Prolog

13 Jahre. Welches Kind wird in dieser Welt, in diesem Haushalt und mit diesem Vater schon so alt, ohne irgendwelche Schäden davonzutragen?
Welches Kind wird so alt, ohne irgendwelche Schäden davonzutragen – wenn es tagtäglich mit ansehen muss, wie wenig es ausrichten kann, wenn seine Mutter verprügelt wird und wenn es sich tagtäglich anhören muss, wie wertlos es ist?
Wie entwickelt sich dieses Kind, wenn es sich und seine Schwester jedes einzelne Mal – wenn er schon wieder seine Beherrschung verliert – verstecken muss, um keinen größeren Schaden davonzutragen?
Vielleicht bleibt es ja bei dieser Methode: dem Verstecken.
Aber irgendwann reicht weder der Hohlraum unter dem Bett, noch der Wandschrank oder gar der Garten aus. Irgendwann ist Schüchternheit und das unterwürfige Kopfeinziehen keine Option mehr. Irgendwann legt sich bei diesem Kind der Schalter um: Gewalt ist die einzige Lösung.
Und irgendwann hat es auch den Mut, diesen Gedanken in die Tat umzusetzen; erst recht, wenn es wieder passiert.

Kein dreizehnjähriger Junge sieht gerne mit an, wie seine Mutter geschlagen und seine Schwester an den Haaren ins Nachbarzimmer gezerrt wird. Und erst recht sieht kein dreizehnjähriger Junge – welcher bereits einen Gedanken daran verschwendet hat – tatenlos dabei zu.
Kein Dreizehnjähriger wird so etwas noch einmal mit ansehen müssen, wenn er etwas dagegen tun kann und auch den Mut dazu gefunden hat.
Wer würde aber auch zu diesem herausfordernden Funkeln des Steakmessers in der Schublade Nein sagen, wenn aus dem Nachbarzimmer die flehentlichen Schreie seiner Schwester und Mutter dringen?
Wer würde nicht seine Hand ausstrecken und die immer noch kleinen Finger um den Holzgriff legen?
Wer würde nicht versuchen wollen, ihnen zu helfen?
Wer würde...bei dem Klirren und der plötzlichen Stille nicht wissen, dass er nicht länger warten durfte?

Niemand.
Nicht einmal ein dreizehnjähriger Junge, welcher nicht einmal annähernd an die Größe und Masse seines Vaters heranreicht. Nein, er zieht das Messer aus dem Block. Egal, wie sehr sein kleines Herz klopft. Er wird auch nicht an der Küchentür Halt machen. Er wird sie aufschieben und das erste Mal wird Wut – echte, unbändige Wut – in ihm aufsteigen, wenn er sie am Boden liegen sieht. Er wird aber nicht stehenbleiben, um zu schreien oder gar sich umzudrehen und davonzulaufen. Nein, er wird auf diesen spöttisch grinsenden Mistkerl zugehen, dessen Worte ihn nicht einmal erreichen – und zustechen.

Es ist nicht einmal besonders schwer. Es geht sogar leichter, als er gedacht hat. Wie durch Butter fährt die Klinge erst durch das Hemd, dann in den wabbeligen Speck. Als wäre es nichts.
Er muss nicht einmal viel Kraft aufwenden, um das Grinsen erlischen zu lassen. Dafür ist der Stahl einfach zu scharf. Es kostet ihn nicht einmal Überwindung, es wieder herauszuziehen und ein zweites Mal in den keuchenden Mann zu rammen.
Im Gegenteil: Es fühlt sich sogar gut an. Befreiend. Er hat es geschafft.
Die Wut verraucht und Erleichterung macht sich in dem Jungen breit. Befriedigung. Befriedigung darüber, dass es vorbei ist. Befriedigung darüber, dass er weder ihm, noch seiner Mutter oder seiner Schwester je wieder etwas antun wird. Befriedigung darüber, dass ... er hat es vergessen.

Aber das ist im Angesicht der einknickenden Beine nebensächlich. Die Gründe sind nebensächlich, wenn das Blut aus den Wunden sickert, ja, geradezu strömt und wenn das Gesicht immer blasser wird. Je knapper die Atemzüge des Mannes, desto größer der kribbelnde Nervenkitzel des Jungen.
Nicht einmal die wieder auf ihn eindringenden Schreie können ihn davon ablenken.
Erst der feste Griff des Sterbenden, der sich schraubstockartig um sein Handgelenk schließt, bringt ihn wieder ins Hier und Jetzt.

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