Taste of freedom

Sidney

Als ich meine Augen wieder öffne, treten eben zwei Männer auf mich zu. Ich bin noch gar nicht richtig wach, doch die über mir aufragenden Schatten lassen mich den Kopf einziehen. Es ertönt nur ein Brummen, dann schiebt sich eine Hand unter meinen Kopf und hebt ihn an. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und fest kneife ich meine Augen zusammen. Ich zittere.
„Einfach den Mund aufmachen!", befiehlt eine tiefe Stimme und etwas wird an meine Lippen gesetzt.
Im nächsten Moment fließt eine dickflüssige Konsistenz in meinen Mund. Es ist bitter und zurückzuckend verziehe ich mein Gesicht. Doch der Mann hält mich nur umso fester und jetzt legt sich ein Finger auf meinen Kehlkopf und drückt fest zu. Tränen treten in meine Augen, aber das Zeug wird mir unermüdlich eingeflößt.

Als die Männer endlich von mir ablassen und ich zurück auf die Pritsche falle, überrollt mich ein Würgen. Aber ich übergebe mich nicht, das Getränk hinterlässt nur ein säuerliches Brodeln in meinem Magen. Leise schluchzend kralle ich die Finger in meine Haare. Ich kann einfach nicht mehr - Ich will nicht mehr.
„Für heute soll niemand mehr rein! Das Abendessen würde er eh nicht runterbringen."
Meine Unterlippe zittert. Mir ist klar, dass ich gemeint bin und ich würde alles tun, um zu vermeiden, dass man auf mich aufmerksam wird. Aber mein Magen verkrampft sich mittlerweile so schmerzhaft, dass ich am liebsten hinterherrufen würde, ob man mir nicht wenigstens etwas geben kann. Es kommt jedoch gerade einmal ein heiseres Krächzen aus meinem Mund, das war es dann auch schon wieder.

Tief atme ich durch, dann drehe ich mich kurzentschlossen auf die Seite - und falle von der Pritsche. Der Aufprall erschüttert meine Knochen und die Decke schlingt sich um meine Beine. Kurz verfalle ich in Panik, dann werde ich den Stoff zwar los, meine Glieder scheinen jedoch regelrecht in Flammen zu stehen. Ich ersticke leises Wimmern in meiner Ellenbeuge.
„Crawford! Was tust du denn da?"
Blinzelnd hebe ich meinen Kopf und drücke mich etwas hoch. Katō steht an an der Scheibe seines Gefängnisses und sieht stirnrunzelnd auf mich hinab. Strähnen seines Haares fallen ihm über die dunklen Augen.
„Bleib gefälligst liegen!"
Ich öffne meinen Mund, aber die aufstützende Haltung ist so anstrengend, dass ich wieder in mich zusammensinke. Scheiße!

Das Zusammenziehen meines Magens erinnert mich an mein Vorhaben und tief atme ich durch. Bis zur Scheibe muss ich es schaffen, anders kann ich wohl kaum die Aufmerksamkeit der Wärter erregen.
„Du sollst liegen bleiben, hast du nicht gehört? Du bist eindeutig nicht in der Verfassung, so etwa-"
Abrupt bricht er ab, was mich tatsächlich innehalten lässt. Wie erstarrt hat Katō seine Augen auf etwas im Gang gerichtet, außerhalb meines Sichtfeldes. Unwillkürlich halte ich den Atem an ... dann höre ich es auch:
Lautes Rufen hallt an mein Ohr. Gebrüllte Befehle, dann ein Krachen und ... ich reiße meine Augen auf, als ein Wachmann über den Boden vor meiner Zelle schlittert. Nur langsam kommt er zum Stillstand, erhebt sich aber nicht wieder. Seltsam verdreht liegt er da - Was ist hier los?
Ein wenig japsend lasse ich wieder Luft in meine Lungen und schaue zu Katō, welcher aber auch nicht zu wissen scheint, was abgeht. Die Fäuste geballt hält er seinen Blick weiterhin auf das gerichtet, was da kommt.

Und dann ...

... zerspringt das Glas meiner Zelle und schnell schlage ich die Arme über meinen Kopf zusammen. Helles Klirren begleitet die herabfallenden Scherben und die lauten Stimmen hallen nun deutlicher über den Flur. Es müssen unzählige Menschen hier sein. Hektisch atmend rolle ich mich in mich zusammen, immer wieder dieselben Fragen in meinem Kopf: Was soll das? Was passiert hier? Warum ...
„Crawford, steh auf!"
Die Hand an meiner Schulter lässt mich zusammenzucken und wimmernd verkrampfe ich mich, aber dann ist sie auch schon wieder verschwunden. Fest beiße ich meine Zähne zusammen. Wenn ich ruhig liegen bleibe, passiert mir vielleicht nichts. Die Wachen werden einfach an mir vorbeilaufen und mir nicht wehtun. Vielleicht hören sie ja sogar auf mich zu quälen, wenn ich mich nur gut genug benehme und meine Zelle nicht verlasse.

Ich merke, wie ich mein Körper noch heftiger zittert, als der Tumult da draußen nun völlig losbricht und in Form puren Chaos auf mich niederprasselt. Schreie - wütende, verzweifelte, panische ... alles ist dabei -, lautes Poltern ... Schüsse! Fast automatisch wandern meine Fäuste zu meinen Ohren.
Noch nie konnte ich wirklich mit meiner Panik umgehen, jeder einzelne Moment mit ihr war unfassbar schwer, aber seit ich hier bin, scheint die Welt nur noch daraus zu bestehen: Reine Panik.
Wieder kommen Schritte neben mir zum Stehen, dann macht sich jemand an meinem Genick zu schaffen. Keuchend will ich mich aus der Reichweite der Hände begeben, doch dann ... kann ich wieder atmen. Es geht zwar immer noch nicht so gut, aber der Druck auf meinem Brustkorb ist völlig verschwunden. Vorsichtig schaue ich auf.

Katō hockt neben mir, einen metallenen Ring in der Hand.
„Er ist weg, Crawford. Das hier ist unsere Chance, von hier zu verschwinden. Kommst du?"
Ungläubig taste ich über meinen Hals. Jetzt erst bemerke ich, dass er auch keinen Ring mehr trägt und zaghaft nicke ich - bevor ich hektisch mit dem Kopf schüttel.
„Nein, ich ... ich kann nicht. Ich halte dich nur auf", bricht es krächzend aus mir hervor. Aber Katō schnaubt nur packt meinen Arm und legt ihn auf seine Schultern. Dann steht er auf und zieht mich mit sich auf die Beine.
Meine Muskeln verkrampfen sich und verzweifelt klammere ich mich an ihm fest.
„Du schaffst das, Crawford. In Ordnung? Du musst nur ..."
Er hält inne und sieht an die Decke. Erst weiß ich nicht, was ihn so irritiert, ich bin voll und ganz damit beschäftigt, irgendwie auf meinen wackeligen Beinen zu stehen, aber dann schärfen sich meine Sinne und ich erkenne das Flackern des in der Decke eingelassenen Lichtes.
„Bist du das?"
Ich lege meinen Kopf in den Nacken.
„Ich ... ich weiß nicht, ich ..." Ich halte inne. „Ich glaube ... Katō! Es tut nicht mehr so weh", flüstere ich.

Ungläubig hebe ich meine Hand und bewege meine Finger. Das ist es also wirklich. Die Lampen bei dem ersten Versuch haben ja auch ...
„Ist es das Licht, Crawford?"
„Die meinten, mein Körper verwertet ... Energie. Ich glaube ... ich glaube, ich nehme gerade das Licht in mir auf."
Ich starre zu Katō. Wie verrückt muss das klingen. Aber er fackelt nicht lange und setzt sich in Bewegung. Überrumpelt strauchle ich, kann mich aber noch fangen.
„Solange du aufladen musst, halte ich dich. Wir schaffen es hier raus!"
Ein Ausdruck grimmiger Entschlossenheit hat sich auf seinen Zügen ausgebreitet und energisch schiebt er uns an einer älteren Frau vorbei.

Jetzt erst erkenne ich das Ausmaß der Katastrophe (denn etwas anderes kann das nicht sein). Der Gang ist voller Wachen und Leuten, die offensichtlich durch Portale gefallen sind. Uniformierte Männer, Gefangene und Fremde. Sie alle gehen aufeinander los und versuchen jeweils, irgendwie die Überhand zu gewinnen.
Die Wächter versuchen mehrere Male, sich in kleinen Gruppen neu aufzustellen und in die Menge der Kämpfenden zu schießen. Doch immer wieder werden sie Sekunden später zersprengt.
Ich keuche, als ein Mann vor uns zu Boden geht, die weiße Kleidung der Häftlinge tragend. Etwas kleines, schwarzes ist in seinem Genick auszumachen, welches ebenfalls von dem Halsring befreit wurde.

„Was ist hier los?", frage ich, unsicher, ob Katō mich überhaupt gehört hat.
„Da haben sich welche organisiert und wollen nun alle hier rausholen. Total dämlich, diese Rettungsaktion ist ja wohl eher ein Gemetzel", antwortet er verächtlich.
Abrupt hebt er seine Hand und eine auf uns zukommende Wächterin geht mit einem Aufschrei zu Boden.
„Weiter! Geht es wieder?"
„Ja, ich ..." Ich stolpere. „Ich bin gleich wieder so weit."
Mit aller Kraft konzentriere ich mich wieder auf die nächste Lichtquelle. Wenn das wirklich funktioniert, dann ... mir wehen die Haare nach hinten, wie von einer unsichtbaren Macht berührt, dann reißt uns Katō zu Boden.
Ein weiterer Schrei lässt mich aufschauen und die Uniformierten sehen, die eben über uns und nach hinten geschleudert werden. Krank!
„Steh wieder auf! Da hinten ist schon die Tür, gleich haben wir es geschafft! Komm, ich helf dir."
Wieder zieht mich Katō auf die Beine und zusammen stürzen wir die letzten Yards auf den Ausgang des Blocks zu. Mehrere Leiber drängen sich bereits davor und wehren entweder die Wachen ab oder ergreifen die Flucht. Entschlossen stürzt sich mein Begleiter in das Getümmel, ohne auch nur für eine Sekunde den Griff zu lockern.

Ellenbogen und Fäuste landen in meiner Seite, in meinem Magen ... jemand stößt so hart gegen Katō, dass wir fast zu Boden gehen, aber dann sind wir durch. Sprachlos schaue ich den Gang hinab.
Keine Zellen, nur weiße Türen, Neonlichter und, hinter einer Gittertür, ein Schalter am Ende des Ganges, hinter dem sich wiederum ein Aufzug befindet. Davor aber haben sich Uniformierte aufgestellt, die nun mit ihren Waffen auf die Menge zielen, welche auf sie zukommt, wie ein sich ausbreitendes Virus.
„Los, hier lang!", brummt mein Freund nur und zieht mich nach rechts. Von dem Ausgang weg. Er stößt eine der Türen auf und ein weiterer Gang erstreckt sich vor uns. Ich bin baff.

„Woher wusstest du das?", keuche ich.
„Ich wurde schon einmal von hier befreit. Damals wusste der Retter aber, was er tut und hat nicht so eine Massenpanik verursacht." Katōs Mundwinkel wandern nach oben. „Zu ihm gehen wir jetzt, er wird dir helfen! - Geht es wieder?"
Er bleibt stehen und sieht mich prüfend an. Ich schlucke und löse vorsichtig meinen Griff von seinem Arm.
„Ja, ich ... ich glaube schon", antworte ich und hebe meinen Blick zu den hellen Lampen über uns.
„Das ist so krank", füge ich flüsternd hinzu.
„Oh, glaub mir, so geht es am Anfang jedem von uns. Los, da vorne geht's zum Notausgang."
Entschlossen nicke ich und wir laufen weiter. Nach jedem Schritt scheinen meine Knochen lose hin- und herzuwackeln und der fast schon vergessene Schmerz in meinem Rücken wird wieder stärker. Aber das ist allemal besser, als weiterhin völlig hilflos auf dem Boden zu kauern.

Zu zweit erreichen wir in dem Augenblick eine Tür, über der ein grünes Neonschild hängt, als ein Krachen ertönt und uns herumfahren lässt. Es scheint so, als hätten sich auch andere Gefangene für diesen Weg entschieden und die Welle der Panik schießt auf uns zu. Mit einem Zischen stößt Katō die Tür auf.
„Los, gleich geschafft, wir müssen nur ..."
Er bricht ab und stolpert zurück. Auch ich bleibe abrupt stehen, als ich die zwei Wachmänner sehe. Der erste legt seine Waffe auf Katō an und drückt ab. Ein Keuchen kommt mir über die Lippen, als das Geschoss haarscharf an seinem Kopf vorbeifliegt und im Türrahmen steckenbleibt. Dann wird dem Uniformierten der Lauf der Waffe zur Seite geschlagen und nun ist er derjenige, der ausweichen muss.

„Katō, pass a-"
Ich reiße meine Arme hoch, als ich die plötzliche Bewegung des zweiten Mannes wahrnehme. Nur der schnellen Reaktion ist es zu verdanken, dass der Kolben seiner Waffe nicht gegen meine Schläfe donnert. Stattdessen trifft er meinen Unterarm, was mich vor Schmerz aufzischen lässt. Ein Schrei lässt mich zu meinem Begleiter schauen, aber es war nur sein Gegner, der mit schmerzverzerrtem Gesicht zurücktaumelt. Es sind nur wenige Schritte, doch sie reichen aus, um Katō Luft holen zu lassen.
„Benutz' deine Mutation, Crawford!", ruft er, dann sieht er schon wieder einen Schlag auf sich zurasen und ... ich gehe zu Boden.
Schmerzhaft schlägt mein Kopf auf und ich kann gar nicht blinzeln, da landet schon die Spitze eines Schuhes in meinem Magen. Hustend krümme ich mich zusammen, bevor ich an den Haaren hochgerissen werde. Das hämisch grinsende Gesicht meines Gegners taucht vor mir auf. Die stahlharten Augen des Mannes funkeln bedrohlich und die schiefe Nase und die Narbe knapp unter seiner Augenbraue lassen ihn fast ein wenig verwüstet dastehen.

„Ich habe schon lange genug mit solchen Bastarden zu tun, als dass ich mir jetzt von einem wie dir eins auswischen lasse", zischt er und hebt seine andere Faust, um sie auf mich niedersausen zu lassen.
Eher reflexartig als wohlüberlegt hebe ich meine Hände und halte sie ihm stoßweise entgegen. Seine Faust stoppt und ein Ruck läuft durch seinen Körper. Doch anstatt mich von ihm befreit zu haben, werde ich mitgerissen.
Glücklicherweise ist er es, der gegen die nächste Wand kracht und meinen Aufprall abfedert. Mit bleichem Gesicht sackt er zu Boden. Jetzt erst lösen sich seine verkrampften Finger aus meinen Haaren und ich stolpere schweratmend zurück. Mit schmerzverzerrtem Gesicht presse ich meine Hand auf meinen Kopf. Der Typ hat mir mit Sicherheit ein paar Strähnen ausgerissen.

„Gut gemacht."
Ich wirbel herum. Katō mustert mich, sein Gegner liegt ebenfalls auf den glatten Fließen, nur wenige Meter von einem breiten Treppenabsatz entfernt.
„Denen müssen wir folgen, dann kommen wir im Hinterhof raus."
Ich nicke ihm zu. „Dann los. Sehen wir zu, dass wir hier rauskommen."
Er hebt seine Hand und deutet mit dem Daumen über seiner Schulter.
„Vor allem, bevor die hier auftauchen."
Ich schlucke, als das Toben auf der anderen Seite der zugefallenen Tür wieder in den Vordergrund meines Bewusstseins dringt. Katō hat recht. Wir müssen weg von hier!

Wir haben noch nicht einmal das nächste Stockwerk erreicht, da schlägt über uns schon die Tür mit einem ohrenbetäubenden Knall gegen die Wand und die Flut der Gefangenen quillt auf die Stufen. Wenn ich daran denke, dass das nicht einmal die Hälfte der Insassen dieses Ortes sind, wird mir schlecht.
„Los, weiter! Nicht stehen bleiben!"
Kräftige Finger schließen sich um mein Handgelenk und ziehen mich voran.
„Wir waren zum Glück nur im dritten Stock", werde ich keuchend informiert. „Und die Mistkerle im Hinterhof werden wir auch los!"
Fast schon fliegend bringen wir mittlerweile die Stufen hinter uns, das Poltern und Schreien der Anderen im Nacken. Und ich - ich habe zum ersten Mal seit meiner Festnahme wirkliche Hoffnung, das alles hier überstehen zu können.

„Einen Absatz noch", höre ich da Katō sagen und mein Herz macht einen Stolperer. Gleich. Gleich bin ich - sind wir draußen. Die weißen Schuhe, die ich trage, hinterlassen nur dumpfe Geräusche und als wir die letzte Stufe hinter uns lassen, spüre ich die Rillen der Fließen durch die dünnen Sohlen hindurch.
Vor uns ragt eine schmale Tür auf, den eisernen Riegel schiebt Katō zurück. Vor Aufregung halte ich meine Luft an und ... sie bewegt sich nicht ein Stückchen. Der Jugendliche tritt zurück. und sieht zu mir.
„Abgeschlossen. Ob du das schaffst?", fragt er, gar nicht auf die Menschenmassen über uns eingehend.
Ich verstehe, was er meint und trete einen Schritt vor.
„Ich ... ich kann es ja mal versuchen."
Tief einatmend hebe ich meine Hände und richte sie auf die Tür. Ich muss mich einfach nur konzentrieren, dann schaffe ich das schon. Kurz wandert mein Blick zu der schwachen Lampe über der Tür. Ob die ausreicht, um die wahrscheinlich verbrauchten Kraftreserven wieder auszugleichen?

Ich spüre - die immer lauter widerhallenden Schritte und Stimmen im Nacken -, wie schon in den Momenten davor, wie lebendig das Licht ist. Wie lebendig diese Energie ist. Ein leises Kribbeln entsteht in meinen Schultern und ich blähe meine Wangen auf. Wie kann das jedes Mal noch krasser werden?
Bei den ersten Malen waren die Impulse an Energie, welche sich in mir aufgebaut haben, völlig unkontrolliert und ungewollt gewesen, dann hatte ich einfach keine Wahl gehabt und gerade eben hatte ich einfach nur Glück, als wir von den Wächtern aufgehalten wurden. Und jetzt ... verstärkt sich das Kribbeln sekündlich, die Lampe flackert und ... das Blut in meinen Adern scheint regelrecht zu pulsieren. Meine Handflächen werden warm. Mit großen Augen starre ich auf die flimmernde Luft zwischen mir und der Tür, dann - ich stolpere ein paar Schritte zurück - entlädt sie sich. Das Metall der Tür gibt ein tiefes Brummen von sich.

„Und? Hat es funktioniert?", frage ich, tief Sauerstoff in die Lungen ziehend.
Katō versucht erneut, sie zu öffnen, tritt dann aber betreten zurück.
„Nein."
Meine Schultern sacken herab. „Und ... und was machen wir je-"
„Zur Seite, Jungs!"
Ich zucke zusammen, als sich eine stämmige Frau an mir vorbeischiebt und ohne Weiteres gegen den Ausgang stemmt. Ich schnappe nach Luft, als dieser erst ein Knarzen von sich gibt, welches sich kurz darauf in ein Quietschen verwandelt und die Tür dann tatsächlich aufspringen lässt. Die Frau tritt zur Seite und winkt uns raus.
„Na los, keine Müdigkeit vorschützen! Hugh, beeil dich, sonst schaffen wir es nicht!", schreit sie und ich greife nach Katōs Oberarm, um ihn mit mir zu ziehen.

Die fliehenden Leute haben uns schon fast erreicht, als wir den riesigen Hof betreten. Laue Nachtluft schlägt mir entgegen und - Katō bleibt so ruckartig stehen, dass ich fast stolpere.
„Was ist los, warum bleibst du stehen? Wohin jetzt?"
Das verkniffene Gesicht des Jugendlichen gefällt mir so gar nicht. Wortlos sieht er sich auf dem Gelände um und mein Blick zuckt zurück zu dem Gebäude. Mir bleibt der Mund offen stehen, als ich erkenne, wie groß es ist. Bedrohlich ragt es in den dunklen Himmel, welcher vereinzelte Wolken aufweist. Wie ein schmutziger Flickenteppich.
Die unzähligen Fenster sind alle hell erleuchtet und aus dem breiten Notausgang schießen nun auch die Flüchtigen - und bleiben, wie auch wir, entsetzt stehen, werden höchstens von den Nachfolgenden weitergeschoben.

Jetzt erkenne ich auch das Problem, welches wir haben:
Ein dunkler, meterhoher Zaun umschließt das Gelände. Unmöglich ist der zu überwinden, dafür sorgen die viel zu kleinen Maschen, deren Zwischenräume ein seltsam flimmerndes Blau aufweisen. Und genau das jagt mir sogar mehr Angst ein als die Türme, die sich in regelmäßigen Abständen hinter dem Zaun erheben. Ich kann nicht sagen, weshalb, aber der Anblick jagt mir einen Schauer über den Rücken.
„Das gibt es doch nicht!", stößt Katō hervor.
Meine Augen zucken zu ihm. „Was? Was ist los? Wohin mü-"
„Sie haben es verstärkt", stellt mein Begleiter fest. „Und das Tor ..."
Er lässt den Satz ausklingen und starrt auf einen der Wachtürme. Auf den größten von ihnen, genau vor uns. Ich kann nur vermuten, was er damit meint und mit einem unbehaglichen Magenkribbeln mustere ich die Gefangenen, die um uns herum zum Stehen kommen und sich ratlos umsehen. Der Anblick eines höchstens zehnjährigen Jungen, der mit großen Augen zu den Erwachsenen aufschaut, löst Übelkeit in mir aus.

„Worauf wartet ihr?", brüllt eine laute Stimme und ich wirbel herum. Ein riesiger Mann betritt - in Begleitung der Frau von vorhin - im Laufschritt den Hof, kommt auf uns zu und läuft an uns vorüber, immer weiter auf den Wachturm zu.
„Setzt euch gefälligst in Bewegung!"
Ich will der Aufforderung gerade folgen, weil es einfach besser ist als nichts zu tun, und loslaufen, als plötzlich ein lautes Heulen ertönt und der Hof in gleißendes Licht getaucht wird. Sogar die zwei Fremden wenige Meter vor uns kommen schlitternd zum Stehen.
Und dann ertönt eine mechanische Stimme, so laut, dass ich nicht erkennen kann, woher sie kommt.
„Das ist ein Befehl: Jeder legt sich sofort flach auf den Boden und ergibt sich den eintreffenden Sicherheitskräften! Jeder legt sich sofort flach auf den Boden und ergibt sich den eintreffenden Sicherheitskräften!"
Dann geht alles ganz schnell. Wachleute stürmen auf den Hof, die Waffen im Anschlag, und das Chaos von drinnen verlegt sich nun innerhalb von Sekunden auf den Hof.

Keuchend laufe ich durch die wogende Menge, bestehend aus unzähligen, mit sich ringenden Leibern. Katō ist nirgendwo zu sehen.
Die Wachen dieser Einrichtung machen im Moment sehr deutlich, dass ihnen so langsam die Geduld ausgeht und mir wird schlecht bei dem Gedanken daran, sie könnten ihn schon erwischt haben.
Ich stolpere und falle der Länge nach auf den Boden. Ein dumpfes Brennen schießt durch mein Kinn und schnell rappel ich mich wieder auf. Es war eine bewusstlose Frau, an der ich hängen geblieben bin.
Viel zu viele Leute liegen auf dem Hof verstreut und ich kann nur immer wieder hoffen, dass sie einfach nur betäubt sind.

Ich will mich gerade umdrehen und weiter nach Katō suchen, als mir einer der Uniformierten ins Auge fällt, dem es in diesem Moment mit mir ebenso zu gehen scheint. Zähnefletschend und ein grimmes Funkeln in den Augen, kommt er drei schnelle Schritte näher, hebt seine Waffe, richtet sie auf mich und ... drückt ab. Abwehrend hebe ich meine Hände und hoffe mit aller Kraft, dass es funktioniert, dass ... der Schuss danebengeht und der Mann zurückgeschleudert wird. Erleichtert atme ich auf, genug Energie scheint es hier zu geben - Doch dann halte ich inne. Ein leises Knistern dringt an mein Ohr und scheint sogar in meinen Eingeweiden zu kribbeln. Irritiert drehe ich mich im Kreis, dann fällt mein Blick auf den hohen Zaun. Das Flimmern zwischen den Maschen zuckt, wie aus dem Gleichgewicht geraten.

Und im nächsten Augenblick stehen sie regelrecht in Flammen. Funken sprühen über die gesamte Fläche, die Menschen in nächster Nähe ducken sich weg und über den Lärm des Kampfes dringt eine laute Stimme. Ich höre nicht, was sie sagt, weil genau in dem Moment Katō mehrere Meter vor mir auftaucht, die Augen hat er weit aufgerissen, die Hände hoch erhoben. Ich sehe seine Handflächen pulsieren.
Ehe ich realisiere, was das zu bedeuten hat, bekomme ich einen solch heftigen Schlag knapp unter meiner Achsel, dass ich nach Luft schnappend zusammenbreche.
Doch irgendjemand schlingt seinen Arm um meinen Hals, sodass ich völlig hilflos in der Luft hänge und dem schwarzen Geschoss, welches auf mich zurast, fast völlig bewegungslos entgegensehen muss.

Dann jagt ein solcher Schmerz durch meine Schulter, dass ein erstickter Aufschrei über meine Lippen kommt.
„Na los, schick noch einen rüber, du kleines Monster!", brüllt es direkt neben meinem Ohr. „Vielleicht erwischst du ihn dann ja richtig."
Eine Betäubungswaffe wandert an meinem Kopf vorbei und zielt genau auf Katō. Entschlossen, aber vor Schmerz brüllend, lasse ich den Arm, der mir kontinuierlich die Luft abdrückt, los und hänge mich stattdessen an den anderen. Die Wache gerät außer Gleichgewicht, dann höre ich ein leises Röcheln und ich breche auf dem Boden zusammen.

Und dann gibt es ein solches Donnern, dass der raue Boden wortwörtlich bebt und ich denke, die Welt geht hier und jetzt unter. Die Luft wird mit reinem Feuer erfüllt und dicke Gesteinsbrocken und Schutt fallen um mich herum zu Boden. Entsetzt schlage ich meine Arme über den Kopf zusammen. Doch schon in der nächsten Sekunde merke ich nur noch ein bedrohliches Vibrieren im Boden und ein hohes Piepen setzt sich in meinen Ohren fest.
Den Mund weit aufgerissen - eine Staubschicht sammelt sich auf meiner Zunge - drehe ich mich auf die Seite. Alles dreht sich. Die Massen der Kämpfenden, der qualmende Zaun, die Wachtürme ... sogar der sich nähernde Schatten, der in der nächsten Sekunde schon vor mir steht und sich zu mir beugt.

„Wir müssen von hier weg, Crawford, steh auf!"
Es ist Katō.
„Oh, scheiße! Es tut mir leid" stößt er hervor und seine Augen wandern panisch über mich. Er ist aschfahl. Mehr nehme ich aber gar nicht wahr, denn schon wieder prasselt alles so eindrücklich auf mich ein und das in so verkehrten Bewegungen und Lautstärken, dass sich meine Augen automatisch nach hinten verdrehen und ich bei jedem neuen Extrem an Geräusch zusammenzucke.
„Hey, mach jetzt nicht schlapp, Crawford! Komm schon, du schaffst das, da hinten ist ein Ausgang und ... hey! Was tun Sie da? Gehen Sie sofort von ihm zurück! Hände weg! Soll ich noch einmal ..."

Charlie

Sobald ich die Tür öffne, setzt sich der Viator - Eliot - auf und rutscht ein wenig weiter in die Ecke. Dr. Stone hat das Bett dorthin verlegt, wohl, damit er sich etwas mehr zurückziehen kann.
„Ich hab nur das Abendessen", murmel ich und stelle den Teller und das Glas vor ihm ab. Vorsichtig.
Kurz starre ich ihn dabei an, dann gebe ich mir aber einen Ruck und steuere schnell wieder auf die Tür zu.
„Danke", holt mich die leise Stimme ein.
Den Türgriff bereits in der Hand, schaue ich über meine Schulter zurück.
„Äh ... klar. Kein Ding." Schnell verlasse ich den Raum und schließe die Tür. Ein wenig fahrig streiche ich mir die Haare nach hinten.

Mittlerweile sind das zwei, drei - oder sogar mehr? - Tage mit dem Viator und jeder einzelne davon wird nur noch schlimmer. Seufzend mache ich mich auf den Weg nach unten. Kann ja sein, dass Stone ihm geholfen hat. Und mir.
Aber trotzdem will ich mir nicht ausmalen, was dieser Eliot tut, sobald er wieder im Vollbesitz seiner Kräfte ist. Bis dahin sollte ich wenigstens noch ein paar Vorsichtsmaßnahmen treffen, wer weiß schon, was andernfalls passieren wird. Mir läuft eine Gänsehaut über den Rücken bei dem Gedanken daran, ich wache eines Nachts auf und ... sehe ihn über mir.

„Ist alles in Ordnung, Miss Covalt?"
Ich bin in der Tür stehengeblieben und starre nun gedankenverloren vor mich hin. Stone, der eben seine Sachen zusammenpackt, dreht sich zu mir.
Ich zucke mit den Schultern.
„Das ... das weiß ich ehrlich gesagt nicht, Doktor." Meine Hand ruckt hoch und zeigt an die Decke. „Da oben hockt seit drei Tagen ein Viator und ich weiß nicht, was ich tun soll. Vor allem nicht, weil ausgerechnet Sie mir helfen!"
Jetzt gehe ich auf ihn zu.
„Was ist mit dem gesetzestreuen Mann geworden, der fast die Nerven verloren hat, als ich meine ersten Krankenakten nicht richtig abgespeichert hat? Warum helfen Sie so einem ... so einem Viator?"

Meine Finger habe ich fest in den Stoff meiner Hose gekrallt, als Stone auf mich zukommt.
„Was meinen Sie denn damit, Miss Covalt?"
„Wissen Sie denn nicht, was diese Wesen tun können, wozu sie imstande sind? Wer weiß, was der da oben vorhat. Vielleicht ist diese Gestalt gar nicht die eigentliche Mutation, vielleicht ist er irgendwie giftig oder ... oder spuckt Feuer oder was weiß ich!"
Alles, was mein Vorgesetzter darauf antwortet, ist:
„Ich glaube, Sie verlieren die Nerven."
Das tut er so staubtrocken, dass mir der Mund offensteht.
„Die Nerven verlieren? Wie kommen Sie denn darauf? Nein. Jetzt mal im Ernst: Warum helfen Sie ihm?"

Stumm mustert mich mein Gegenüber, dann zieht er seine Augenbrauen nach oben.
„Weshalb helfen denn Sie ihm, Miss Covalt?"
„Weil ich eine Schwäche für verletzte Tiere habe und komplett irrational handle, wenn ich eins sehe."
„Nein!", erwidert Stone scharf. „Weil Sie Mitleid hatten. Das ist etwas Gutes, schämen Sie sich gefälligst nicht dafür!"
„Ich schäme mich nicht", sage ich leise. „Ich hab einfach Angst."
„Das ist genauso in Ordnung."
Brummend zwänge ich mich an ihm vorbei und setze mich an den Küchentisch. Ächzend reibe ich mir über die Augen.
„Und warum helfen jetzt Sie ihm? Uns? Das passt doch gar nicht zu Ihnen."

Stone lächelt.
„Vermutlich, weil sie ... weil Miss Palmer mich dazu gebracht hat."
Für eine winzig kleine Sekunde sieht der Mann zu den Fenstern als würde er Lauscher befürchten, dann fragt er:
„Wissen Sie, was ich letztes Jahr getan habe?"
Stirnrunzelnd sehe ich ihn an. „Äh, nein?"
„Ich habe dem allerersten Viator medizinischen Beistand gewährt. Übrigens eine grauenvolle Bezeichnung, warum können wir sie nicht immer noch als Menschen akzeptieren, so bedauernswert ihr Schicksal auch ist?"
Ich glaube, meine Augen fallen jede Sekunde aus ihren Höhlen. Der erste Viator?
„Das ist jetzt nicht Ihr Ernst!"

Doktor Stone seufzt.
„Doch, Miss Covalt, ich ..." Wie von einem Blitz getroffen, zuckt er zusammen als sich mein Fernseher plötzlich einschaltet. Der dabei entstehende Warnton lässt auch mein Herz bis zum Hals schlagen und mich alarmiert hochschauen.
Wir zögern nicht erst, sondern betreten sofort das Wohnzimmer, in welchem uns auch schon unser Vater erwartet. Das ernste Gesicht auf dem Bildschirm bin ich zwar gewohnt, aber heute hat es noch etwas an sich, was mich echt beunruhigt.
„Bürger der BUS", beginnt unser Staatsoberhaupt. „Ganz besonders für unsere Hauptstadt gebe ich hiermit eine Gefahrenmeldung heraus. Jeder Bewohner aus den Bezirken U Street, Shaw ..."

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