Parasit

Vincent

Sobald Sidney wieder in seinem Bett liegt, trotte ich in die oberste Etage, betrete den leicht angehobenen Weg nach draußen und öffne schlussendlich die dicke, durch uns noch einmal verstärkte Tür. Hugh und sein Begleiter sehen auf.
„Was gibt's denn? Alles gut?"
Ich nicke und lasse meinen Blick an ihnen vorbei und nach draußen schweifen. Nichts Ungewöhnliches ist zu sehen und die Männer sitzen auch so weit am Ausgang, dass sie nicht zu entdecken sind. Na ja, Dave könnte auch am hellichten Tag bewerkstelligen, dass das so klappt.
„Ich wollte nur fragen, ob ich ... irgendjemanden abwechseln kann", antworte ich meinem Freund, aber der lächelt nur.
„Nicht nötig, werde ich auch so gleich."
„Und ich bin nicht wirklich müde, ich halte hier die Stellung. Da gibt es noch so einige philosophische Fragen, die ich hier zur Sprache bringen muss."

Hugh gibt ein scherzhaft übertriebenes Ächzen von sich, was mich dann doch schmunzeln lässt. Der Kerl ist einfach unverbesserlich.
„Dann wünsche ich euch noch eine gute Nacht. Wenn ihr irgendetwas seht, spielt nicht den Helden und kommt gleich rein."
„Logisch."
„Schlaf du nur schön."
Also wieder zurück. Sobald sich die Tür hinter mir schließt, fahre ich mir mit einem Brummen durch die unordentlichen Haare. Ich glaube, ich mache es nur noch schlimmer.
Aber das ist mir eigentlich egal, denn spätestens als ich mein Zimmer erreiche, mich an dem vollgestellten Regal neben der Tür vorbeizwänge und mich auf meine Matraze fallen lasse, fällt mir wieder die Decke auf dem Kopf.
Schlafen ist ja heute sowieso schon ein Ding der Unmöglichkeit – Quiles tut es bestimmt gerade in einem riesigen Daunenbett und allein dafür würde ich ihm gerne mindestens einen Wassereimer über das hübsche Gesicht ausleeren – aber seit dem Gespräch mit dem Jugendlichen ...

Ich drehe mich auf die Seite und starre in die Dunkelheit.
Einfach von meinen Ängsten erzählen. Was glaubt er denn, was ich schon getan habe?
Alice weiß, dass ich nicht zu einer tieferen Beziehung tauge, auch wenn sie es sich nicht eingestehen will, aus was für einen Grund auch immer. Und das Schlimmste ist noch, dass ich es zulasse.
Sidney hatte irgendwie recht. Schon allein aus Respekt zu ihr sollte ich doch erzählen, dass ... ich klemme die Ecke meiner Bettdecke in meine Faust und ziehe sie weiter hoch, bis an mein Kinn.
Alice wird mindestens mich ausliefern, wenn sie erfährt, dass ich im Gefängnis einen umgebracht habe und dort doch überhaupt erst wegen dem Mord an meinem eigenen Erzeuger war. Niemand bleibt bei einem wie mir.

Die Dunkelheit im Raum drückt sich plötzlich mit aller Gewalt auf mich nieder und die Augen fest zusammengepresst, schlucke ich die aufsteigende Übelkeit irgendwie wieder runter. Die von vorhin erst mühsam zurückgehaltenen Tränen versuchen ihr Glück noch einmal und tatsächlich schafft es eine, sich unter meinem Lid hervorzukämpfen.
Schwächling!"
Innerhalb eines Wimpernschlages sitze ich aufrecht im Bett und starre in die Finsternis. Diese Stimme war doch ... jetzt ist alles still. Nur mein eigener Atem und dumpfer Herzschlag sind zu hören. Zittrig Luft holend lege ich mich wieder zurück.
Was für eine Scheiße, jetzt drehe ich schon durch. Der raue Stoff meines Kissens kratzt in meinem Nacken und ich lege mich etwas umständlich zurecht. Jetzt aber. Einfach schlafen. Wie schwer kann das schon sein?

Ich zwinge meine Augen zu.
Mörder, flüstert es jedoch bereits im nächsten Augenblick gehässig in meinem Kopf und ich lege die Handflächen auf mein Gesicht. Einfach nicht darauf hören.
Es hatte immerhin so sein müssen. Der Mistkerl hätte ihnen sonst was angetan. Mal wieder. Und wer weiß, was sonst noch passiert wäre, hätte ich nicht gehandelt. Wie mir der Officer mitgeteilt hat, ging es Mum danach immerhin alles andere als gut. Beiden. Aber bei ihr war es besonders schlimm, der Sturz war härter gewesen als alle anderen davor. Es hatte so sein müssen!
Meine Handflächen beginnen zu beben, als dieses wölfische Grinsen vor meinen inneren Gedanken auftaucht. Leider verschwindet es nicht, wenn ich meine Augen aufschlage. Egal, wie ich es mache, die Dunkelheit bleibt und damit auch sein Spielraum.

Was hast du mit dem Messer vor, Kleiner? Willst du mir etwa helfen? Nicht? Pass nur lieber auf, dass du dich nicht selbst verletzt."
Ich will aufspringen. Will das Licht andrehen. Oder gleich ganz raus, um wieder richtig Luft zu bekommen. Aber ich bin wie gelähmt. Als hätte man mich hier gefesselt abgelegt. Oder, noch viel schlimmer, als wäre ich wieder knappe dreizehn Jahre alt, völlig unfähig, auch nur irgendetwas auszurichten.
Na los, zur Seite!", zischt es und stechender Schmerz flammt durch meine Wange.
Sofort hebe ich schützend die Hand vor mein Gesicht. Dumm. Das allein wird ihn ja wohl kaum zurückhalten. Ganz vorsichtig, um ja keine weitere Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, drehe ich mich zurück auf die Seite und ziehe meine Knie an die Brust und den Kopf ein.

„Scheiße, jetzt bloß nicht die Nerven verlieren", flüstere ich mir leise zu. In der Dunkelheit hallt das so unendlich laut wider. Aber irgendwie muss ich mich wieder zusammenreißen!
Was denke ich hier auch für einen Quatsch? Ich weiß doch ganz genau, dass ... und der Schrei in meinen Gedanken weckt viel zu viele Erinnerungen.
Ich hätte viel eher helfen sollen!
Ich war der Einzige, der sie beschützen konnte und trotzdem habe ich immer wieder zugehört und es mir mit angesehen. Ohne etwas zu tun.
Ich presse mir die Faust auf den Mund und halte die Luft an. Der Enge in meiner Brust zum Trotz.
Und, erleichtert schließe ich meine Augen, die rasenden Gedanken verschwimmen. Lieber lebe ich mit der jetzt auftretenden Atemnot und der folgenden Wut als mich vor Angst – die jetzt wieder einmal gedroht hat, mich zu überrollen – nicht mehr bewegen zu können. Jetzt lasse ich wieder möglichst viel Sauerstoff in meine Lungen. Hauptsache, ich behalte die Kontrolle!

Der nächste Tag hält keine weiteren unerfreulichen Nachrichten bereit und zum ersten Mal bin ich froh, dass Alice nicht kommt, als der Mittag langsam in den frühen Nachmittag übergeht. Immer noch muss ich mir die Worte zurechtlegen, um ihr alles zu erklären. Da ich es aber nicht schaffe, auch nur einen winzigen Teil meines Vorsatzes in die Tat umzusetzen, bin ich schon von Anfang des Tages an gereizt, was mich selbst am meisten nervt. Es kann doch nicht so schwer sein, aber aus irgendeinem Grund blockieren meine Gedanken, sobald ich auch nur versuche, dieses Gespräch zu planen. Etwas anderes ist zwar auch nicht in meinem Kopf, das scheint dem wohl egal zu sein.

Das und der Tag selbst haben nur etwas Gutes: Meine heutige Arbeit erfordert nicht wirklich besonders viel Konzentration. Ich und eine weitere kleine Gruppe haben uns darauf verlegt, all die Sachen der oberen drei Etagen nach unten zu verlegen. Immerhin kann man sich nicht immer nur auf sein Glück oder irgendwelche Versprechungen verlassen. Aber wenn wir die oberen Stockwerke erst einmal geleert und auch die ein oder andere Sicherheitsmaßnahme getroffen haben, geht bei einem eventuellen Angriff hoffentlich weniger schief und uns bleibt mehr Zeit für die Evakuierung.

Eben komme ich wieder in einem Laden an, in welchem mehrere Leute schon dabei sind, die hier gelagerten Werkzeuge, Seile, Baumaterialien und sonstigen Gerätschaften in große Kisten zu packen. Um unsere wenigen Waffen selbst wird sich Hugh, der den Schlüssel für den Raum hat, später kümmern.
Jetzt geht es aber erst einmal um das Zeug hier. Ich gehe in die Hocke, greife nach einer der Kisten und richte mich wieder auf. Sie ist schwer.
Als ich bei den Rolltreppen bin, fängt es auch wieder an, allmählich in meinen erst erholten Armen zu ziehen, was aber gar nicht so schlecht ist. Es lenkt ab, da ich mich auf meine Schritte konzentrieren muss und darauf, dass die Kiste nicht aus meinen Händen rutscht.

Unten angekommen geht mein Atem keuchend und sobald ich das Zeug erleichtert an den vorgesehenen Platz stelle – die Leute, die alles wieder auspacken, warten schon – wische ich mir über die nasse Stirn. Sehr gut. Noch ein paar Durchläufe und wir haben es geschafft.
Ich drehe mich wieder um und will den Raum verlassen ... und sehe Hugh vor mir stehen. Auch er trägt eine Kiste und stellt sie ab. Dann mustert er mich.
„Sidney hatte gestern Nacht einen Aussetzer? Das hast du bei uns gar nicht erwähnt."
Er wendet sich um und wir treten wieder auf den Gang. Ich nicke.
„Ja. Eine Panikattacke. Aber es ging dann wieder. Heute habe ich ihn aber noch nicht gesehen", füge ich gedankenverloren hinzu.
Aber Hugh winkt ab. „Ihm geht es gut. Keine Angst."

Ich brumme, dann erinnere ich mich aber daran, dass ein Lächeln vielleicht besser ankommt.
„Sehr gut. Dann können wir uns ja jetzt auf die restlichen Sachen konzentrieren und schaffen es vielleicht sogar bis heute Abend."
Mein Freund hebt seine Augenbrauen.
„Und du?"
„Und ich?"
„Wie geht es dir? Und sag jetzt ja nicht gut, du siehst scheiße aus!", fährt er mich streng an, als ich antworten möchte.
„Gott, komm runter!", murre ich. „Ich habe einfach nicht gut geschlafen, ich mache mir eben Sorgen um unser Versteck."
„Und?"
„Nichts, und!"
„Fauch mich doch nicht so an, ich bin nicht derjenige, auf den du sauer bist. Ich will dir einfach nur helfen."

Ich bleibe stehen und starre ihn an.
„Das trifft sich gut. Wir haben nämlich noch so einige Ladungen vor uns, lass mal deine Muskeln spielen!"
Hugh legt seinen Kopf schief. „Ja, das trifft sich wirklich gut, wo du doch jetzt ausfällst."
„Ich falle ... was?"
„Harriet möchte mit dir sprechen."
Er nickt zu den Rolltreppen, von denen uns gerade tatsächlich die Frau entgegenkommt. Ich stoße einen Fluch aus und lege meinen Kopf in den Nacken.
„Scheiße, Hugh, nein!"
„Scheiße, Vincent, doch!"
Ich knurre nur, als er mich in ihre Richtung stößt. Harriet bleibt stirnrunzelnd vor uns stehen.
„Wie siehst du denn aus?", begrüßt sie mich.

Ich funkel Hugh an, der wendet sich aber mit einem Nicken an sie ab und lässt mich mit ihr allein.
„So perfekt wie eh und je", antworte ich deshalb und verschränke meine Arme. „Wo Sidney ist, weiß ich nicht, wenn du mich also entschuldigst."
Ich will an ihr vorbeigehen, aber die Frau umfasst sofort meinen Ellenbogen und sieht mich vielsagend an.
„Bei dem war ich schon, habe den Verband gewechselt und einen Brief abgegeben."
Ich starre sie an. „Einen Brief? Wieso denn das, ich dachte ..."
Beruhigend hebt sie ihre Hände. „Keine Angst, mit Alice ist alles in Ordnung. Sie hielt es heute nur für etwas riskanter, hier herzukommen. Nichts weiter."

Nichts weiter? Was ist denn das für ein Schwachsinn?
Wenn sie den Besuch hier für riskant hält, dann hat das ja sicher einen Grund. Hat der Mistkerl von Vater etwa etwas mitbekommen? Oder ... es durchfährt mich wie ein Schlag. Oder bin ich dieses Risiko? Also, ja, ich bin dieses Risiko, aber ist ihr das jetzt klar geworden?
„Mit ihr ist alles in Ordnung", wird mir jedoch versichert. „Jetzt bin ich aber wegen dir hier. Na los, wir gehen in dein Zimmer."
„Will ich aber nicht."
„Wir können auch gerne während dem Transport der Sachen reden, es würde aber blöd aussehen, wenn ich wie der letzte Idiot neben dir hertrotte. In deinem Zimmer können wir uns auch einfach nur setzen und die Klappe halten. Aber wie du willst."
Ich winde mich aus ihrem Griff. „Schön! Lass mich aber wenigstens noch duschen."
„Gar kein Problem."

Damit lasse ich mir aber so viel Zeit wie nur möglich, in der Hoffnung, sie gibt auf oder so. Keine Ahnung, was ich mir dabei gedacht habe, denn als ich in mein Zimmer komme, hockt sie bereits auf der alten Couch. Ihre Tasche hat sie neben sich abgestellt. Brummend wende ich mich ab und bücke mich, um mir meine Schuhe anzuziehen.
„Warst du wirklich draußen, als das hochging?", fragt sie so ungezwungen in die Stille hinein, dass ich sogar antworte.
„Ja. Aber wir sind danach sofort wieder rein und haben die Tür noch weiter verrammelt."
„Das habe ich gesehen."
Sie schweigt kurz, während ich mir den zweiten Schuh anziehe, dann räuspert sie sich.
„Was ist das eigentlich für ein Tattoo auf deinem Rücken? Dieser Skorpion ist doch nicht einfach nur das, oder?"

Ruckartig erhebe ich mich und ziehe mein Oberteil zurecht. Sie hat es zwar schon oft genug gesehen, trotzdem muss das nicht zur Gewohnheit werden.
„Du musst nicht antworten. Bei den anderen beiden weiß ich es, nur da ... keine Ahnung, hat das eine bestimmte Bedeutung?"
Ich drehe mich zu Harriet, einen dicken Kloß im Hals.
„Du hast niemandem davon erzählt? Du weißt schon, die Sterne ..."
Und Alice ...
Die Ärztin nickt beruhigend. „Keine Panik, das überlasse ich dir schon selbst."
Und da ist schon der Nächste, der mir das sagt. Ich fahre mir durch die noch feuchten Haare, ordne sie halbherzig und schließe meine Augen.

„Der Skorpion ... stellt den Anfangsbuchstaben des Mannes dar, der für mich im Knast das Sinnbild für Sicherheit war." Ich öffne wieder meine Augen. „Yussuf war der Boss einer Straßengang und irgendwie ... es bedeutet deinen Tod, wenn du dort landest und völlig allein dastehst. Früher oder später ..." Ich balle meine Fäuste. „Es gibt genug, denen so etwas passiert, ich bin schon froh, dass ich das Jugendgefängnis überlebt habe."
Harriet nickt langsam.
„Verstehe. Das ergibt irgendwie Sinn."
Ich schnaube. „Natürlich tut es das. War's das dann für heute?"
Sie zögert, überlegt dem Gesichtsausdruck nach wohl, ob sie jetzt das, was ihr durch den Kopf geht, sagt oder nicht. Schließlich atmet sie einmal durch.

„Dein ... was war das? Dein Norwegisch. Häuft sich das?"
Ich starre sie an und verschränke meine Arme. „Im Themenwechsel sind wir heute ganz groß, oder?"
„Im Ausweichen eher nicht so. Du weißt, dass du sagen kannst, wenn du über etwas nicht sprechen möchtest."
„Ich möchte darüber nicht sprechen."
Sie nickt. „Das ist in Ordnung. Aber setz dich doch endlich mal hin, du machst mich ganz nervös."
„Wenn du dafür aufhörst, den Therapeuten zu spielen", brumme ich.
„Wie gesagt, wir können auch beide unsere Klappe halten. Hauptsache, du kommst erst einmal zur Ruhe, du siehst immer noch nicht besser aus."
Wortlos lasse ich mich auf meine Matratze plumpsen. Jetzt, im Tageslicht, ist der Raum hier nicht einmal ansatzweise beängstigend.

Die Arme auf meinen Knien abstützend starre ich an die gegenüberliegende Wand. Jetzt muss ich nur noch irgendwie die Zeit totschlagen, ohne dass meine Gedanken wieder Achterbahn fahren. Ein leises Ächzen kommt über meine Lippen. Ich könnte so viel Sinnvolles tun. Stattdessen warte ich hier und hoffe darauf, dass ich nicht mit weiteren Fragen malträtiert werde. Heute habe ich alles, aber nicht die Nerven dafür.
Ein leises Klimpern ertönt und ich lunse möglichst unauffällig zu Harriet. Sie hat ihre Hand an ihren Hals gehoben und bewegt etwas in ihren Fingern. Den Anhänger einer Kette. Die ist neu.
„Von Eli", merkt sie da an, ohne überhaupt in meine Richtung gesehen zu haben und ich wende schnell meinen Blick ab.
„Mhm", brumme ich, aber Harriet ist die Letzte, die sich von so etwas verunsichern lässt.

„Wir hatten vorgestern Jahrestag, deshalb. Es war ein echt schöner Abend", erzählt sie mir.
Jahrestag also.
„Wie lange kennt ihr euch eigentlich schon?", frage ich leise.
Die Frau lacht auf. „Das ist eine sehr gute Frage, lass mich überlegen ..."
Sie lässt den Satz ausklingen, die Augen zur Decke gerichtet, dann meint sie:
„Wir haben zusammen studiert, also seit vielleicht ... 20 Jahren? Ein bisschen mehr vielleicht. Wirklich zusammen sind wir allerdings erst seit drei Jahren." Sie grinst. „Drei Jahren und knapp zwei Tagen."
Ich starre sie aber nur an.
„Ihr seid immer noch ... nur ein Paar? Wie lange dauert sowas denn normalerweise?"
„Wie lange ..." Sie stockt. „Oh, mach du dir da mal gar keinen Stress. Eli und ich kommen ganz gut aus, so wie es jetzt ist, das muss aber noch lange kein Maßstab für die Allgemeinheit sein."

Ich runzle meine Stirn.
„Warum sollte ich mir da Stress machen? Nein, das meine ich ernst, ich brauche keinen Maßstab", ergänze ich auf ihren vielsagenden Blick hin.
„Was meinst du, Vincent? Ich dachte, du magst Alice. Oder war das nur mein Eindruck?"
Ich balle meine Fäuste. „Man kann doch auch einfach nur Freunde haben!"
Beruhigend hebt Harriet ihre Hand.
„Natürlich, dem widerspreche ich auch gar nicht. Ich dachte nur ... na ja, ich dachte, das wäre bei euch ein bisschen mehr."
Ein bisschen mehr.
Ich greife mir an den Kopf, durch den, wie aus dem Nichts, ein stechendes Pochen fährt. Ich will mir darüber nicht noch mehr Gedanken machen müssen. Nicht jetzt!
Kann ich denn nicht einmal meine Ruhe vor all dieser Scheiße haben und mich ausruhen können? Wenigstens ein verdammtes Mal?

„Vincent?"
„Was!", fauche ich und erhebe mich ruckartig. Ich kann jetzt nicht sitzen.
„Ich wollte dich nicht irgendwie bedrängen, das ist dir hoffentlich klar."
„Ja, doch."
Mit den geballten Fäusten laufe ich erst auf die Tür zu, dann mache ich aber kehrt und stütze mich stattdessen an die Wand neben meiner Matratze.
„Pass auf", beginne ich. „Ich will das alles gerade nicht hören, okay? Nichts von den Leuten da draußen und ihre ganzen tollen Maßnahmen gegen uns, nichts von all diesen Problemen und erst recht keine Ratschläge zu meinem eigenen Leben, inklusive meinen Freundschaften. Ist das klar?"
Ich sehe wieder zu Harriet. Sie hat sich ebenfalls erhoben.
„Das kann ich verstehen, Vincent. Wirklich."

Ich habe ein Schnauben von mir gegeben, sie spricht jedoch weiter.
„Du hast es hier richtig scheiße, kommst nicht raus und willst das wahrscheinlich nicht einmal, weil die Konsequenzen richtig hässlich werden können. Und hier eingesperrt zu sein hast du dir sicher auch nicht vorgestellt, als wir nach einem Versteck gesucht haben."
Versteck, von wegen. Ein verdammtes Gefängnis ist das hier!
„Aber Mr. Quiles hilft euch so gut er nur kann und ..."
„Das hat sich mittlerweile ja auch bezahlt gemacht", unterbreche ich sie knurrend und sie runzelt ihre Stirn.
„Na ja, ihr habt euch getroffen, oder? Ich weiß nur nicht, worum es ging."
Ich ächze. „Der Kerl hat uns gestern einen neuen Deal vorgeschlagen. Mehr Medikamente, Ausrüstung und was weiß ich alles, im Gegenzug für unsere Unterstützung."
„Unterstützung wobei?"
Grimmig lächle ich. „Bei seiner hauseigenen Revolution."

Terry

„Was soll das, du kleiner Parasit?"
Ich zucke zusammen, als meine Zimmertür aufgerissen wird und Jasper hereinkommt. Er stapft auf mich zu.
„Also? Was wird das?"
Ich hebe meine Hände. „Äh ... was meinst du?"
Ich war eigentlich fast mit meinem Rucksack fertig. Mr. Capryse hat ihn mir gegeben, damit ich eine Jacke, Limo und sogar ein paar Snacks mitnehmen kann. Leider deutet Jasper im nächsten Augenblick auf genau diesen.
„Du haust ab? Du wolltest doch so unbedingt hier her."
Ach, er denkt, dass ... jetzt muss ich lachen.
„Ich hau doch nicht ab. Ich gehe mit Takeshi nur zu einem Basketballspiel. Mr. Capryse meinte, das würde uns beiden gefallen. Takeshi kann mal wieder hautnah so ein Spiel miterleben und ich würde auch ein bisschen rauskommen."

Jetzt ist der Jugendliche baff.
„Basketball? Mit Takeshi? Ist das dein Ernst? Magst du das überhaupt?"
Ich grinse. „Bist du neidisch, weil ich mit anderen Leuten etwas mache?"
„Was?" Jasper schnaubt. „Von wegen, jetzt werd mal nicht albern. Das ist mir scheißegal. Dann gehst du wenigstens nicht mehr mir auf die Nerven."
Damit dreht er sich um und geht zurück zur Tür. Kurz davor bleibt er noch einmal stehen.
„Pass auf dich auf. Dieser Angriff von vorgestern Abend sitzt den Leuten noch immer in den Knochen."
„Ja, mache i-"
Die Tür fällt ins Schloss und ich bin allein. Seufzend wende ich mich wieder dem Rucksack zu. Aber er hat ja recht. Gerade weil diese Explosion erst vorgestern passiert ist, würde es uns wohl übel ergehen, wenn irgendjemand herausfindet, dass wir nicht von hier sind.

Ich ziehe den Reißverschluss des Rucksackes zu. Es ist also vielleicht nicht unbedingt die beste Wahl, heute unter Leute zu gehen, aber die Karten sind nun einmal reserviert. Ich kann mal an etwas anderes denken und vielleicht lässt Takeshi ja sogar schon irgendetwas durchscheinen.
Wie cool das wäre, wenn ich Mr. Capryse schon heute weiterhelfen könnte. Zwar hoffe ich, dass das alles einfach nur ein riesiges Missverständnis ist und der Jugendliche ihm gar nichts verheimlicht, aber irgendwie ... Mr. Capryse hat ein echt gutes Gespür, der merkt doch so etwas. Man glaubt ja nicht einfach so, dass man von jemandem, den man gerettet hat, einfach so angelogen wird. So ein Verdacht kommt ja nicht einfach nur von ...

Es klopft an der Tür.
„Ja?"
Als sie sich diesmal öffnet, lächle ich.
„Zum Aufbruch bereit?", fragt Mr. Capryse und nickend nehme ich den Rucksack vom Bett.
„Bin ich. Und ich werde Sie nicht enttäuschen."
Leise lacht der Mann. „Du solltest wissen, dass du das nicht tust, wenn du mir heute noch nicht weiterhelfen kannst, Terry. Ein Vertrauensverhältnis baut sich nicht an einem Abend auf. Setze dich also nicht unter Druck, in Ordnung?"
„Ja, klar. Danke", stoße ich fast viel zu erleichtert hervor.
Diese Worte beruhigen mich tatsächlich. Ich war unglaublich nervös, etwas falsch zu machen, aber jetzt ... freue ich mich sogar auf das Spiel.
„Ich bin wirklich stolz auf dich. Mache dir also keine Sorgen, du kannst immer ganz offen zu mir sein und auf mich zukommen, mein Guter."

Mr. Capryse fährt mir durch die Haare. Fast genauso, wie es mein Dad immer gemacht hat und ein Ziehen fährt durch meine Brust. Als ich ihm dann aber nach draußen folge, gehe ich schon viel beschwingter. Es wird alles gut werden. Mr. Capryse hat selbst gesagt, meine Unscheinbarkeit ist eine Waffe. Wer denkt denn schon bei einem Vierzehnjährigen, der nicht einmal eine richtige Mutation hat, an einen Spion?
Spion. Das klingt so cool, dass die Aufregung in meinem Magen kribbelt. Noch cooler wäre es bestimmt, wenn ich mich dann mit Leuten wie Marcos zusammentue. Wenn er unsichtbar ist, kommt er bestimmt an richtig viele Informationen und wäre Jasper auch dabei, könnte er diese ganzen coolen Actionszenen für sich beanspruchen. Das würde ihm bestimmt gefallen.

Ich muss grinsen, als ich hinter Mr. Capryse das Treppenhaus betrete.
Obwohl er wahrscheinlich sagen würde, dass es ihm völlig egal ist. Manchmal habe ich echt das Gefühl, dass er keine anderen Bezeichnungen für seine eigene Meinung kennt.
„Ah, Takeshi."
Ich bleibe stehen, als uns der Jugendliche einholt. Eben fällt die Tür hinter ihm zu und freundlich nickt er.
„Ich habe nur noch etwas getrunken, jetzt bin ich aber bereit."
Mr. Capryse klatscht in die Hände.
„Dann kann ja nichts mehr schiefgehen. Ich fahre euch vor das Station und würde euch dann nach dem Spiel wieder abholen. Natürlich nur, wenn das für euch in Ordnung ist."
Takeshi wirft mir einen aufmunternden Blick zu. „Das schaffen wir schon, stimmt's? Wir machen uns zwei richtig schöne Stunden."
„Klingt gut", erwidere ich, ohne meine Aufregung groß zu verstecken.
Mr. Capryse sieht echt zufrieden aus.

Asura

Sobald Fellar das Gebäude endgültig verlassen hat, erhebe ich mich von der Couch und verlasse so unauffällig wie möglich den Raum. Das hier ist meine Chance.
Während ich auf das Treppenhaus zusteuere, greife ich in meine Hosentasche und ziehe den kleinen Zettel heraus. Prüfend lese ich mir noch einmal die Abschrift durch.
Ath-54 stand auf dem kleinen Aufkleber von einer von Fellars Ampullen. Und direkt darunter eine seltsame Zahlen- und Buchstabenreihe – wahrscheinlich irgendein Code – und wiederum unter diesem Code war etwas in fein säuberlicher Handschrift geschrieben, was wirklich etwas interessanter als die anderen Dinge ist:
Conatus 09, Verweis auf Akte VH-52.
Ich habe zwar keinen Plan, was das bedeuten soll, aber ich weiß, dass ich das unbedingt herausfinden will. Und dafür muss ich mindestens den Kühlraum finden, von dem Fellar gesprochen hat. Oder sogar diese Akte selbst.

Ich lasse den Zettel wieder in meiner Tasche verschwinden. Nicht nur die Neugierde treibt mich an, sondern auch das Misstrauen. Und ich habe keinen Bock, von diesem Kerl irgendwie vergiftet oder hinter Licht geführt zu werden oder so, was heißt, dass ich heute das ganze Gebäude durchsuchen werde.
Im Erdgeschoss fange ich nur wenige Minuten später auch schon an. Jeden einzelnen Raum nehme ich unter die Lupe. Ich öffne Schränke, entferne weiße Laken von Möbeln und klopfe sogar Wände und Boden ab. Letzteres eher halbherzig, war ja immerhin explizit von einem Raum die Rede. Der Mann drückt sich in jedem Augenblick so gewählt aus, dass er das ja wohl kaum ausgerechnet hier verpatzen wird.

Leider werde ich im ersten Stock des definitiv ehemaligen Hotels nicht fündig. Genau wie in den nächsten, weshalb ich mich bereits im vierten frustriert auf eine der unzähligen Treppenstufen sinken lasse. Ich weiß zwar nicht, wie lang Fellar weg sein wird, aber so komme ich nicht weiter.
Entschlossen erhebe ich mich und erklimme die Treppe. Ich muss wie er denken, auch wenn das physisch und psychisch wehtun wird!
Also werde ich erst sein eigenes Zimmer nach Hinweisen durchsuchen – worauf ich schon eher hätte kommen können – und werde dann von dort aus nach diesem Kühlraum schauen. Wahrscheinlich hat er den so zugänglich für sich selbst wie nur möglich gemacht. Und irgendwie trotzdem gut vor allen anderen versteckt.

Sobald ich die Tür mit der großen >9< erreiche, stütze ich mich auf meine Knie und atme tief durch. Beschissene Treppen!
Sobald ich wieder einigermaßen zu Atem gekommen bin, öffne ich ganz vorsichtig die Tür und luge in den Gang. Hier ist es schon viel wahrscheinlicher, dass ich entdeckt werde. Und dicht hält von denen sicher keiner, dafür wird Fellar viel zu sehr vergöttert.
Leise trete ich auf den Gang, passe auf, dass die Tür nicht mit voller Wucht zufällt und schleiche von Tür zu Tür. Bis zu der, die ich anstrebe, entscheidet sich glücklicherweise auch niemand, plötzlich sein Zimmer zu verlassen oder in dieses zu gehen, um was auch immer zu tun.
Also lege ich meine Hand auf den Knauf der Tür, atme tief durch ... und drehe ihn. Schnell schlüpfe ich in den Raum und lehne mich ein wenig erleichtert gegen die Tür. Geschafft.

Prüfend lasse ich meinen Blick durch den Raum schweifen. Seit meinem letzten Besuch hier hat sich nicht viel geändert. Wie schon vorgestern haben wir hier nur das große Bett samt Nachttisch, den Kleiderschrank, ein kleines Bücherregal (was für Antiquitäten) direkt daneben und natürlich den großen Schreibtisch. Eine Nebentür muss in das Bad führen, welches hier jedes Zimmer hat.
Ich stoße mich ab und gehe in die Mitte des Raumes. Plötzlich fühle ich mich hier so richtig unwohl. So als wüsste Fellar, dass ich hier bin und ich stehe kurz davor, einfach wieder zu verschwinden. Aber dann hätte ich ganz schön viel Zeit verschwendet, ohne auch nur ein Stückchen weiterzukommen und würde das im Nachhinein vermutlich wieder bereuen. Ach was, ich würde, ohne jeden Zweifel.

Also gehe ich auf den Schreibtisch zu und öffne das erste Fach. Das Papier und die Stifte, die sich hier befinden, bezeugen in Kombination mit den Büchern mal wieder, wie alt der Kerl sein muss. Ich taste in jedem Fach, welches ich öffne und wieder schließe, nach irgendeinem Geheimfach, einem Schlüssel oder etwas, was nach einer Akte aussieht. Dem Kerl traue ich auch zu, dass er seine Arbeit mit nach Hause nimmt.
Ich halte inne und ziehe den Fotorahmen heraus. Das ist doch Alice. Obwohl dieses Mädchen noch so klein ist, könnte man die zwei gar nicht verwechseln. Sie hält die Hand einer Frau. Kurze Nase, dunkle Augen, ein Kopftuch und ein breites Lächeln auf den Lippen.

Okay, das hier fühlt sich jetzt wirklich verboten an. Schnell lege ich das Foto zurück und trete von dem Schreibtisch zurück. Hier hat er also nichts versteckt. Dann eben der Nachttisch.
Abgesehen von ein paar Tabletten, Taschentüchern und irgendeiner Creme ist darin allerdings nichts. Darauf selbst steht nur eine kleine Lampe, gleich neben einem Buch, welches ich aufnehme und schnell durchblättere. Nichts. Ich betrachte das Cover.
Das rätselhafte Gewebe der Wirklichkeit und dessen Grenzen.
Der Kerl ist doch echt stinklangwei-
Mein Kopf ruckt hoch, als Schritte auf dem Gang ertönen. Schnell lege ich das Buch zurück und ducke mich hinter das Bett. Er ist sicher noch nicht zurück, erwischt werden kann ich aber auch von anderen. Glücklicherweise gehen die Schritte vorüber.

Und stocken und werden wieder lauter. Bereits im nächsten Augenblick öffnet sich die Tür. Ich hätte nie gedacht, dass ich so schnell sein kann, aber noch bevor die Person völlig in den Raum tritt, bin ich schon unter das Bett gerutscht und halte den Atem an. Als könnte man mich sonst entdecken.
Die Tür schließt sich wieder und die Person tritt durch den Raum. Das ist definitiv einer von uns. Ich weiß sogar, wer ... das ist Jasper. Das Knistern, welches in der Luft liegt, ist unverkennbar. Trotzdem kann ich es nicht fassen, als ich kurz darauf wieder das Klappern von einem der Schreibtischfächer höre. Er schnüffelt hier auch herum?

Ich will gerade vorsichtig nach ihm schauen, als mir ein helles Funkeln ins Auge fällt. Gleich neben mir am Bettrahmen. Stirnrunzelnd greife ich danach und drehe mit großen Augen den Schlüssel zwischen meinen Fingern. Was zum Henker?
Wenn Fellar den hier versteckt, dann muss er ja echt wichtig sein.
„Und was machst du hier?"
Ich fahre so heftig zusammen, dass ich hochfahre und mit meinem Kopf gegen die Bettleisten über mir krache. Fluchend lasse ich mich wieder zurückfallen.
„Fuck! Spinnst du?"
Jasper grinst und richtet sich wieder auf, als ich mich unter dem Bett hervorarbeite. Mit den Händen in seinen Hosentaschen wartet er, bis ich vor ihm stehe.

„Also?", hakt er dann nach.
„Warum musstest du mich so erschrecken?", fauche ich aber und reibe mir über die Stirn. Na toll, wie soll ich denn die Beule erklären?
„Na ja, es erschrickt sich nur derjenige, der ein schlechtes Gewissen hat. Hast du ein schlechtes Gewissen?"
„Kein so großes wie du." Möglichst wütend funkel ich ihn an, was ihn leider noch mehr grinsen lässt.
„Ich gebe offen zu, dass ich mir einen tieferen Eindruck von Capryse verschaffen wollte. Ich habe nämlich nicht das Gefühl, dass er uns in allem die Wahrheit sagt."
Spöttisch schürze ich die Lippen.
„Aber warum denn nicht? Du kannst ihn doch alles fragen, er belügt dich sicher nicht."
„Ich hasse Ironie", brummt er. „Vor allem, wenn sie nicht von mir ausgeht."

Die Augen verdrehend wende ich mich ab. „Dann wünsche ich dir mal noch viel Spaß."
„Nein, warte!"
Jasper stellt sich mir in den Weg.
„Du willst doch auch was von hier. Und scheinbar hast du dieses Etwas schon gefunden." Er deutet auf meine geschlossene Faust. „Lass uns also einfach zusammenarbeiten."
Misstrauisch mustere ich ihn. „Wieso sollte ich mich darauf einlassen?"
Er zuckt mit den Schultern. „Ich weiß ja nicht, wie du das siehst, aber wir sitzen im selben Boot. Es wäre also nur zu deinem Vorteil, wenn du dich darauf einlässt."
Tief atme ich ein. Na klasse! Warum muss ich aber auch immer wieder solch ein Pech haben?
„Na, von mir aus. Solange du das nicht vergeigst", stoße ich hervor und halte den Schlüssel hoch. „Wir müssen das Schloss finden, zu dem der hier passt."

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