie kann man nur so feige sein?"
Tief atmet der Arzt durch.
„Haben Sie eigentlich eine Ahnung, wie das hier abläuft? Mit dem Sicherheitsamt in diesem Land ist nicht zu scherzen. Sie finden Sie. Und wenn sie es nicht tun, dann Mr. Summit. Drei Mal dürfen Sie raten, was er Ihnen hat implantieren lassen."
Ich starre ihn an. „Einen ... wirklich? Einen Sender?"
Der Mann nickt und entfernt sich ein Stückchen von der Wand. „Laut des Sicherheitsamtes hatten Sie bei Ihrer Ankunft einen ziemlich alten in Ihrem Nacken. Der jetzige ist in Ihrem linken Handgelenk."
Ich hebe meinen Arm – als würde ich so den Sender unter der Haut sehen können.
„Sie wissen, dass ich die Wahrheit sage, Vincent."
„Ach. Tu ich das?"
„Riskieren Sie lieber, mir nicht zu glauben?", erwidert der Doktor. „Lassen Sie Ihre Wut auf mich an mir aus, gehen Sie den Weg, den ich Ihnen beschrieben habe und verschwinden Sie!"
Spöttisch schnaube ich. „Was, wenn ich Ihnen nicht ein Haar krümme?"
„Dann bringe ich Sie dazu. Ich weiß, wo ich hinschlagen muss, enttäuschen Sie mich also bitte nicht, Vincent", erwidert Palmer unbeeindruckt.
Meine Hände ballen sich zu Fäusten. „Wo ist denn der sonst so beherrschte Doktor?", zische ich.
„Im Moment versuche ich nur, Sie aufzuhalten."
Er tritt tatsächlich auf mich zu und lässt seine Faust auf mich zuschnellen. Ich weiche zur Seite aus und erwidere den Angriff. Im Gegensatz zu ihm treffe ich. Palmer taumelt zur Seite, bleibt aber stehen.
„Na also. Geht doch. Sollte man Sie wieder einfangen, verspreche ich Ihnen ..."
Ein zweiter Schlag in sein Gesicht folgt. Dann weicht mir für eine Sekunde sämtliche Luft aus den Lungen und ich sacke auf die Knie. Das Ziehen knapp unter meinen Rippen lässt mich nach Luft schnappend vornüberbeugen.
„Plexus Solaris", murmelt Dr. Palmer. „Hätte ich richtig zugeschlagen, wäre es wirklich unangenehm geworden. Jetzt können Sie aber wenigstens noch ..."
„Halt die Schnauze!", unterbreche ich ihn keuchend, stoße mich auf die Beine und ramme mit voller Wucht gegen ihn.
Ein Krachen ertönt, als die Zimmertür gegen die Wand schlägt und wir auf den Flur stolpern. Schnell befreit sich Palmer von mir, aber er ist etwas zu langsam. Ich treffe seine Schläfe und er wankt nach hinten. Angestrengt blinzelt er und hebt seine Hände.
„Ganz ruhig, das rei-"
Ich greife nach seinem Haarschopf und schlage seinen Kopf gegen die Wand hinter ihm. Lautlos sackt der Mann in sich zusammen. Kurz noch bleibe ich stehen, um sicherzugehen, dass er noch lebt, aber auch nicht wieder aufsteht.
Er hat es tatsächlich getan. Noch immer völlig fassungslos stolpere ich zurück in den Raum, in welchem noch Clyde liegt und entledige ihn – mit einiger Mühe – von seiner Jacke. Sobald ich den Reißverschluss zugezogen habe, ziehe ich ihm auch die festen Schuhe von den Füßen. Sie sind mir zwar ein wenig zu eng, aber das ist nichts, was problematische Auswirkungen haben könnte.
In dem Moment, in dem Clyde ein leises Stöhnen von sich gibt, trete ich wieder auf den Gang und laufe so schnell wie möglich in die von Dr. Palmer angegebene Richtung.
Auf meinem Weg begegne ich keiner Menschenseele, nur das stetige Blinken der Überwachungskameras verfolgt mich. Aber die ganze Zeit über bleibt es trotzdem ruhig. Kein Alarm geht los und niemand stürzt sich aus dem Schatten auf mich.
Dann erreiche ich endlich das Treppenhaus. Palmer hatte recht, es ist tatsächlich ausgeschildert. Ich stoße die breite Tür auf und und trete auf die von Neonlichtern erhellten Stufen. Das Zufallen der schweren Tür hallt laut in dem Treppenhaus nach und schnell setze ich mich in Bewegung.
Die Anzahl der Stufen ist schier unglaublich. Nach jeder weiteren Kurve eröffnet sich mir ein weiterer, schmaler Treppenabsatz. Und das ohne Aussicht auf ein Ende.
Anstatt die Treppen, verlege ich mich daauf, die Türen der einzelnen Etagen zu zählen. Gleichzeitig muss ich aber aufpassen, dass sich diese nicht unversehens öffnen oder mir jemand entgegenkommt. Stufe für Stufe bringe ich hinter mich. Dabei werde ich trotz der gebotenen Vorsicht schneller und habe es mehrere Male allein meinem lockeren Griff an dem metallenen Geländer zu verdanken, dass ich in den Kurven nicht durch den Schwung gegen die Wand stolpere
Und dann – ich glaube schon, für immer in diesem Treppenhaus festzusitzen – erreiche ich endlich den letzten Abschnitt. Sofort werde ich noch schneller. Da ist die Tür. Die letzten Stufen überspringe ich, dann stoße ich sie auf.
Es ist zwar spät am Abend, aber die Straße, auf welche die Gasse zuführt, bei der ich rausgekommen bin, wird dennoch in verschiedenfarbiges Licht getaucht.
Im selben Moment werde ich auf ein rotes Flackern in meinem Augenwinkel aufmerksam. Ein kleines, rundes Lämpchen blinkt munter vor sich hin. Erschrocken stürze ich vor in die Seitengasse und auf die helle Straße zu. Durch das Öffnen der Tür ist vermutlich ein stummer Alarm ausgelöst worden.
Sobald ich den Bürgersteig erreicht habe, mische ich mich unter die ersten Passanten, welche sich von dem riesigen Gebäude entfernen. Den Kopf tief gesenkt hoffe ich, dass mich niemand aus der Fernsehübertragung wiedererkennt. Fast automatisch setze ich meine Schritte schneller und sehe mich nach einer Gelegenheit um, mich zu verstecken.
Ohne es zu wollen werde ich dabei immer wieder von den flimmernden Reklameanzeigen, den in den Augen brennenden Neontafeln und den auftauchenden und wieder verschwindenden Personen und Bilder über der Straße abgelenkt. Sogar eines dieser ovalen Luftschiffe schwebt bedrohlich zwischen den Hochhäusern hindurch.
Und da ... mit großen Augen starre ich die Gruppe von Soldaten an. Sie marschieren nicht mit eisernen Mienen voran, vielmehr setzen sie einen schwankenden Schritt nach dem anderen. Ausgelassen lachen sie und einer von ihnen schwenkt eine kantige Flasche in der Hand. Trotz der olivgrünen Hosen und Jacken mit goldenen Aufschlägen, der breiten Kappen und den Pistolengürteln sehen sie eher aus wie eine Horde Teenager. Nicht wie die kampferprobten Krieger, die sie sind.
„Mum, was tun die hier?", höre ich die leise Stimme eines kleinen Jungen. „Müssen die nicht kämpfen?"
„Die tapferen Männer sind von der Front zurückgekehrt. Sie tun alles, um unser Land zu schützen, begegne ihnen immer respektvoll."
Stumm mustere ich den Jungen, der die Gruppe mit leuchtenden Augen verfolgt. Ehe ich in Gefahr laufe aufzufallen, setze ich meinen Weg durch diese atemberaubenden Straßen fort
Erst eine aufheulende Sirene lässt mich weiter an die nächste Hauswand rücken und dort weiterlaufen. Drei wuchtige, schwarze Fahrzeuge rasen vorbei auf den über die umliegenden Gebäude ragenden Wolkenkratzer zu. So schnell schon sind sie an Ort und Stelle?
Wie ein Stoß in die Magengrube fällt mir der Sender in meinem Handgelenk ein. Wenn ich den nicht loswerde, war's das mit der Flucht. Fieberhaft überlegend sehe ich mich um. Es muss doch hier irgendwo eine Möglichkeit geben, aus der Sache herauszukommen!
Nervös streiche ich mir über die Unterseite des linken Handgelenkes, in welchem nach Palmer der verräterische Sender steckt. Ich schlucke und halte mich weiterhin möglichst nahe an den Hauswänden. Die Begegnung mit den Soldaten hat meine Nervosität sowieso schon gesteigert.
Ich erreiche eine Straßenkreuzung und – sehe rechts von mir ein breites, noch schillernderes Gebäude stehen, in welches die Leute strömen wie Bienen in ihren Bienenstock. Ein Kaufhaus.
Ich zögere nicht lange und folge ihnen. An einen Jugendlichen mit seltsamer Kleidung dränge ich mich, dort angekommen, vorbei und bleibe dann etwas überrumpelt im Eingang stehen.
Vor mir erstreckt sich sich ein einziger kreisrunder Raum. Ja, der ist gefüllt mit den verschiedenartigsten Menschen, Läden und mehreren Etagen – von denen sich aber einfach nur breite Galerien an den oberen Abschnitten der darunterliegenden Geschosse entlangziehen, so dass ich die mindestens 20, wenn nicht sogar 30 Yards entfernte Glaskuppel sehen kann – trotzdem ist der Anblick des weiten Raumes echt beeindruckend.
Meine Augen wandern zu den Fahrstühlen und Rolltreppen, die die Stockwerke verbinden. Sicher gibt es auch normale Treppen, die kann ich hier aber nicht sehen.
Ein Rempler an meiner Schulter holt mich aus meiner Erstarrung. Ich folge den Leuten weiter in die große Vorhalle und hoffe dabei auf irgendetwas, was mir weiterhelfen kann. Das gibt es hier sicher, aber ob ich das auch finde, bevor man mich findet, ist eine ganz andere Frage.
Ich steuere auf die erste Einkaufsmeile zu und mustere die Läden links und rechts von mir. Obwohl der Abend schon fast in die Nacht übergeht, treiben sich hier noch wahre Massen von Männern, Frauen und sogar Kindern herum. Von einem Krieg gegen Europa ist hier nichts zu bemerken – genauso wenig wie von der Armut, die mir an meinem ersten Tag begegnet ist. Vielleicht ist das aber auch wirklich nur an den äußersten Rändern der Städte der Fall.
Als vor mir Rolltreppen und der Eingang auftauchen, bleibe ich kurz stehen, dann steuere ich auf die Rolltreppen zu. Vor mir stolziert eine Frau in ziemlich knapper Kleidung. Wenn ich hier unten nicht fündig werde, dann eben weiter oben.
Noch bevor ich in der zweiten Etage ankomme, steigen mir schon so viele verschiedene Gerüche in die Nase, dass mir schwindelig wird. Die Galerie hier ist voller Restaurants, Cafés, Fastfood-Buden und sogar kleiner Kücheninseln. Fast automatisch meldet sich mein Magen zu Wort, aber ich beschließe, dass es jetzt definitiv Wichtigeres gibt. Die nächste Etage hilft mir hoffentlich weiter.
„Na, Süßer?" Finger an meiner Schulter lassen mich zusammenfahren und erschrocken aufsehen. Die Frau mit der engen, freizügigen Kleidung hat sich mir zugewandt und zwinkert lächelnd.
„Folgst du mir oder haben wir nur zufällig den gleichen Weg?"
Als ich endlich verstehe, warum sie so gekleidet ist und was sie da meint, wird mir schlagartig feuerheiß. So direkt habe ich noch keine Frau erlebt.
„Oh nein, ich ... das war reiner Zufall. In Wirklichkeit ... suche ich nach der Küchenabteilung. Messer. Oder so."
Unsicher sehe ich sie an. Hoffentlich hat sie mich nicht erkannt. Aber ihre pechschwarzen Lippen verziehen sich nur ein Stück.
„Messer also, hm? Heiß", haucht sie mir entgegen.
„Äh ... ja. Genau."
Sie kichert. „In dieser Etage solltest du fündig werden. Und wenn du es dir anders überlegst, findest du mich in der fünften. Frag einfach nach Vesper. Vielleicht haben wir aber auch Glück und treffen wir uns ja auch wieder hier unten."
Sie zwinkert erneut, dann wendet sie sich von mir ab und läuft hüftschwingend auf die nächste Rolltreppe zu. Ich habe gar nicht bemerkt, wie wir oben angekommen sind. Kurz starre ich ihr noch hinterher, dann fällt mir aber wieder der Sender ein.
Mein Blick fällt tatsächlich auf ein Geschäft für Küchengeräte genau neben dem Verkauf für Schlaf- und Wohnzimmermöbel. Im Stechschritt zwänge ich mich durch den Menschenstrom und in den Laden. Es dauert ein wenig, aber nachdem ich die ersten Gänge abgelaufen bin, finde ich endlich das Küchenbesteck. Rasch sehe ich mich um und greife anschließend nach einem der Messer und reiße die Verpackung auf. Dann schiebe ich den Stoff von Clydes Jacke und dem darunterliegenden Oberteil nach oben und hebe die Klinge. Tief atme ich durch – und setze sie an.
Mit zusammengebissenen Zähnen erweitere ich den Schnitt. Zwar war es nur ein kurzes Blitzen gewesen, aber ich habe den Sender für einen kurzen Moment sehen können. In Gedanken verfluche ich die Tatsache, dass Summit die Existenz dieses kleinen Teils so leicht verschleiern konnte. Nur ein Herzstillstand und jede Spur einer Verletzung verschwindet. Ein Schnaufen entfährt mir, als ich die Spitze des Messers tastend durch die Wunde fahren lasse. Aufhören kommt jetzt aber gar nicht infrage! Ich-bin-so-kurz-davor. Mein Herz macht einen Satz, als ich eine metallene Kapsel erwische. Ich halte die Luft an - und sie ist draußen. Ich lasse das Messer fallen und ziehe den Sender schnell völlig heraus. Tief durchatmend schließe ich meine Augen und atme über den Schmerz hinweg. Scheiße.
Aber das wäre erst einmal geschafft.
Ich will den Sender schon von mir werfen, als mir etwas anderes einfällt. Ich verlasse den Gang und betrete einen, der ein wenig bevölkert ist. Etwas, was hier nicht allzu schwierig ist.
Unauffällig, mein blutendes Handgelenk verdeckend, nähere ich mich einer alten Frau. Ihre Kleidung ist zwar umso einiges neumodischer als ich es bei solchen Leuten gewohnt bin, aber die gekrümmte Haltung und die altbekannte Handtasche hat sie beibehalten. Die wirklich handfest aussehenden Pfannen musternd nähere ich mich ihr. Dann, als ich an ihr vorbeigehe, lasse ich den Sender in ihre Tasche fallen. Zugegeben, vielleicht ein wenig fies, in dieser Situation aber unvermeidlich. Weiterhin so ruhig wie möglich schlendere ich an dem Regal entlang und erst, als ich aus ihrem Sichtfeld getreten bin, verlasse ich so schnell wie möglich das Geschäft.
Etwas unschlüssig bleibe ich vor den Rolltreppen stehen, meine Finger fest um mein Handgelenk gepresst und lege meinen Kopf in den Nacken. Einerseits sollte ich so schnell wie möglich von hier verschwinden. Andererseits ist meine Aufmachung trotz Jacke und Schuhe etwas zu auffällig. Allein die Hosen tragen die meisten Leute sicher nur zum Schlafen. Höchstens.
Entschlossen fahre ich in die nächste Etage, in welcher sich glücklicherweise Bekleidungsgeschäfte befinden. Ich betrete den erstbesten und dränge mich mit einem knappen „Tschuldigung" an einem breiten Kerl vorbei bis in die hinterste Ecke. Jetzt stellt sich nur noch die Frage, wie ich Hose und Pullover samt Kapuze mitgehen lasse. Ich lasse meine Augen von Fach zu Fach wandern. Vielleicht wäre es sinnvoll, sich zuerst um die Kleidung an sich zu kümmern. Ich suche mir die benötigten Sachen heraus und drehe mich dann suchend um. Ich erstarre. Der bullige Typ von gerade eben kommt durch den Gang in meine Richtung. Raschelnd schiebt er die Jacken links und rechts von sich.
Die wieder aufwallende Nervosität herunterschluckend, wende ich mich ab und schiebe mich an der Wand entlang bis ich eine Umkleidekabine erreiche. Sofort schiebe ich den Vorhang beiseite und schlüpfe hinein. Den Atem anhaltend lausche ich den näherkommenden Schritten. Ich hätte das Messer behalten sollen!
Erst passiert gar nichts, dann höre ich jedoch wie jemand die benachbarte Kabine betritt. Er scheint es nicht auf mich abgesehen zu haben. Einen Seufzer ausstoßend lande ich auf dem kleinen Hocker und lehne mich gegen die Wand. So schwierig kann das doch nicht sein.
Ich beiße meine Zähne fest zusammen und balle meine Fäuste. Ich werde eine Lösung finden und hier wegkommen! Und mit ein wenig Glück...
Ein Hämmern erschüttert die Trennwand zwischen mir und dem Kerl nebenan.
„Alles klar bei dir, Buddy?", dröhnt daraufhin seine Stimme zu mir herüber. Verdammt!
Ich schlucke. „Ja", antworte ich knapp und starre mit klopfendem Herzen auf meine Arme, in denen ich noch immer die Kleidung halte.
Schweigen. Dann:
„Sicher, Buddy? Du klingst ein wenig ... heiser."
Ich hebe meinen Kopf. Ist das am Ende einer von dem SEA? Sind sie schon hier und haben mich trotz des Fehlens des Senders gefunden?
„Was wollen Sie von mir?", stoße ich hervor.
Anstatt zu antworten, schiebt sich der Vorhang plötzlich mit einem Ruck zur Seite und der massige Körper des Mannes verdunkelt die sowieso schon schmale Öffnug. Seine Mähne erinnert an einen Bären. Seine Mähne sowie sein Brusthaar, welches aus seiner Haut sprießt, als hätte er es gedüngt. Große Schweißflecken haben sich unter seinen Armen – Baumstämme, welche mich wahrscheinlich ohne großen Kraftaufwand zerquetschen könnten – gebildet. Ich springe auf und stoße glatt gegen die Wand hinter mir. Fieberhaft überlege ich, wie ich wieder von hier wegkomme.
„Ho, ganz ruhig, Buddy", brummt er und mustert mich. „Hab' 'n Auge für Leute, die gerade 'n Bier ganz gut vertragen könnten."
Ich denke schon, er will zu mir in die Kabine kommen und drücke die Kleidung etwas fester an mich, unschlüssig, ob ich ihn angreifen soll oder nicht. Aber er mustert mich nur von oben bis unten und bleibt an Ort und Stelle stehen. Ob er durch den Boden bricht, wenn er das länger als drei Minuten macht?
„Du blutest ja."
Keuchend sehe ich an mir herab. Verflucht. Ein feines Blutrinnsal kriecht über meinen Finger und tropft den Boden voll.
„Nur ein Kratzer!", erwidere ich schnell. Kann er nicht bitte einfach wieder gehen?
Die Falten auf seiner Stirn vertiefen sich. „Kenn' ich dich nicht irgendwoher?"
Mein Magen scheint sich umzudrehen.
„Ich wüsste nicht, woher", krächze ich.
Wenn er es aber doch tun sollte, hätte ich wohl kaum eine Chance, zu entkommen. Der Typ könnte sich einfach auf mich draufsetzen und das war's.
„Na, wer weiß. Was hältste von nem Bier?"
„Hab kein Geld", erwidere ich leise, kurz bevor ich mich fast selbst ohrfeige.
Eine fabelhafte Antwort in dieser Situation. In einem Laden. Mit Artikeln in der Hand. Der Bär schweigt. Ich verkrampfe mich, um dem gleich eintretenden Angriff wenigstens etwas vorbereitet entgegenzutreten.
Aber – dann brummt der Schatten im Eingang der Umkleidekabine zum wiederholten Male. „Ich hab' Geld."
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