SEA
Ich halte inne und lausche in die langsam weichende Finsternis der Nacht. Nichts. Ich stehe sogar auf, um aus dem Fenster sehen zu können, doch die Straße ist – abgesehen von ein paar Mülltonnen – leer. Menschenleer.
Schnell ziehe ich mich wieder zurück und knie mich auf den Boden. Zuerst muss der blöde Ring weg. In dieser Gegend fällt der sicher auf, auch wenn mir selbst der Sinn des Dinges verborgen bleibt.
Und dann ertönt ein dumpfes Geräusch.
Ich sehe in dem Moment auf, in dem eine kleine Scheibe über den Boden gleitet und in der Mitte des Raumes zum Stillstand kommt. Dann ertönt ein leises Zischen.
Sofort springe ich auf und zur Tür. Ich stolpere jedoch zurück, als dunkle Gestalten im Flur auftauchen. Helle Lichter links und rechts von ihnen strahlen mir direkt in die Augen. Ich mache auf dem Absatz kehrt, halte mir den Ellenbogen vor Mund und Nase und laufe auf das Fenster zu. Dabei kneife ich meine Augen zusammen.
Tonscherben knirschen laut unter meinen Füßen und ich stürze fast zu Boden. Dann scheint meine Lunge zu explodieren und kurz darauf spüre ich das Brennen auch in meinen Augen. Wankend komme ich zum Stehen.
Weder weiß ich, wo das Fenster ist, noch, wie ich dieses ätzende Gefühl wieder loswerde. Da ertönt ein harscher Befehl und im nächsten Moment landet etwas mit voller Wucht in meinem Magen. Jeglicher Rest an Sauerstoff weicht aus meinen Lungen und ich stürze zu Boden.
Obwohl ich völlig blind bin, reiße ich die Waffe in meiner Hand hoch. Ich drücke den Abzug, doch ... nichts. Das Klicken ist schlimmer als das Brennen.
Ich bekomme einen zweiten Schlag auf meine Schulter, die Waffe fällt zu Boden und ich breche zusammen. Meine Hände werden hinter meinem Rücken gerissen und ich spüre, wie ein zweiter Metallring um mein rechtes Handgelenk geschlossen wird. Augenblicklich zieht es mir die Arme noch weiter nach hinten und ich kann mich nicht mehr bewegen. Was zum Teufel ist das? Ich habe nicht eine Möglichkeit gesehen, die Ringe miteinander zu verbinden. Wieso bin ich dann jetzt gefesselt?
Mir bleibt keine Zeit zum Nachdenken, denn sobald das geschehen ist, werde ich auf die Füße gezerrt und mir wird etwas über den Kopf gestülpt. Mittlerweile hole ich nur noch rasselnd Luft und Tränen laufen mir über die Wangen. Ich kann nichts dagegen tun. Selbst wenn man mir die Augen nicht verhüllt hätte, würde ich nichts sehen, da ich diese die ganze Zeit zusammenkneifen muss.
„Zielobjekt festgesetzt", ertönt eine dumpfe Stimme vor mir, während meine gefesselten Hände nach oben gerissen werden, sodass ich dazu gezwungen bin, mich vornüber zu beugen. „Los jetzt, wir ziehen uns zurück!"
Ich stolpere fast, als ich von den Fremden mitgezerrt werde. Ich höre das schwere Auftreten von harten Schuhen, dann schlägt mir ein Windhauch entgegen.
„Ladet ihn ein, wir fahren direkt in die Zentrale!"
Kaum hat der Mann neben mir das gesagt, stößt mein Schienbein mit voller Wucht gegen etwas an. „Trittbrett. Füße hoch!"
Ich tue es, werde von vorne an meiner Schulter gepackt, finde mich kurz darauf auf einem Sitz wieder und werde sofort angegurtet.
Ich spüre, wie sich links und rechts von mir ebenfalls Männer hinsetzen. Türen schlagen zu, der Wagen erzittert, dann packt einer der Männer meinen Kopf und drückt ihn bestimmt zwischen meine Beine.
„Was ... " Ich keuche, als ich einen Schlag in die Seite bekomme.
„Höre ich auch nur ein Wort, breche ich Ihnen die Rippen", knurrt es drohend und ich spanne meinen Kiefer an.
Bei dem Ton weiß ich, dass er die Drohung wahr machen würde. Also kann ich einfach nur die tränenden Augen zusammenkneifen und versuchen, genug Luft zu bekommen.
Während der Fahrt verliere ich jegliches Zeitgefühl, von der Orientierung ganz zu schweigen. Dazu darf ich mich nicht bewegen, obwohl mir alle Gelenke wehtun.
Erst nach mehreren Minuten, die sich für mich wie Stunden anfühlen, kommen wir endlich zum Stehen. Ich weiß nicht, ob ich mich wirklich darüber freuen soll, aber wenigstens komme ich so aus dieser unbequemen Haltung. Ich werde hoch und aus den Wagen gerissen. Mein Stolpern wird von einem zweiten festen Griff in meinem Nacken unter Kontrolle gebracht.
Ich weiß nicht, wohin wir gehen, aber nach wenigen Yards verwandelt sich der Boden in eine glatte Oberfläche, welche unsere Schritte laut widerhallen lässt.
Richtig atmen kann ich mittlerweile wieder, auch wenn meine Augen noch immer brennen und ich sie kaum offenhalten kann. Durch den Stoff über meinem Kopf dringt ab und zu ein hauchdünner Lichtschein, was alles aber nur noch schlimmer macht.
Dann bleiben wir stehen und eine Tür wird geöffnet. Ich werde nach rechts gezogen und kurz darauf auf einen Stuhl gedrückt.
Die Luft anhaltend lausche ich den Schritten der Männer – wenn ich mich nicht irre, sind es vier von ihnen –, etwas verlauten lassen sie jedoch nicht.
Für einen Moment dachte ich noch, sie geben meine Hände frei, aber die bleiben hinter meinem Rücken gefesselt. Dann werde ich alleine gelassen. Einfach so, ohne ein weiteres Wort.
Ich kann es nicht fassen. Ich schließe meine Augen, um das Stechen wenigstens etwas zu lindern und balle meine zitternden Hände zu Fäusten. Wie hatten sie mich so schnell finden können?
Sie hatten ja sogar gewusst, in welchem Raum ich mich befinde, ich hatte nicht einmal den Hauch einer Chance, ihnen zu entkommen. Als wäre ich in eine schon vorbereitete Falle getappt.
Ich hebe meinen Kopf, als ich die Tür höre. Sie fällt wieder ins Schloss, dann läuft jemand um mich herum und ich höre mir gegenüber einen Stuhl über den Boden schaben.
„Bitte", sagt eine lockere Stimme und jemand tritt an mich heran.
Mit einem Ruck wird der Stoffsack von meinem Kopf gezogen und ich senke ihn, aufgrund der plötzlichen Helligkeit. Der Polizist bleibt neben mir stehen.
„Ich wünsche Ihnen einen guten Abend, mein Name ist Samuel Easton. Sie sind also in eine Lagerhalle des KI-Planet eingedrungen und haben sich zwei Beamten des Sicherheitsamtes widersetzt?"
Blinzelnd schaue ich auf. Der Mann vor mir mustert mich mit verschränkten Armen. Er sitzt nicht etwa locker da, vielmehr hat er sich auf dem Stuhl niedergelassen, als hätte er einen Stock verschluckt.
Auf seinem Hemd ist nicht ein Fleck und seine Haare sind genau so tadellos wie der ganze Rest. Vor ihm liegen Blatt und Stift und eine – Glasscheibe in der Form eines kleinen Tablets.
Ich blinzel. „Was ... was war das?"
„Wie meinen?" Der Mann – Easton – winkt ab, als der Polizist auf mich zutreten will.
„Der Rauch, das ... das ist doch nicht normal."
Ich merke, das meine Augen noch immer tränen. Mein Gegenüber sieht mich etwas verwundert an.
„Alifaangas. Was glauben Sie denn?"
„Habe ich bisher nicht gekannt", stoße ich hervor.
„Sieh an." Eine Weile mustert er mich.
„Also", fährt er dann lächelnd fort. „Wie ist Ihr Name, hm?"
„Ho-" Ich huste. Mein Hals kratzt wie verrückt. „Holt."
„Den vollständigen Namen, bitte."
„Vincent Holt", antworte ich krächzend. Ich starre dabei auf einen seiner Knöpfe. Selbst die sind alle fehlerlos angebracht worden, nicht einer hängt schief.
Mein Gegenüber nickt knapp und notiert sich meinen Namen auf dem Blatt.
„Sagen Sie mir, woher Sie kommen?"
Ich atme tief durch. „Louisiana. Hören Sie, ich ... "
Ich keuche auf, als mein Kiefer einen Schlag abbekommt, sodass mein Kopf mit voller Wucht zur Seite geschleudert wird.
„Mr. Holt, Louisiana hat schon 2135 dem Abkommen zugestimmt, Kennchips einzuführen. Ja, Louisiana war sogar einer der ersten Staaten, welche überhaupt durchgesetzt haben, jeden Bürger an seinem zehnten Geburtstag zu kennzeichnen."
2135?
Mir wird schwindelig. Das muss sich um einen Scherz handeln, das kann dieser Polizist nicht ernst meinen. – Und was meint er mit diesen Kennchips?
Wahrscheinlich genau dasselbe, wie die Polizisten in der Lagerhalle. Wer hätte gedacht, dass wegen dem Fehlen der Dinger solch ein Theater gemacht wird?
Easton lehnt sich ein wenig vor, die aufrechte Körperhaltung behält er.
„Wollen Sie es vielleicht noch einmal versuchen?"
Ich schaue zur Seite. Der Polizist hat seine Brauen gehoben und streicht sich, wie in Gedanken versunken, über seine Fingerknöchel.
„Hören Sie, ich glaube, dass ich aus Luoisiana bin", sage ich und sehe Easton eindringlich an. Auf keinen Fall kann ich die Wahrheit sagen, weshalb ich einfach bei der
Ich-kann-mich-an-nichts-erinnern-
Nummer bleibe.
„Ich ... ich weiß nicht einmal, wo ich jetzt bin und wie ich hierhergekommen bin. Ich bin in dieser seltsamen Montour in dieser ... dieser Lagerhalle aufgewacht und von den zwei Polizisten bedroht worden. Ich ... " Ich atme tief durch. „Ich habe einfach Panik bekommen und bin geflohen."
„Er hat Panik bekommen und ist geflohen", wiederholt Easton mit einem Schmunzeln auf den Lippen. „Das erklärt aber nicht das Fehlen Ihrer ID. Haben Sie das etwa auch vergessen? Und was ist damit: Auf Sie wurde geschossen, den Bericht des Beamten kann ich Ihnen jederzeit zeigen. Weshalb haben Sie keinerlei Verletzungen? Mr. Holt, wenn das überhaupt Ihr richtiger Name ist, in diesem Fall gibt es eine ganze Menge an ungeklärter Fragen. Wenn Sie mir nicht sofort eine zufriedenstellende Antwort geben, muss ich andere Maßnahmen ergreifen."
Ich starre ihn an. „Das Fehlen dieses ... dieses Chips. Meine Eltern haben mit mir schon das Land verlassen, da war ich gerade einmal sechs Jahre alt. Mein Vater hatte ... er hatte ein Jobangebot in Europa. Ich weiß nur noch, dass ich vor ein paar Tagen wiederkommen wollte. Ich hätte mir den Chip auf jeden Fall geben lassen, das kann ich Ihnen versichern."
„Die Beamten haben bei Ihnen keine Einreisekarte sicherstellen können", erwidert Easton unbeeindruckt.
„Ich ... ich hatte eine", versichere ich. „Glauben Sie mir, im Moment weiß ich einfach nicht, was hier los ist."
Mein Gegenüber lächelt. „Lassen Sie mich Ihnen etwas zeigen."
Er greift neben sich und nach der komischen Glasscheibe. Erst bin ich verwirrt, als er dann jedoch darauf herumtippt und kleine Lichter zum Leben erwachen, wird mir klar, dass das sein Handy ist. So langsam glaube ich, an ein Amerika nach dem 21. Jahrhundert. Diese Technik ist viel fortschrittlicher als unsere. Staunend betrachte ich die Texte, welche in einer ungeheuren Geschwindigkeit über das Display rasen. Sobald sie zum Stehen kommen, legt er das Handy auf den Tisch und schiebt es zu mir.
Stirnrunzelnd fange ich an zu lesen.
Nach Artikel 1 der Rechtsordnung der Großen Vereinigten Staaten bekommt jeder in einem der Staaten geborene Mensch am Tage seiner Entbindung eine Identifikation, welche seine Identität sowie seine Leistungen speichert und zudem ein Strafregister ent-
Easton zieht das Handy wieder zu sich und lässt es in seiner Tasche verschwinden. Ich starre auf den Tisch.
„Sie haben gesagt, man bekommt den Chip mit zehn Jahren", murmel ich.
„Da habe ich wohl gelogen", entgegnet Easton. „Ihnen kann ich das jedoch nicht empfehlen. Ich werde meine Zeit nicht mit stundenlangem Fragenstellen verschwenden. Sagen Sie mir jetzt also am besten, wer Sie sind, woher Sie kommen und für wen Sie arbeiten oder ich muss andere Saiten aufziehen."
Fassungslos sehe ich ihn an. „Für wen ich arbeite? Für niemanden. Ich bin Amerikaner, aber ich habe keinen Ausweis. Ich habe gar nicht die Zeit bekommen, um mich darum zu kümmern."
„Sie erinnern sich wirklich an gar nichts?"
Ich schüttel meinen Kopf. „Nein, Mann. Das sagte ich doch bereits."
Seufzend erhebt Easton sich.
„Dann hilft Ihnen der Officer vielleicht wieder auf die Sprünge. Wissen Sie, Gedächtnisverlust ist eine ernstzunehmende Krankheit." Er nickt in die Richtung des Polizisten. „Zum Glück haben wir da ein Heilmittel. Vielleicht zeigt es ja schon in ein, zwei Stunden seine Wirkung."
Ich springe auf. Der Wahrheit würde er niemals glauben.
„Sie verstehen das nicht. Ich weiß
nicht ... "
Keuchend krümme ich mich zusammen und falle zurück auf den Stuhl.
„Lassen Sie sich ruhig Zeit", sagt Easton lächelnd und täschelt meine Schulter. Dann verlässt er den Raum.
Krampfhaft Luft einziehend richte ich mich wieder auf. Blut tropft von meinem Kinn und auf mein Hemd, mein Kopf schwirrt. Dem Rest meines Körpers geht es nicht besser. Alle paar Sekunden schießt ein neuer Schmerzimpuls durch ihn hindurch und lässt mich unkontrolliert zittern.
Der Polizist dreht mir eben den Rücken zu, sammelt sich wahrscheinlich zum nächsten Schlag. Ich öffne meinen Mund ein Stück weiter, um das Blut nicht herunterzuschlucken, dann dreht er sich wieder zu mir.
Das ist verrückt. Völlig verrückt. Das hier ist kein Verhör, das ist Folter.
Ich hebe gerade meinen Kopf und schaue zu dem Polizisten, als der sich einen Ring aus Metall über die Finger schiebt. Automatisch lasse ich meinen Kopf wieder fallen. Mein Atem beschleunigt sich erneut.
„Sind wir so weit oder beginnen wir mit der nächsten Runde?"
Ich balle meine Fäuste. „Das ist Wahnsinn", zische ich. „Ich bin Amerikaner, setzen Sie mir doch einfach ... "
Ich keuche auf, als das Eisen auf meine Kinnlade trifft. Für einen Moment wallt Panik in mir auf. Wenn der Kerl mir den Kiefer gebrochen hat, kann ich nicht nur das Reden vergessen. Doch ich kann meinen Mund sowohl öffnen als auch schließen. Nur einer meiner Zähne ist locker geworden und der Raum verschwimmt ein wenig.
Aus den Augenwinkeln sehe ich wie der Mann zum nächsten Schlag ausholt, doch ehe er mich treffen kann, öffnet sich schon die Tür des Vehörraumes. Er hält inne und senkte seine erhobene Faust.
„Und, Officer? Hat sich unser Patient von seinem Gedächtnisverlust erholt?"
„Warum fragen Sie ihn nicht selbst, Sir?", entgegnet der Polizist, scheinbar völlig zufrieden mit sich selbst.
Samuel Easton geht um den Tisch herum und setzt sich wieder mir gegenüber. Mit einem Lächeln versucht er, meinen Blick einzufangen.
„Wie geht es Ihnen? Besser?"
Ich hebe meinen Blick. „Dürfen Sie das überhaupt?"
Meine Stimme klingt dumpf, ich erschrecke selbst darüber. Easton scheint sich davon nicht stören zu lassen. Beteuernd nickt er.
„Oh ja, in der Tat. Sobald die amerikanische Staatssicherheit auf dem Spiel steht, darf ich so gut wie alles mit der jeweiligen Bedrohung anstellen. Natürlich wäre ein Todesfall eher suboptimal, aber im Notfall ist auch das unausweichlich." Er lacht. „Aber bei Ihrem Glück entgehen Sie den Kugeln des Erschießungskommandos. Sie müssen mir unbedingt noch sagen, wie Sie das gemacht haben. Ihr Oberteil auf beiden Seiten zerrissen, aber keine Wunde. Respekt."
Sein Blick fällt auf die kleine, blutige Kapsel auf dem Tisch.
„Sieh an. Was ist denn das?"
„Das hatte er in seinem Nacken", informiert ihn der Polizist und lässt ein Messer aufklappen. Seine Mundwinkel zucken. „Ich habe es nur durch Zufall entdeckt."
Knurrend balle ich meine Hände zu Fäusten. Mistkerl. Das Blut läuft jetzt noch über meinen Rücken.
Mit prüfendem Blick nimmt Easton die Kapsel, die eigentlich meine Vitalwerte aufzeichnen sollte, an sich und dreht sie in seinen Fingern hin und her.
„Das wird ja immer interessanter. Wer weiß, was für Überraschungen Sie noch für uns offenhalten."
Ich atme tief durch. „Sind Sie fertig?"
„Sagen Sie es mir. Wir können das alles hier viel schneller hinter uns bringen. Sie wollen doch sicher auch nicht hier sitzen bleiben. Beantworten Sie meine Fragen und ich verspreche Ihnen ein gerechtes Gerichtsurteil."
Ich schnaube. Sogar das tut weh.
„Ein gerechtes Urteil. Was muss ich mir darunter vorstellen?"
„Ich kann Ihnen versichern, dass es deutlich angenehmer ist als das hier." Er beschreibt einen Handwink durch den Raum. „Fangen wir doch einfach noch einmal von vorne an, hm? Mein Name ist Samuel Easton und es ist mir eine außerordentliche Freude, Sie kennenzulernen. Wie ist Ihr Name?"
Ich starre ihn an. Er meint das tatsächlich ernst. Aber niemals wird er mir glauben, wenn ich ihm von einer Parallelwelt erzähle.
„Vincent Holt", antworte ich leise.
Meine Zunge wandert wieder zu dem lockeren Zahn. Blut läuft über sie und ich hebe meinen Arm, um über meine feuchten Lippen zu wischen. Der Stoff des Ärmels färbt sich rot.
„Also bleiben wir dabei, nun gut. Für wen arbeiten Sie?"
„Kennen Sie nicht", gebe ich knapp zurück.
Schon landet die Faust des Polizisten in meiner Seite und ich rutsche fast von dem Stuhl und zu Boden.
„Mr. Holt, beantworten Sie bitte einfach meine Fragen. Keine unnötigen Abschweifungen, keine Ausflüchte. In Ordnung? Ich frage Sie noch einmal: Für wen arbeiten Sie?"
„Simmons. TAS. Mehr ... mehr weiß ich nicht, ich arbeite erst seit ... gestern für ihn."
Easton sieht mich nicht einmal an. Er macht sich nur wieder Notizen. „Wofür steht TAS?"
„Trans ... Transcendental Appearance Service."
Easton schürzt seine Lippen. „Interessant. Ich werde das natürlich überprüfen."
Ich schließe meine Augen. Natürlich wird er nichts finden. Wahrscheinlich gibt es diese Organisation hier gar nicht.
„Was haben Sie vorher gemacht? Wer war vorher Ihr Arbeitgeber? Vielleicht irgendein Geheimdienst? Die GIS? Oder vielleicht sogar die ACR?"
Ich schweige. Was ich vorher gemacht habe?
Vorher war ich ein absoluter Versager. Nein, noch schlimmer. Ich war Abschaum.
„Ich war im Gefängnis", antworte ich tonlos.
Easton gibt ein überraschtes Geräusch von sich und dem Polizisten neben mir entwischt ein Glucksen. Wahrscheinlich hat er schon längst die fünf tätowierten Punkte zwischen meinem Daumen und Zeigefinger gesehen, aber es noch einmal von der jeweiligen Person persönlich zu hören, ist schon etwas anderes.
„Weshalb waren Sie im Gefängnis?"
„Ich habe meinen Vater umgebracht." Die Worte gehen mir genauso leicht über die Lippen wie sonst auch. Es ist fast wie Wasser.
Ich habe zu diesem Mann einfach keinen Bezug. Man kann ihn nicht einmal als richtigen Vater bezeichnen, er war einfach nur mein Erzeuger. Mehr nicht.
„Warum haben Sie Ihren Vater umgebracht?", fragt mich Easton ruhig.
Ich schaue mit funkelnden Augen auf. „Ist das von Bedeutung? Ob ich nun nur ihn oder auch einen weiteren umgebracht habe, ist völlig egal. Ich wurde entlassen. Im Gegenzug habe ich für Simmons gearbeitet. Das müsste Ihnen reichen."
„Sie scheinen diesen Simmons nicht sehr zu mögen. Obwohl er Ihnen die Freiheit ermöglicht hat."
„Freiheit." Bitter lache ich auf. „Von wegen. Ausgenutzt hat der Kerl mich. Er brauchte einfach nur jemanden, der entbehrlich ist, so seine Worte."
„Er hat Sie als entbehrlich bezeichnet?", wiederholt Easton. „Er scheint sich wirklich für etwas Besseres zu halten. Er scheint Sie nicht einmal hier rausholen zu wollen."
Wut wallt in mir auf.
„Warum denn auch? Es ist doch seine Schuld, dass ich hier sitze. Einen Scheiß wird er tun und mit einer Rettungsaktion zugeben, dass ... "
Ich verschlucke mich fast, als ich verstumme. Dieser Dreckskerl.
Easton lächelt mich gleichmütig an.
„Er ist Schuld? Hat er Sie am Ende sogar in die Lagerhalle gebracht? Wie?" Seine Augen werden schmal. „Was genau sollten Sie für ihn tun? Was ist an Ihnen so besonders, dass er Sie an ihrem ersten Tag – wie Sie sagen – auf einen Außeneinsatz schickt?"
„Das ist jetzt auch egal oder etwa nicht?", fauche ich.
Easton setzt an, um etwas zu sagen, als es plötzlich an der Tür klopft. Ärgerlich zieht er seine Augenbrauen zusammen.
„Was ist denn?"
Die Tür öffnet sich und eine hohe Stimme ertönt. „Sir, da sind Mitarbeiter des SEA. Sie fragen nach dem Gefangenen, welcher bei KI-Planet eingedrungen ist."
Eastons Blick flackert zu mir. Dann sieht er zurück zur Tür.
„Jetzt schon? Hat er etwas mit Ihnen zu tun? Haben sie wenigstens das Videomaterial zur freien Verfügung gestellt?"
„Sie haben es dabei, Sir. Und sie wollen jetzt gleich mit Ihnen sprechen."
„Ja, dann ... bringen Sie sie her."
Die Tür schließt und in Eastons Augen macht sich ein Funkeln breit. Ein wenig ungeduldig klopft er mit seinem Zeigefinger auf die Tischplatte. Verwirrt beobachte ich sein Verhalten.
„Was ... ist denn los?"
Er hebt seinen Blick.
„Haben Sie zufälligerweise die Absperrung vor dem Eingang der Lagerhalle bemerkt? Ich bin mir sicher, das haben Sie. Auf jeden Fall hat der SEA das Gebäude eine Zeit lang für sich beansprucht. Wir wissen nicht, weshalb, da sie die vollständige Überwachung übernommen haben. Aber in ein paar Minuten kommt vielleicht doch Licht in die Sache – und wir wissen, wie Sie in die Halle eindringen konnten."
Mein Atem stockt. „Sie ... Sie meinen, von der Halle gibt es ... Videoaufzeichnungen?"
„Natürlich. Dachten Sie ernsthaft, solch ein riesiger Konzern sichert sein Eigentum nicht mit entsprechenden Maßnahmen?"
Ich gebe keine Antwort. Wenn das Portal und meine Ankunft tatsächlich aufgenommen wurden – ich will gar nicht daran denken. So wie die Leute Probleme hier behandeln, bin ich mir sicher, dass ich von dieser Hilfe nur ein paar gebrochene Knochen zu erwarten habe.
„Werden wir nervös?"
Als ich aufschaue, lacht Easton leise.
„Rücken Sie lieber mit der Sprache raus, solange sie noch können. Allein wegen dem Fehlen Ihrer ID könnte man Sie wegen Landesverrat hinrichten lassen. Tun Sie sich einen Gefallen und geben Sie nach."
„Das, was ich Ihnen gesagt habe, war die Wahrheit."
Easton zuckt mit den Schultern. „Nun gut, ganz wie Sie wollen. Dann schauen wir mal, was sich heute noch so ergibt."
Es dauert nicht lange, bis sich die Tür erneut öffnet. Eine Frau sowie drei Männer treten ein. Zwei von diesen stellen sich direkt neben der Tür auf. Sie tragen dunkle, feste Hosen, Springerstiefel und eckige Kappen. Wohl die Gorillas des dritten Mannes, der sie beide in der Größe ausnahmslos überragt. Wahrscheinlich wie er das ebenso mit dem Alter tut.
Auch wenn seine strähnigen Haare und der Vollbart immer noch glänzend schwarz sind, ist eindeutig, dass er schon mindestens gute vierzig, wenn nicht sogar fünfzig Jahre hinter sich gebracht hat. Aber allein sein Körperbau lässt mich die Frage stellen, ob er überhaupt die Kerle vor der Tür benötigt.
Neben Easton bleibt er stehen. Doch, genau wie die Frau, würdigt er diesen nicht eines Blickes. Er knöpft sich seinen Mantel auf und mustert mich unentwegt.
Ich weiche seinem Blick nicht aus.
SEA. Wofür steht das?
Ich kann nicht weiterdenken, denn Easton scheint die Geduld auszugehen.
„Haben Sie nun das Videomaterial?"
„Hm?" Mit hochgezogenen Augenbrauen wendet der Neuankömmling seinen Blick von mir ab und wendet ihn stattdessen Easton zu. „Ja", sagt er. „Ja, natürlich. Wenn Sie die Güte hätten aufzustehen?"
Easton klappt der Mund auf und seine Schultern sacken ein Stück herab. Zum ersten Mal bekommt seine Tadellosigkeit einen Riss.
„Ich soll ... "
„Bitte. Sicher wissen Sie, dass unser Unternehmen bei der Regierung besonders anerkannt ist. Sie wollen sicher nicht, dass es zu einer Beschwerde kommt. Überlassen Sie einfach mir das kleine Problem hier und Sie können noch heute Ihr Protokoll abschließen und nach Hause gehen."
Sein Lächeln verschwindet nicht für eine Sekunde, aber seine Augen machen unmissverständlich klar, dass er längst nicht so geduldig ist wie er vorgibt.
Knurrend erhebt Easton sich und der Mann hängt seinen Mantel über die Stuhllehne. Dann setzt er sich.
„Vincent Holt, richtig?"
Sein Blick ist auf Eastons Notizen gefallen.
„Mein Name ist Cornelius Summit, ich bin einer der Leiter des SEA. Sicher interessiert es Sie, was ich hier will."
„Sie sagen es mir sicher gleich."
Ein Muskel in seinem Gesicht zuckt. „Oh ja, in der Tat. Wissen Sie, vor ein paar Tagen haben wir in einer Lagerhalle des KI-Planet eine außergewöhnliche Entdeckung machen können. Daraufhin haben wir alles abgesperrt, die Überwachung der Kameras übernommen und wahrlich eine ganze Menge an altmodischer und vor allem defekter Technik erhalten."
Er lacht auf und ich – ich verstehe, welche Technik er meint. Mein letztes Fünkchen Hoffnung, dass er keine Ahnung von dem Portal hat, erlischt.
„Tja, und was erscheint da vor wenigen Stunden? – Sie." Er beugt sich ein wenig vor und deutet mit dem Zeigefinger auf mich. „Wollen Sie es sehen?"
„Nein. Nicht wirklich." Meine Stimme zittert und tief atme ich durch.
„Oh, aber sicher. Und der werte Mr. Easton, hier an meiner Seite, brennt sicher schon vor Neugier."
Sein funkelnder Blick so eindringlich, dass ich ihm diesmal ausweiche. Alles in meinem Magen zieht sich zusammen. Verflucht, wie hatte das nur so weit kommen können?
Summit zieht eines der gläsernen Handys aus seiner Tasche und legt es, für alle gut sichtbar, auf den Tisch.
Easton fallen fast die Augen aus dem Kopf, als er das rotierende Portal sieht.
„Grundgütiger! Was ist denn das?"
„Einer der Gründe unserer Existenz. Bisher konnten wir so etwas nur künstlich in einem Quantentunnel erzeugen, haben aber nie die gewünschten Ergebnisse erhalten. Das scheint hier anders zu sein."
„Wie meinen Sie das?"
„Sehen Sie einfach weiter hin. – Und da ist er ja."
Das Portal hat ein Blitzen und Zischen von sich gegeben und ich erscheine. Starr schaue ich auf das Display. So wie das aussieht, bin ich schon tot aus dem Portal gekommen. Ich liege regungslos dort, während das Portal sich langsam wieder beruhigt.
„Kann er sich deshalb nicht erinnern?"
Summits Augen zucken zu mir.
„Ach, kann er nicht? Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hat er wohl gehofft, Sie finden nie heraus, wie er in der Lagerhalle gelandet ist."
Ich schweige. Eben sieht man auf dem Display, wie ich wieder zu mir komme. Langsam rappel ich mich auf. Es geschieht alles genau so, wie ich es in Erinnerung habe. Dann verschwindet das Portal.
Für einen Moment scheint es größer zu werden, dann zieht es sich aber immer weiter zusammen, bis es sich schließlich in Luft auflöst.
Ich schließe meine Augen. Niemals hätte ich mich darauf einlassen sollen. Warum bin ich nicht einfach wieder in meine Zelle zurückgegangen?
„Schön weiter hinsehen. Da kommt das Sicherheitsamt."
Ich öffne meine Augen wieder. Es dauert nicht lange, dann werfe ich mich schon gegen einen der Polizisten und stürze mich auf den zweiten.
„Und jetzt – wird auf ihn geschossen."
Ich zucke zusammen, als der Knall ertönt. Es ist unbestreitbar. Die Kugel hat mich voll erwischt. Blut spritzt, ich taumel von dem Polizisten zurück, dann breche ich zusammen.
Ja, die zwei Männer überprüfen sogar doppelt und dreifach, ob ich noch lebe. Aber ich bin tot. Und irgendwie habe ich trotzdem wieder angefangen zu atmen.
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