„Sie können mir vertrauen!"

„Guten Morgen. Wie geht es Ihnen heute?"
Ich setze mich auf, als Capryse mit Harriet den Raum betritt. Die Ärztin mustert mich und strebt auf den Sessel neben dem Bett zu. Erst im letzten Augenblick scheint sie sich umzuentscheiden und bleibt einfach stehen.
Als ich mit den Schultern zucke, öffnet sie ihre Tasche und holt ihr Stetoskop heraus.
„Dann schauen wir einfach mal, hm?"

Die Untersuchung läuft genauso ab, wie schon in den letzten Tagen. Diesmal entfernt sie sogar endlich die Infusion, welche ich in immer größer werdenden Zeitabständen bekomme habe. Scheinbar war das jetzt aber wirklich genug. Den Verband wechselt sie heute jedoch nicht. Stattdessen zieht sie eine kleine Hülle aus der Tasche, in welcher sich Ampullen und glänzende Nadeln befinden.
„Was haben die Ärzte nur immer mit ihren Spritzen?", zische ich bei dem Anblick und weiche ein wenig zurück. Jetzt geht es wenigstens wieder richtig. „Ich warne Sie! Kommen Sie mir damit zu nahe ..." Drohend lasse ich den Satz ausklingen.
Harriet hält inne und sieht kurz zu Capryse.
„Das ist nur Monaxilin", erwidert sie beschwichtigend. „Ein entzündungshemmender Stoff. Ihnen passiert nichts, außer dass Ihre Verletzung ohne Zwischenfälle verheilt."
„Gehen Sie weg damit!", knurre ich und hebe meine Fäuste abwehrend nach oben. Sollte mir einer von ihnen auch nur einen einzigen Schritt zu nahe kommen, wird er es bereuen.

„Hören Sie. Vertrauen Sie mir?"
Mein Blick fliegt zu Capryse. „Nein!", fahre ich ihn an.
Er legt seinen Kopf schief. Eine Strähne seines hellen Haares löst sich aus der Ordnung. Kurz spiele ich mit dem Gedanken, ihn darauf hinzuweisen.
„Erst vor einigen Tagen erklärten Sie sich einverstanden, sich helfen zu lassen."
„Da war auch nicht so ein Ding im Spiel."
„Aber als Sie hier angekommen sind, war es das. Da war es ein Beruhigungsmittel, das stimmt, aber jetzt ist es das nicht. Es enthält keine Substanz, welche Sie in irgendeiner Art und Weise handlungsunfähig macht oder Ihren Zustand verschlechtert."
„Wenn Sie wollen, kann ich es Ihnen auch als Tablette geben", mischt sich Harriet ein, Spritze und Ampulle immer noch in der Hand.
„Das ist mir scheißegal. Hauptsache, Sie legen das Ding endlich weg!"
„Also gut, nur keine Aufregung. Dann komme ich heute einfach nach dem Mittagessen wieder. Bis dahin können Sie sich ja noch ein wenig ausruhen."
„Weil ich das ja auch kaum mache", knurre ich leise.

Sobald die Ärztin gegangen ist, entspanne ich mich wieder ein wenig und öffne erst meine Augen, als Capryse im Rahmen der Tür stehen bleibt.
„Wollen Sie vielleicht etwas lesen?", fragt er. „Ich kann Ihnen auch mein Display überlassen. Das ist zwar ein älteres Modell, aber ich glaube nicht, dass Sie das stören würde."
Ich zucke mit den Schultern. „Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, was ich lesen soll. Ich weiß ja nicht einmal, ob es hier die gleichen Leute gibt, die ich auch von uns kenne. Wissenschaftler oder ... oder Interpreten und Autoren."
„Schriftsteller."
„Was?"
„Sie meinen wahrscheinlich ..." Capryse schließt kurz seine Augen. „Unwichtig", meint er dann lächelnd. „Ich kann Ihnen ja mein Display zur Verfügung stellen und dann machen Sie sich über unser Amerika ein wenig schlau."
Prüfend mustert er mich, als würde er auf die genaue Wortwahl meiner Antwort achten wollen. Stirnrunzelnd erwidere ich seinen Blick.

„War das Absicht?"
Er hebt seine Augenbraue. „Was war beabsichtigt?"
„Sie sagten >unser Amerika<. Ziemlich seltsam, wenn Sie mich fragen."
„Nun, Sie sagen doch auch >hier<, oder nicht?"
Ich kneife meine Augen zusammen. „Was wird das?"
„Ich passe mich lediglich ein wenig an Sie an. Ich bringe es Ihnen, in Ordnung?"
Ehe ich noch etwas hinzufügen kann, hat er den Raum schon verlassen. Nervös wische ich über die Bettdecke. Mit ein bisschen Glück hat er einfach nur gehofft, etwas aus mir herauszubekommen, wenn er ein paar kleine Andeutungen macht. Mit ein bisschen Pech hat er das auch. Aber früher oder später wird er wohl erfahren, dass ich nicht von hier bin und wenn es durch Summit ist, welcher etwas im Fernsehen verlauten lässt. Noch scheint dieser offiziell nicht einmal angedeutet zu haben, dass ich fliehen konnte.

„Bitte sehr."
Ich sehe auf, als Capryse mit ein wenig Abstand neben meinem Bett stehen bleibt und mir eine flache Scheibe hinreicht. Die bessere Version eines Tablets und die größere Fassung von einem dieser gläsernen Handys.
„Sie können in jedem Bereich recherchieren", sagt er, als ich es entgegennehme. „Versuchen Sie nur möglichst, Übersee außen vor zu lassen. Sollten Sie zu großes Interesse an den positiven Aspekten des Auslandes zeigen, stehen die Beamten schneller vor der Tür, als mir lieb ist. Über die Hintergründe des Krieges kann ich Sie auch so aufklären. – Wenn Sie wollen."
Aufmunternd lächelt er, dann lässt er mich wieder allein. Etwas überfordert drehe ich das Display in den Händen. Als es plötzlich aufleuchtet, lasse ich es sogar auf die Decke fallen und werfe einen knappen Blick zur Tür, für den Fall, dass Capryse irgendwie doch noch dasteht.

Aber da ich für mich bin, nehme ich es wieder auf und drehe es herum. Was muss ich jetzt machen?
Zögerlich wische ich mit meinem Finger darüber. Es tut sich auf jeden Fall etwas. Eine amerikanische Flagge taucht auf dem Bildschirm auf und ... ich stutze. Das sieht nicht richtig aus. Aber so überhaupt nicht. Ein einziger Stern ist auf dem verdammten Karree abgebildet, was bedeutet, dass da so einige fehlen.
„Was ..." Ich starre auf den Bildschirm, auf dem nun ein Schriftzug auftaucht.

Für den großen ehrwürdigen Vater. Reinheit, Tapferkeit, Wachsamkeit.

„Das ist doch nun wirklich albern", murmel ich und als hätte das Tablet meine Worte gehört, lässt es die Buchstaben und den Banner wieder verschwinden und eine Suchleiste taucht vor mir auf. Kurz überlege ich, dann gebe ich >amerikanische Flagge< ein. Vielleicht kann mir dieser Kasten erklären, was hier vor sich geht. Ich muss nicht einmal wirklich auf das Ergebnis meiner Suche warten. Innerhalb kleinster Augenblicke leuchtet ein Text vor mir auf.

Für den großen ehrwürdigen Vater. Reinheit, Tapferkeit und Wachsamkeit.

Das Sternenbanner der Big United States zeugt nicht nur von den Prinzipien unseres Landes, sondern auch davon, dass der ehrwürdige Vater die absolute Kompetenz besitzt, die Welt zu einem besseren Ort zu gestalten.
Die Farben rot, weiß und blau lassen das Herz eines jeden Staatsbürgers höher schlagen. Mit den zusätzlichen Ländern des südlichen Amerikas wurde auch unser Sternenbanner stärker und beweist einmal mehr, dass die BUS als Einheit viel stärker sind.

2124 war das ausschlaggebende Jahr auf dem Weg der Heilung. Nachdem sich das ehemalige Südamerika den Staaten angeschlossen und sich unter den Schutz des ehrwürdigen Vater begeben hat, war der erste Schritt getan. Nicht nur die Handelswege entwickelten sich bedeutend, auch einzelne Aspekte wie Industrie, Wissenschaft und das soziale Gesellschaftswesen durchliefen einen gewaltigen Fortschritt.
Das ist aber nicht das einzige Ziel unseres ehrwürdigen Vaters. Vielmehr bemüht er sich nach Kräften, die Einheit noch stärker zu formen und so Lebensweise, Wirtschaft und Kultur qualitativ zu verbessern.

Unterstützen Sie jetzt unseren ehrwürdigen Vater, damit alle Nationen zu einer Einheit heranwachsen können.
Besuchen Sie uns auf: worldbest_economy.bus

Ich mustere das Bild des Mannes, das unter dem kurzen Text auftaucht. Die dunkelblonden, aber dünnen Haare sind zur Seite gestrichen worden. Die Seiten sind fast bis auf die Haut zurückrasiert worden. Der Mann selbst steckt in einer weißen Uniform mit einzelner roter und goldener Dekoration. Man möchte meinen, man hat einen Weihnachtsbaum vor sich.
– Auffällig sind jedoch seine Augen. Sie funkeln fast zu sehr, als dass sie natürlich wirken könnten. Ich kneife meine zusammen, um sie näher zu betrachten, aber ich will nicht darauf kommen, um was es sich handeln könnte.
Als ich ein wenig weiter scrolle, erscheint eine Bildunterschrift:

Elwood Sterling, allseits geliebter großer, ehrwürdiger Vater der BUS

Was für ein Name. Genauso gruselig wie der Anblick des Mannes an sich.
Ich betrachte das Porträt noch kurz, dann gehe ich zurück und lösche den Eintrag aus der Suchleiste. Überlegend lasse ich meinen Blick durch den Raum wandern.
Meine Augen bleiben an dem Bücherregal hängen und mir kommt ein Gedanke. –Ich werde aber enttäuscht. Von James Cathcart hat das Internet hier noch nie etwas gehört.
Stirnrunzelnd suche ich nach irgendeinem anderen Physiker, welcher diese Welt hier mit Quantenphysik vorangebracht hat, aber selbst einen solchen finde ich nicht, abgesehen von jahrhundertelangen Forschungen mehrerer Physiker, welche sich nach und nach weitergeholfen haben. Einer, der allein einen besonders gewaltigen Durchbruch in diesem Thema erreicht hat, gibt es jedoch nicht.

Nur dem SEA selbst scheint sich generell näher mit dem Thema befasst zu haben. Ich bin fast ein wenig schockiert, wie lange es dieses Unternehmen schon gibt. Als ich auf die Website des Services zurückgreife, leuchtet mir direkt die grauenvolle Flagge entgegen, dicht gefolgt von Cornelius Summit.
Brummend lese ich mir die Anzeige durch, in welcher einzelne Ziele und Forschungsgebiete aufgezeigt werden. Der SEA beschäftigt sich wirklich mit so gut wie jedem Thema. Kein Wunder, dass Summit der Meinung ist, es sei die wichtigste Organisation des Landes. Ich stoße ein abfälliges Schnauben aus.
Dann fällt mir die Erwähnung einer weiteren Gruppe ins Auge, welche scheinbar eine Partnerschaft mit dem SEA pflegt.
Die Group for International Safety hat sogar einen eigenen Bericht auf der Seite des SEA bekommen und unwillkürlich frage ich mich, ob sich diese Leute wirklich um die internationale Sicherheit sorgen oder doch eher nur aufgrund des Krieges bestehen, der jetzt schon so oft erwähnt wurde.

„Ist etwas Interessantes dabei?"
Als ich aufsehe, hält Wendell Capryse lächelnd ein Tablett in die Luft.
„Ihr Mittagessen. Haben Sie Hunger?"
Ich schalte das Tablet aus und lege es zur Seite.
„Harriet hat auch vorhin das Monaxilin vorbeigebracht. Es sollte nach jeder Mahlzeit eingenommen werden."
Ich entdecke die weiße Kapsel neben dem Teller und einem Glas Wasser.
„Nun?"
„Was, nun?"
„Was meinen Sie?" Capryse deutet auf das Tablet und begegnet erwartungsvoll meinem Blick.
„Ich bin froh, dass der Adler immer noch das Wappentier ist."
„Weißko-" Er räuspert sich. „Das hat Sie so sehr beschäftigt, dass Sie jetzt so blass sind?"

Ja, klar. Das war wahrscheinlich die Sache, die mein Herz ein wenig ruhiger hat schlagen lassen – nachdem ich auf ein Interview von Summit gestoßen bin, der das neueste Projekt des SEA hoch anpreist. Projekt. Wenn ich diesen Mistkerl das nächste Mal sehe, haue ich ihm eine runter!
„Darf ich Sie etwas fragen?", holt mich Capryse aus meinen Gedanken.
„Das tun Sie doch sowieso, oder?", murmel ich.
Seine Mundwinkel zucken. „Wohl wahr. Aber kann es sein, dass Sie aus einem der Apparaturen gekommen sind, die der gute Cornelius so großspurig >Quantentunnel< nennt?"
„Nein. Der Kerl hat mich erst Stunden danach aufgegriffen."
„So", meint Capryse nur, als ich keine weitere Anstalten mache, auf seine Fragen zu antworten. „Dann möchten Sie ja jetzt vielleicht etwas zu sich nehmen."

So eintönig der Tag auch ist, so habe ich nichts dagegen, dass der nächste ebenso abläuft. Genauso wie der darauffolgende und der darauffolgende und der wiederum darauffolgende.
Allerdings muss ich wirklich aufpassen, was ich sage und dass Wendell Capryse auch wirklich seinen Mund hält. Selbst die Ärztin habe ich erst heute erneut davon abhalten müssen, wieder eine Spritze bei mir anzusetzen. Nur leider ist sie nach ihrer Untersuchung nicht gegangen, sondern unterhält sich immer noch mit Capryse. Ich sitze in dem Bett und lausche den dumpfen Stimmen, die durch den Boden zu mir herauftönen. Die Worte verstehe ich zwar nicht, aber solange nur sie zwei zu hören sind, ist alles noch in Ordnung.

Gedankenverloren ziehe ich mein Oberteil hoch und streiche über den Verband. Vorsichtig Druck ausüben geht zwar, aber als ich mich zur Seite drehe, um aufzustehen, zucke ich zusammen und muss mich wieder setzen. Scheiße, wie kann das jetzt noch so schlimm sein?
Wie kann ich mich regenerieren, wenn ich sterbe, aber sonst – nicht? Vielleicht sollte ich es wirklich beenden, dann kann ich weg von hier.
Ich versuche noch einmal, mich zu erheben und stehe sogar für ein paar Sekunden wankend, aber aufrecht da, dann muss ich mich aber wieder setzen. Mit einem leisen Ächzen greife ich mir an die Schläfe. Ganz so weit bin ich einfach noch nicht.
„Was tun Sie denn da?"
Mein Kopf ruckt zur Tür, in welcher Harriet steht. Innerhalb von Sekunden hat sie mich wieder vollständig ins Bett verfrachtet.
„Sie können doch noch nicht aufstehen! Vor allem nicht ohne Hilfe", meint sie in dem Moment, in dem auch Capryse im Raum auftaucht.
„Das hab ich selbst gemerkt", knurre ich.
Kopfschüttelnd richtet sie sich wieder auf.
„Wir sind heutzutage zwar so weit, dass Verletzungen oder Krankheiten schneller heilen, aber ein paar Tage sollten Sie schon mindestens noch warten. Mit dem vorsichtigen Aufstehen. Weitere Kraftanstrengungen sind generell bis auf Weiteres zu unterlassen."
Brummend starre ich auf die Bettdecke.

„Heute einmal etwas früher."
Capryse stellt nur wenige Stunden später das Essen ab. „Ich hoffe, das stört Sie nicht."
Ich erhasche einen Blick auf seine Armbanduhr und ziehe meine Stirn in Falten.
„Warum denn? – Haben Sie etwas vor?"
Dünn lächelt er. „Könnte man so meinen." Er sieht aus dem Fenster. „Ich stehe aber in spätestens einer halben Stunde wieder zur freien Verfügung. Lassen Sie es sich schmecken."
Ich warte noch, bis er die Treppe erreicht hat, dann schiebe ich die Decke zur Seite, stehe mit zusammengepressten Zähnen auf und schleppe mich zum Fenster. Ich drücke meine Nase zwar nicht an der Scheibe glatt, wäre das doch wirklich dumm, aber den Atem anhaltend beobachte ich die Umgebung. Die Straße, die umliegenden Häuser und sogar deren Vorgärten.
Nichts zu hören, abgesehen von meinem eigenen Herzschlag. Und außer ein paar Passanten ist auch nicht wirklich etwas zu sehen. Es sei denn, bei denen handelt es sich um getarnte Polizisten oder Leute des SEA.
Meine Finger krallen sich in das Fensterbrett, aber keiner zeigt auch nur Interesse an der Einfahrt des Hauses. Vielleicht reagiere ich auch einfach nur über und Capryse verhält sich so seltsam, weil ... – mir will nichts einfallen.

Da legt sich ein Schatten über die sonst so funkelnden Dächer des Blocks. Ein einzelner dunkler Wagen fährt vorüber und es dauert nicht lange, dann taucht auch schon eines dieser riesigen ovalen Luftschiffe am Himmel auf. Vor Schreck stolpere ich zurück und stürze zu Boden. Warum tauchen diese Dinger immer dann auf, wenn ich mich gerade auf der Flucht befinde?
Auf dem Boden rutsche ich so schnell wie möglich zur Bettkante und ziehe mich daran hoch. In der Nähe dieser Fluggeräte sind eigentlich immer Leute der Polizei. Waren die letztendlich sogar in dem Fahrzeug? Oder war das nur Zufall?
Ich beschließe, das nicht unbedingt herausfinden zu wollen und sehe mich hektisch um. Ich kann nicht wieder das Bett auseinandernehmen oder ein Buch benutzen, es muss etwas anderes geben!

Als sich die Tür öffnet, nehme ich, was ich kriegen kann. Das Messer, welches neben dem Teller liegt, ist zwar weder besonders spitz noch wirklich groß, aber es wird wohl reichen müssen. Drohend halte ich es Capryse entgegen.
„Ist etwas nicht in Ordnung?", fragt er stirnrunzelnd, den Türgriff immer noch in der Hand.
„Kommen Sie mir nicht zu nahe!", zische ich und richte mich ein wenig weiter auf, was meine Beine zum Zittern bringt. „Wann haben Sie die gerufen? Hm?"
Verwirrt sieht er mich an. „Ist es aufgrund des AirTecs? Die strahlen doch lediglich Werbung oder Neuigkeiten aus. Unter Umständen vielleicht einen Aufruf an die Bevölkerung."
„Tun Sie doch nicht so, das ... Sie sollen da stehen bleiben!"
Er hebt seine dürren Hände. „Legen Sie doch bitte das Messer weg. Die Schiffe kommen nur Samstags in die kleineren Blocks. In spätestens fünf Minuten ist es wieder verschwunden, das kann ich assekurieren."

Das Zimmer verdunkelt sich für einen Moment, als das Luftschiff vor dem Fenster nun das Haus erreicht. Ich stoße mich von dem Nachttisch ab und stolpere auf den Sessel zu. Abgesehen davon, dass sich meine Seite immer noch ein wenig taub anfühlt, geht das Laufen immer besser. Im Moment. Wahrscheinlich dauert es nicht sehr lange, bis es wieder anfängt zu brennen und mich die Kraft verlässt.
„Sie sollen sich nicht von der Stelle bewegen! Haben Sie mich nicht verstanden?"
Abrupt hält Capryse inne, die Hände hat er immer noch erhoben, als könnte ich jederzeit das Messer nach ihm werfen.
„Wie oft habe ich Ihnen jetzt schon garantiert, dass Sie vor mir nichts zu befürchten haben?", fragt er und nickt knapp. „Sehen Sie? Es zieht weiter, es wird nicht hierbleiben."
„Warum sollte es überhaupt hier herkommen?", erwidere ich knurrend. „Ich gehe nicht zurück, verstanden? Auf keinen Fall! Ich gehe nicht wieder zurück!"
„Das müssen Sie auch nicht. Sie sind hier sicher. Vincent."

Ich stocke ein wenig. Das ist das erste Mal, dass ich ihn meinen Namen aussprechen höre. Es hört sich ... so anders an. Keine Spur einer Drohung oder Forderung liegt darin, wie es bis jetzt so gut wie immer gewesen ist.
„Wenn ich Sie wirklich hätte ausliefern wollen, wäre es doch klüger gewesen, es gleich am ersten Abend zu tun. Als Sie geschlafen haben", fügt er hinzu.
„An diesem ... diesem AirTec war keine Werbung, wie Sie gesagt haben", stammel ich.
„Das ist richtig, nicht an dem heutigen Tag. Samstagmittag findet eine Fernsehübertragung aus dem Weißen Haus statt, bevor jeder Bürger den Eid mitspricht, das wäre in wenigen Minuten, und würde jemand sehen, dass ich es nicht tue, hätte ich so einiges am Hals. Warum legen Sie also nicht einfach das Messer weg und essen erst einmal etwas? Es wird Ihnen nichts geschehen."

Meine Hand zittert, als ich ihn so anschaue. Wenn er mich anlügt und ... und wenn er mich nur hinhalten will ... – ich hätte nicht einmal eine Chance, mich zu verteidigen, egal, was ich mir einrede. Es würde keine zehn Sekunden dauern und ich bin wieder gefangen und wahrscheinlich sogar betäubt. Und wenn ich dann aufwache ... ich merke, wie meine Fassade beginnt, zu bröckeln.
„Ich will nicht zurück", presse ich zwischen meinen zusammengepressten Zähnen hervor. „Hören Sie? Ich will nicht!"
„Das weiß ich, Vincent. Sie wissen, dass Sie mir vertrauen können, richtig?"
„Ich will nicht", stoße ich mit bebender Stimme hervor. Meine innere Mauer fällt nun völlig in sich zusammen. „Lassen Sie ... lassen Sie mich hierbleiben, bis ... bis ich ... verdammt, bitte!"
„Soll ich Ihnen zum Bett helfen?", fragt Capryse so sanft, dass sich in meinem Inneren alles zusammenzieht. Stumm nicke ich, mit aller Kraft darauf konzentriert, nicht hier und jetzt in Tränen auszubrechen. Was ist nur los mit mir?

Ich leiste keinen Widerstand, als Capryse mir die improvisierte Waffe aus der Hand nimmt und mir dann hilft, zum Bett zurückzugehen. Vorsichtig setzt er mich darauf ab und legt das Messer zur Seite. Mittlerweile glaube ich zwar nicht, dass er einfach nur naiv ist, aber seine Gutgläubigkeit bringt ihn irgendwann noch ins Grab.
„Wollen Sie etwas trinken, Vincent?"
„Ja, ich ..." Ich fahre mir durch die Haare und atme tief durch. „Entschuldigung. Ich war nur gerade ein wenig ... ich weiß nicht."
Seine bleichen Finger drücken für eine winzig kleine Sekunde meine Schulter. Sie sind schon wieder verschwunden, bevor ich es überhaupt richtig bemerke.
„Sie sind ein wenig durcheinander. Ich hole ein Glas Wasser, in Ordnung?"

Dafür braucht er nicht lange. Ich habe zwar nicht einmal mitbekommen, dass er den Raum wieder betreten hat, aber ich habe wenigstens meine Atmung wieder so weit unter Kontrolle, dass ich relativ klar denken kann. Unsicher betrachte ich das Glas.
Capryse lächelt und öffnet seine andere Hand, in welcher eine kleine Kapsel zum Vorschein kommt.
„Zur Beruhigung. Sie würden einfach nur ein wenig leichter einschlafen. Ich kann Ihnen gerne auch später noch einmal etwas zu Essen bringen und Sie ruhen sich bis dahin erst noch ein wenig aus. Sie müssen sie aber nicht nehmen, wenn Sie nicht wollen."
Ich schüttel mit dem Kopf. „Eher nicht", meine ich leise.
„Dann lege ich sie hier hin und wenn Sie sie einmal brauchen sollten, steht sie Ihnen gleich zur Verfügung."
Nachdem ich das Glas in einem Zug ausgetrunken habe, bleibe ich noch kurz auf der Kante des Bettes sitzen, die Augen fest geschlossen, dann lasse ich aber die Erschöpfung gewinnen, die mich ergriffen hat, und lege mich hin.

„Los, hoch mit dir!"
Ich schrecke aus dem Schlaf. Helles Licht blendet mich und blinzelnd sehe ich dem Mann entgegen.
„Wird's bald? Aufstehen!"
Mein Mund klappt auf, als ich ihn erkenne. Ein Schlagstock baumelt in seiner Hand.
„Was? Da- das ist nicht ..."
Gleißend helle Punkte tauchen vor meinen Augen auf, als Clyde ausholt und mir mit voller Wucht ins Gesicht schlägt. Dann spüre ich einen festen Griff im Nacken, kurz bin ich schwerelos, dann lande ich unsanft auf dem Boden.
„Soll ich mich wiederholen? Steh jetzt endlich auf!"
Ich hebe meine Arme über den Kopf, als mich der Mann auf die Beine reißt.
„Was ist das hier?", stoße ich keuchend hervor. „Das ... das ist nicht ... ich war in Sicherheit, ich ..."

Die Lippen des Mannes verziehen sich zu einem spöttischen Grinsen.
„Er redet wirr, wie lustig. – Los jetzt, komm mit!"
Unsanft stößt er mich aus der Zelle und auf den hellen Gang. Ich falle direkt in die Arme von zwei weiteren Wachleuten und werde sofort weitergezerrt. Das ist nicht wahr. Das kann nicht wahr sein!
Ich bin doch geflohen und ... und ... er hat mich verraten! Die Erkenntnis durchzuckt mich wie ein Stromschlag. Wendell Capryse hat mich betäubt und verraten und jetzt bin ich dazu verdammt, den Rest meines Lebens in dieser Hölle gefangen zu sein.
Verzweiflung strömt anstelle von Blut durch meine Adern und mein Herzschlag beschleunigt sich. Ich reiße mich los.
Ich schaffe drei Schritte, dann reißt mich brennender Schmerz von den Füßen und lässt mich auf dem Boden verkrampfen.
„Er hat tatsächlich nicht daraus gelernt", stellt Clyde fest und lacht höhnisch auf. „Schön brav sein, der Doktor wartet schon."

Ich zittere am ganzen Körper, als sie mich wieder packen und über den Gang zerren. Schritt für Schritt. Nach jedem weiteren ist das Atmen noch schwieriger. Immer öfter bleibe ich stehen, aber noch öfter werde ich einfach weitergestoßen.
„Bitte nicht. Ich ... bitte, ich will nicht", stottere ich und sträube mich verzweifelt gegen die Männer. „Lasst mich doch einfach in Frieden, ich habe nichts getan ..."
Wir erreichen eine weiße Tür. Nein. Ich will doch nicht!
Betont lässig stellt sich Clyde vor mir auf und hebt grinsend seinen Stock. Ich ducke mich weg, aber er pocht damit nur gegen die Tür. Dann öffnet er sie. Ein riesiger Raum voller seltsamer Geräte und Männer und Frauen in Kitteln taucht dahinter auf. Ich erkenne Dr. Palmer sofort.

„Palmer!", stoße ich keuchend hervor. „Helfen Sie mir! Bitte, ich ... bitte tun Sie mir nichts!"
Ich verziehe mein Gesicht. Der Mann ignoriert mich einfach. Er nickt Clyde nur knapp zu, dann werde ich schon durch den Raum gezogen, bis wir vor einer schrägen Metallplatte stehen bleiben. Ehe ich reagieren kann, wird mir schon das Oberteil vom Leib gerissen und ich werde mit dem Rücken voran dagegengestoßen.
„Nein! La- lasst das! Lasst mich los, ich will nicht ..."
Metallene Schnallen fesseln meine Hand- und Fußgelenke, sodass ich breitbeinig – die Arme ebenfalls rechts und links von mir gestreckt – dastehe, dann ertönt ein tiefes Surren und die Platte fängt plötzlich an sich zu drehen. Ich keuche und reiße an den Fesseln, aber ich komme nicht los und die Konstruktion hält erst an, als ich kopfüber in der Luft hänge. Meinen Mund habe ich weit aufgerissen, um irgendwie Luft zu bekommen.

Jetzt taucht Palmer vor mir auf und diesmal sieht er mich auch an. Keine Spur des Erkennens, des Mitleides oder sonst eines Gefühls liegt in seinem Blick.
„Nun gut, Mr. Holt", beginnt er völlig unbeeindruckt. „Sie kennen ja die Prozedur. Heute schauen wir mal, wie viel Druck Sie aushalten."
Ich rucke weiter an den Fesseln, als er eine kleine Taschenlampe aus seiner Kitteltasche zieht. Da! Eine der Schnallen lockert sich. Ich wehre mich weiter.
Weißes Licht fällt in meine Augen und ich drehe meinen Kopf zur Seite. Ich muss hier weg! Sofort! Ich will nicht hier sein, ich will nicht wieder sterben! Ich will es einfach nicht!
Da gibt die Schnalle an meinem rechten Handgelenk nach und Palmer bekommt meine geballte Faust mit voller Wucht ab. Er taumelt zurück und ich spanne mich an, um mich auch von den restlichen Fesseln zu befreien. Bereits in der nächsten Sekunde werde ich von unzähligen Händen zurück auf die kalte Platte gedrückt.
„Vincent! Beruhigen Sie sich, Vincent!"
Ich versuche, noch einmal um mich zu schlagen, aber ich werde erbarmungslos festgehalten.
„Lasst mich – los!", schreie ich und rucke an den Schnallen. „Loslassen! Ich will nicht, lasst ... lasst los!"
„Ich bin hier, Sie sind in Sicherheit. Vincent, alles ist gut."

Endlich schaffe ich es loszukommen – und setze ich mich auf. Ich halte inne. Das geht nicht, das fühlt sich falsch an.
Ich sitze wieder in einem Bett. Ein richtiges, nicht auf so einer unbequemen Pritsche. Erst schaue ich an mir herab – keine Fesseln und ich trage immer noch das graue, unbeschriftete Oberteil, auch wenn dieses große Schweißflecken aufweist – und taste vorsichtig über die Bettdecke, dann wandert mein Blick langsam zur Seite.
Wendell Capryse sieht mich forschend an. Sofort rucke ich von ihm weg und an die Wand, aber schon auf dem zweiten Blick fällt mir auf, dass er nicht wirklich furchterregend wirkt.
Tatsächlich sieht er sogar ziemlich erbärmlich aus, bei all dem Blut, das aus seiner Nase und auf sein blütenweißes Hemd tropft. Seine Haare sind völlig zerzaust. Das Gesicht hat er bei dem Anblick des ruinierten Kleidungsstückes kläglich verzogen, dann sieht er aber wieder auf.
„Vincent", sagt er vorsichtig. „Es ist alles in Ordnung, Sie sind hier in Sicherheit. Niemand wird Ihnen wehtun."
Ich merke, wie mir eine Träne über die Wange rollt. Ich versuche, es zurückzuhalten, doch dann ist da noch eine und kurz darauf vergrabe ich mein Gesicht in den Händen, um das Schluchzen zu ersticken. Ich schaue nicht einmal auf, als ich Capryse' Hand auf meinem bebenden Rücken spüre.
„Es ist alles in Ordnung, Vincent", wiederholt er. „Sie sind hier in Sicherheit. Ich sorge dafür, dass Ihnen nichts passiert, das verspreche ich Ihnen."

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