Mörder

Genervt taste ich den Boden des Kleiderschrankes ab und fühle mich dabei wie der letzte Idiot. Warum sollte der Kerl einen Schlüssel unter seinem Bett verstecken, wenn man dann das Gegenstück nicht in der Nähe hat?
„Asura! Ich hab da etwas."
Mein Kopf ruckt hoch, als Jaspers Stimme aus dem anliegenden Bad kommt und schnell schlage ich die Schranktür zu und springe auf.
„Im Bad? Warum denn dort?"
Jasper schiebt die Tür voll auf und zuckt mit den Schultern.
„Das Fach ist echt praktisch versteckt. Wir müssen dann aufpassen, ja alles wieder an seinen ursprünglichen Platz zu stellen."

Ich trete an seine Seite und sehe, was er meint. Er hat den Badschrank geöffnet, in dessen Wand ich tatsächlich ein Schlüsselloch ausmachen kann. Allerdings ist diese kleine Tür mit unzähligen Tuben, Dosen und Fläschchen zugestellt.
„Na super", entfährt es mir.
Jasper nickt. „Ich würde sagen, wir stellen das Zeug hier auf den Boden und ordnen es so wie es auch hier ist."
„Na, dann mal los."
Stück für Stück räumen wir den Schrank aus und leeren ihn innerhalb weniger Augenblicke, immer darauf bedacht, keinen Fehler zu machen. Dann können wir richtig auf die kleine Tür schauen. Jetzt ist es viel offensichtlicher, dass da wirklich eine ist und prüfend hebe ich den Schlüssel in meiner Hand.
„Und du bist dir sicher, dass er passt?"
Ich zucke mit den Schultern. „Finden wir es heraus."

Kurzentschlossen schiebe ich den Schlüssel in das Schloss und drehe ihn herum. Ein leises Klicken ertönt, dann schwingt die Tür – oder besser gesagt die Klappe – auf. Stirnrunzelnd betrachte ich die Dinge, die hier liegen. Ein gläsernes Tablet, eine mir wohl bekannte Ampulle, in der sich eine milchig-weiße Flüssigkeit befindet und ... eine Mappe mit einer Bezeichnung: VH-54.
Während Jasper den kleinen Glasbehälter an sich nimmt, greife ich nach der Akte. Wer hätte gedacht, dass ich die tatsächlich hier finde?
Mit vor Neugierde bebenden Fingern schlage ich sie auf. Die ersten Seiten enthalten fast in sich verschmelzende Zeilen fein säuberlicher Schrift. Protokolle, Formeln ... was zum Teufel ist das?

„Hast du irgendeinen Plan, was dieses Zeug hier darstellen soll?"
Ich schaue zu Jasper, der die Ampulle ins Licht hält und leicht schüttelt.
„Keine Ahnung. Aber ich glaube, dass das irgendetwas ist, an was Fellar arbeitet. Und es scheint wohl ziemlich wichtig zu sein, wenn er das auch außerhalb des SEA tut und sich sogar selbst injiziert."
Jasper starrt mich an. „Das tut er?"
„Ich hab ihn ein paar Mal mit diesen Dingern und einer Spritze gesehen. Aber das wird wohl kaum irgendein Medikament gegen Bluthochdruck sein."
„Und was hast du da?"
„Die Akte, die auch auf diesen Plaketten erwähnt wird."
Ich halte ihm die Bezeichnung der Mappe hin, dann blättere ich weiter darin herum.
„Allerdings ist das hier ganz schön hochgestochen formuliert. Ich weiß nicht wirklich, was ich hier sehe."
„Zeig mal her."

Er dreht seinen Kopf, um einen besseren Blick auf die Seiten zu haben.
„Hier war doch gerade irgendeine Formel. Oder?"
Er blättert zurück und betrachtet diese verwirrt.
„Sag bloß, du kennst dich mit Chemie aus", murmel ich.
„Na ja, schon ein bisschen. Aber das hier habe ich tatsächlich noch nie gesehen", brummt er. „Kann natürlich sowieso sein, dass es hier generell so einige Stoffe und Medikamente gibt, die wir nicht kennen. Was ist denn noch hier drinnen?"
„Nur Geschwafel. Protokolle, die aber eher Fragen aufwerfen und ..."
Ich stocke. Ich habe einen neuen Abschnitt der Mappe aufgeschlagen und jetzt macht auch ihre Bezeichnung Sinn. VH steht einfach nur für Vincent Holt.

Ich starre erst auf das Foto des Mannes, dann auf die Beschreibungen darunter. Sie gehen bis auf die nächste Seite und beinhalten seine Art der Mutation, alle möglichen gesundheitlichen Informationen und sogar eine Seitenübersicht von Untersuchungen, denen er unterzogen wurde.
„Was wurde denn bei so einem groß untersucht? Stromschläge haben bei der Stimulation seiner Veränderung ja wohl kaum Wirkung gehabt, oder?"
„Du warst noch nicht dort", stelle ich fest und will nicht wirklich weiterblättern. „Bei ihm haben sie keine Stromschläge benutzt. Sie haben ihn aber immer wieder dazu gebracht, sich zu regenerieren. Wurde dort auf jeden Fall mal von einer erzählt."
„Na ja, aber ... doch bestimmt nur einzelne Zellen", murmelt Jasper.
„Das glaubst du wirklich? Schau dir doch mal dieses Verzeichnis an! Du kannst Zellen vielleicht wirklich in Wasser einlegen, aber glaubst du wirklich, die können so richtig ertrinken?"

Ich deute auf die Bezeichnung einer der Untersuchungen und schlucke einmal kräftig.
„Dann blätter halt weiter, dann können wir uns das ja mal anschauen."
Ich blinzle. „Ist das dein Ernst? Du willst das sehen?"
„Ich will die Notizen dazu lesen. Der Kerl kann doch nicht alles überstehen, es gibt Grenzen."
„Ist klar. Du könntest ein Haus zum Einsturz bringen und sagst, es gibt Grenzen?"
Er knurrt. „Schlag einfach die nächste Seite auf!"
Er will das wirklich wissen. Ist das nicht irgendwie ... krank?
Tief atme ich durch. Wir hätten das Zeug hier vielleicht doch da lassen sollen, wo es war. Aber jetzt haben wir einmal damit angefangen, da müssen wir es auch wohl oder übel zu Ende führen.

Die nächste Seite enthält Notizen. Eine ganze Menge davon, ja. Aber ich bekomme meine Augen einfach nicht von dem Bild weg.
„Was ... was ist denn das für eine kranke Scheiße?", stoße ich schließlich hervor.
Jasper allerdings beugt sich doch tatsächlich ein wenig weiter über das Bild des offensichtlich Toten – mit einem offenen Brustkorb gestaltet sich das Weiterleben bestimmt schwierig – und fährt erst mit seinem Finger über die Notizen, dann deutet er auf die Ränder ... der Öffnung.
„Siehst du das hier?"
„Wenn du das Blut und die Knochen und dieses ... dieses andere ekelhafte Zeug meinst, dann ja."
Ich könnte hier und jetzt kotzen. Aber Jasper schüttelt mit dem Kopf.
„Nein, nein. Ich meine diese kleinen schwarzen Punkte. Ich glaube, dass ist dieser Stoff, der in dieser Akte festgehalten ist. Athoutrium", liest er vor.

Ich nehme einen tiefen Zug Sauerstoff.
„Aha. Und das sagt uns jetzt was?"
Stirnrunzelnd sieht der junge Mann auf.
„Ich habe mich vorgestern Abend noch mit Capryse unterhalten. Er meinte, wir alle wären in diesen Portalen mit irgendeinem bestimmten Stoff in Berührung gekommen. Vielleicht ist er ja das."
„Aber mir hat er auch gesagt, dass er und der Service nicht wissen, was das für einer ist", erwidere ich zweifelnd.
Es sei denn ...
„Er kann auch gelogen haben. Deswegen sind wir ja überhaupt hier."
Leider hat er schon wieder recht, weshalb ich mich mit einem knappen Brummen begnüge.
„Nehmen wir also mal an, dieses Zeug hier enthält diesen Stoff. Ob sie nun schon wissen, was er jetzt genau ist oder nicht, ist erst einmal egal. Die wichtigere Frage ist ja wohl: Was hat die mit diesem Mittel hier gemeinsam? Warum stimmen diese Stoffe überein und warum wird da so ein Aufhebens um ausgerechnet diesen Kerl gemacht, wenn sie doch genug von uns in ihrer Gewalt haben?"

Ich starre ihn an. Und hoffe, dass meine Version der Antwort nicht umsetzbar ist.
„Mit meiner Veränderung haben sie ... haben sie diese Halsbänder und anderen Scheußlichkeiten entwickelt ... vielleicht ..."
„Eine eigene kleine Armee?", beendet Jasper meinen Satz und lässt seinen Blick wieder über den Inhalt der Akte schweifen. Seine Stirn zieht sich in nachdenkliche Falten.
„Oder es hat wirklich ausschließlich was mit dem da zu tun. Das würde wohl Capryse' Besessenheit erklären. Und", fährt er fort, „eine eigene Armee aus Portalreisenden funktioniert auch so, wie man so schön an uns erkennen kann. Individuelle Fähigkeiten selbst sind taktisch sowieso viel praktischer."
„Wir hätten viel mehr Angriffsmöglichkeiten", murmel ich.
„Ganz genau! Aber bisher gibt es eben jede Mutation nur einmal. Ich kann mir vorstellen, dass der SEA die ein oder andere ganz gerne replizieren würde."

Blinzelnd lehne ich meinen Kopf an die Sofalehne und schalte auf den nächsten Sender um. Der Scheiß im Fernsehen ist jetzt, wo so viele Gedanken in meinem Kopf herumwirbeln, noch frustrierender. Dieses absolut kranke Bild und all die nachfolgenden in dieser Akte. Diese schwarzen Fasern an den Rändern von Vincent Holts Wunden, dieses Athoutrium. Ganz zu schweigen von der gestiegenen Wahrscheinlichkeit, dass Fellar den Mann gar nicht sucht, weil er gefährlich ist, sondern weil er eben nicht sterben kann. Allerdings ... als absolut erster Portalreisender hat man sicher auch so einen gewissen Wert für den SEA und die Regierung selbst.

Ich wische noch einmal über die Fernbedienung. Wobei Fellar wahrscheinlich doch die Wahrheit gesagt hat, im Anbetracht der Gefährlichkeit des Mannes. Immerhin gab es mehrere Fotos, auf denen seine Tattoos zu sehen waren. Kein Typ verdient sich zwei Sterne, indem er eine Tankstelle ausräumt oder Wache schiebt. So ein Stern repräsentiert ein Menschenleben.
Und hier ist er auch schon!", brüllt es und ich zucke zusammen.
„Bescheuerter Fernseher", stoße ich hervor und starre auf den Moderator, der mit einem viel zu breiten Grinsen einen weiteren Mann auf der Bühne willkommen heißt.

Sie kennen ihn alle, meine Damen und Herren", fährt er fort. „Begrüßen Sie alle mit mir das charmante Verkaufsgenie, Daniel – Stanton!"
Applaus brandet auf, als der Moderator den schlaksigen Kerl mit dem grauen Pferdeschwanz begrüßt. Zähne bleckend reicht der ihm die Hand.
Danke, Milo. Sie sind mal wieder viel zu freundlich. Ihr Charme hat auch nichts von seiner Wirkung verloren, mein Teuerster."
Fast ein wenig verlegen winkt der Moderator ab ... und wartet dann geduldig, bis der Applaus erstirbt.
Da haben Sie mir ja sogleich ein Stichwort geliefert. Geben Sie uns vielleicht einen Vorgeschmack, was heute Ihr teuerstes Stück sein wird?"
Daniel Stanton zwinkert.
Aber, aber. Ich möchte doch nicht Ihre Spannung verderben, meine Damen und Herren."

Er deutet an die hintere Abgrenzung der Bühne. Auf den tiefroten Vorhang.
Wie wäre es, wenn Sie sich selbst ein  Bild machen? Halten Sie ihre Schildchen gut fest und zücken Sie ihre Karten. Hier haben wir die ersten Exemplare des Abends!", ruft er überschwänglich und der Vorhang schwingt zur Seite und ... ein Keuchen entfährt mir. Ist das etwa ... sind das ... was ist denn das?
Mehrere Glaskästen werden auf die Bühne geschoben und dort abgestellt. Jetzt, wo das Licht voll in sie fällt, sieht man auch den Inhalt. Das sind doch Personen. Portalreisende, wie mir auf dem zweiten Blick auffällt.
Als der Moderator, Milo, einen altertümlichen Hammer zur Hand nimmt, fällt bei mir der letzte Groschen. Das hier ist eine verdammte Auktion?
Bei der Menschen versteigert werden?

Mein Körper bebt, während ich unentwegt auf den Bildschirm starre.
Fünf Kästen stehen da und die darin Gefangenen sehen einfach nur bemitleidenswert aus. Entweder fangen die Kameras einen so verängstigten, wenn nicht sogar schockierten Blick ein, dass ich mich wundere, dass die Leute noch atmen, oder die Wut entstellt das Gesicht fast völlig. Was hier nur bei einer der Fall ist, aber trotz ihres offensichtlichen nicht erloschenen Widerstandes, wird sie wohl kaum näher an ein Entkommen herankommen als die anderen.
Ein leises Lachen lenkt das Bild wieder auf Stanton. „Nun, ich muss zugeben, auf den ersten Blick ist der erste Durchgang vielleicht ein wenig enttäuschend, aber ich versichere Ihnen ..."

„Das solltest du dir vielleicht nicht anschauen."
Das kam jetzt nicht aus dem Fernseher!
Mein Herz macht einen Satz und mein Blick flackert zur Tür und bleibt an Fellars blassem Gesicht hängen. Er betritt den Raum, die Aufmerksamkeit von dem Bildschirm zu mir wendend.
„Was ..." Ich schlucke. „Die machen doch nicht wirklich das, wonach es aussieht! Oder?"
Fellar seufzt und streckt mir, bei mir angekommen, die Hand entgegen. Nur widerwillig reiche ich ihm die Fernbedienung.
... zu dem ersten Exemplar. Wie Sie sehen, sehen Sie nichts. Aber genau da-"
Die hämisch grinsende Fresse verschwindet und der Raum verdunkelt sich. Nur noch das stetige Flackern und Leuchten der Stadt scheinen von draußen herein.

„Leider doch", antwortet Fellar. „Diejenigen, die keine besonders beängstigende Mutation haben, werden verkauft. In der Stadt gibt es einen Zirkus, der drei Portalreisende für ganze zwei Millionen Coins gekauft hat."
Der Mann lässt sich neben mich auf die Couch sinken und starrt ins Leere. Unauffällig rutsche ich ein Stück zurück.
„Die Hälfte wäre schon viel, dafür, dass die Leute in euch nicht mehr Wert sehen als in einem Hund, aber ... na ja, es scheint sich wohl auszuzahlen – Terry wäre wohl auch ein Kandidat für so eine Show gewesen, wäre er nicht hier gelandet."
Ich balle meine Fäuste.
„Was für ..." Ich werde noch wütender als mir nicht einmal eine Bezeichnung für diese Leute einfängt. Ja, das, was ich gerade eben gehört und gesehen habe, sackt jetzt erst so richtig.

Ich sehe Fellar leise lächeln.
„Aber ich verspreche dir, dass wir eure Umstände verbessern werden. Drastisch. Wenn wir erst einmal unsere Ziele erreicht haben, ist es bis zu der Akzeptanz eurer Anwesenheit nicht mehr weit."
Ich starre ihn an. Ist das sein scheiß Ernst?
In diesem Land, welches Krieg führt und auch nur darauf aus ist, werden Menschen versklavt und er, der er uns alle zu einhundert Prozent anlügt, sagt, dass alles besser werden wird?
„Hören Sie einfach auf mit dem Scheiß!", zische ich und verwirrt stockt er.
„Ich soll ... wie bitte?"
„Schauen Sie sich doch nur mal um! Hören Sie einfach auf, so zu tun, als ob Sie alles unter Kontrolle hätten und lassen Sie das mit irgendwelchen Lügen oder ... oder schönen Versprechungen! Das nervt!"

Der Kerl sitzt da und starrt mich an. Wortlos. Scheiße, was ist das nur für ein Arschloch! Schnaubend erhebe ich mich.
„Auch egal, einen wunderschönen Abend noch", fauche ich noch über meine Schulter hinweg.
Ich kann es nicht fassen. Sonst kann er doch auch reden, ohne Luft zu holen und wenn man dann mal recht hat, hält er die Klappe?
Ich bin kurz davor ...
„So empfindest du, Asura?"
Ich bleibe stehen und sehe zurück. Er sitzt immer noch an Ort und Stelle, sieht mich aber überlegend an.
„Das wusste ich nicht, meine Liebe, aber wir können gerne darüber sprechen."
Schnaubend verschränke ich meine Arme. „Klar doch. Als ob wir zu irgendeinem Ergebnis kommen, Sie blocken doch nur wieder ab oder erzählen mir sonst etwas."

Jetzt erhebt sich der Mann. Er stützt sich dabei auf der Kante des Sofas ab, dann kommt er vor mir zum Stehen.
„Was ist los, Asura? Sag mir bitte, was dich beschäftigt, ich würde dir wirklich gerne helfen."
„Sie wollen mir helfen? Dann tun Sie etwas gegen so eine Scheiße!" Mein Finger ruckt in die Richtung des Fernsehers. „Lösen Sie einfach mal Ihr Versprechen ein, dass Sie uns helfen, damit die Leute uns akzeptieren! Bis jetzt habe ich davon nämlich noch nichts mitbekommen!"
Mein Gegenüber schließt doch tatsächlich seine Augen, das Gesicht verspannt. Was für ein Arschloch, als ob ich jetzt das Problem wäre.
„Jetzt tun Sie nicht so", fahre ich ihn an. „Sie sind jetzt mal kein Mistkerl und hören auf, so zu tun als würden Sie nicht wissen, was ich meine."

Jetzt öffnet Fellar seine Augen und öffnet den Mund. Er sagt aber nichts, sondern sieht mich einfach nur fragend an, weshalb ich fortfahre:
„Seit ich hier bin, habe ich kein wirkliches Eintreten für uns mitbekommen. Stattdessen sind Sie von diesem Flüchtling regelmäßig besessen. Ihnen geht es doch nur darum, dass er wieder auf irgendeinem Tisch liegt, damit Sie ekelhafte Forschungen an ihm durchführen können."
„Tatsächlich würde ich nur mit seinem Blut, Gewebe oder ähnlichem arbei-"
„Halten Sie die Klappe!", zische ich. „Genau das meinte ich, Sie reden und reden, aber wirklich etwas tun ist Ihnen zu viel. Wo-"
Er hebt seine Hand. „Darf ich vielleicht aussprechen, Asura?", unterbricht er mich.
Wo kommt denn das jetzt her? Wenn ich das mache, ist das scheißegal, aber er findet das viel zu abscheulich, um es zu tun. Er muss seine Ausrede ja echt dringend loswerden wollen.

Ich verschränke meine Arme.
„Von mir aus."
Er lächelt. „Vielen Dank. Ich wollte nämlich hinzufügen, dass ich Mr. Holt nicht wirklich für Forschungen benötige, die ich in der Tat durchführe. Natürlich wäre dieser Umstand sehr viel besser, aber im Moment behindert mich seine Abwesenheit noch nicht. In diesem Bereich."
Er atmet tief durch und führt seine Hände hinter den Rücken.
„Denn wie du wohl weißt, haben die Menschen entweder Angst vor euch oder nutzen euch aus." Er nickt in die Richtung des Fernsehers. „Ich glaube, ich muss nicht erwähnen, dass es schlimmer wird. Und solange diese Flüchtigen sich noch irgendwo da draußen verstecken, kann ich dem leider auch nicht wirklich entgegenwirken. Wie du schon so treffend festgestellt hast, kann ich zwar viel reden, letztendlich bin ich aber trotzdem machtlos. Eine Chance haben wir nur, wenn wir mindestens ihn finden, damit die Menschen da draußen erkennen, dass wir für ihre Sicherheit sorgen können."

Vincent

„Und was ist jetzt deine ... Veränderung? Das habe ich irgendwie noch nicht so richtig verstanden." Blinzelnd schaue ich auf und zu dem Nebentisch. Bemüht neugierig lächelt Charlie Naomi an. Zusammen sitzen sie mit drei weiteren da und unterhalten sich schon seit einer halben Ewigkeit über irgendwelche Belanglosihkeiten. Die Hälfte davon habe ich gar nicht mitbekommen. Eliot, der mit mürrischem Blick auf seinem Stuhl herumrutsch, wohl auch nicht. Naomi aber lächelt als wären sie beste Freunde.
„Ich presse Luft zusammen", antwortet sie und beißt sich auf die Unterlippe. „Na ja, das klingt ein wenig einfacher als es ist, Hugh hat mir das mal richtig erklärt. Quasi verdichte ich die Luft an einer beliebigen Stelle. Vincent hab ich damit den Arm gebrochen."

Sie will grinsend den Kopf zu mir wenden und schnell senke ich meinen Blick wieder auf das Blatt vor mir. Ganz toll, das müssen nicht noch mehr wissen!
Zumal sie sowieso den größten Teil der Erzählung weglässt. Aber wenigstens kann ich meiner Liste jetzt noch einen Punkt zufügen, die Leute hier brauchen mehr Möglichkeiten, sich die Zeit zu vertreiben. Und vielleicht sollten wir auch vermehrt Selbstverteidigung üben. Kampfbewegungen generell, ich habe keine Lust, das alles irgendwann wegen Nachlässigkeit zu bereuen.
Ich lasse meine Augen über das Blatt fliegen. Es ist schon fast voll, aber ich denke gar nicht daran, damit aufzuhören. Wenn ich für Quiles die Sicherheit meiner Freunde und dieses Versteckes riskieren soll, dann werde ich seinen Teil der Abmachung auch zu zweihundert Prozent ausnutzen, so viel steht fest.

Eine Hand landet auf meiner Schulter und bereits im nächsten Augenblick kitzeln sowohl Haare meine Wange als auch ein blumiger Duft meine Nase.
„Hey. Wie geht es dir?"
Mein Herzschlag stolpert und sofort springe ich auf und wirbel herum. Leise lachend weicht Alice ein Stück zurück.
„Vorsichtig. Ich bin's nur."
Ich starre sie an. Sie steht tatsächlich vor mir. Warum ... warum erst heute wieder? Ach was, überhaupt warum?
„Alice, was ... was tu-"
Okay, ganz falsche Frage. Ein Was willst du? klingt wahrscheinlich noch schlimmer.
Tief atme ich durch. „Geht es dir gut? Du warst ... na ja, ich dachte irgendwie ... ich dachte, du wärst aufgeflogen", stoße ich hervor.

Sofort entspannt sich ihr offensichtlich verwirrter Gesichtsausdruck und fast belustigt lächelt sie.
„Keine Angst, so schnell geht das nicht. Ich lasse dich doch nicht einfach so alleine."
Sie ist wirklich wieder hier. Mein Körper übernimmt fast die komplette Kontrolle, als er einfach nach vorn tritt und Alice umarmt. Mein Herz schlägt jetzt nur umso schneller, vor allem, als sie die Umarmung erwidert.
Dann fällt mir allerdings wieder ein, was ich jetzt eigentlich tun müsste und plötzlich habe ich solche Kopfschmerzen, dass ich meine Augen fest zusammenpresse.
Ich will das nicht, das wird nicht gut gehen. Davon bin ich fest überzeugt. Ich werde alle in Gefahr bringen, wenn ich ihr eröffne, was ich wirklich bin. Wer hilft schon einem Mörder?

Tief atme ich durch. Ich könnte einfach meine Klappe halten. Wir verbringen jetzt ein wenig Zeit miteinander, wer weiß, worüber wir uns so unterhalten, und alles kann so weitergehen wie bisher.
Alice löst sich aus der Umarmung und ihr warmes Lächeln begegnet mir.
Sie muss das nicht wissen, wir ... wir können ja trotzdem Freunde bleiben, auch wenn ...
„Und dir geht es gut?", fragte sie. „Du bist ein wenig blass, Vincent."
Ihr Anblick lässt meine Kehle ganz rau werden. Seit wann bin ich denn so feige?
Ihr so etwas zu verheimlichen ist doch ... das ist doch unfair. Oder?
Das Verschweigen meiner Taten beweist doch nur, dass ich keinen Deut besser bin als er. Dass ich ihm in nichts nachstehe und ... das verletzt doch genau so.

Kalte Hände legen sich um meinen Hals und schnell klemme ich meinen Finger unter den Kragen meines Shirts. Also doch. So viel zum Thema bessern.
Ich wende meinen Blick ab. Ich muss es tun, das weiß ich, aber ... wenn ich daran denke, was mich nach dieser Beichte erwartet, wird mir schlecht.
„Ähm ... ist alles in Ordnung?", murmelt sie.
„Na ja, ich ... wir müssen reden", krächze ich nun doch so leise, dass ich glaube, sie hat mich nicht verstanden.
Als sie jedoch nickt, verflüchtigt sich diese Hoffnung.
„Gut. Dann ..."
Etwas ratlos schaue ich mich im Raum um. Eindeutig viel zu viele Leute. Ich will mich schon in Bewegung zu setzen, um an irgendeinen Ort zu gehen, wo wir ungestört reden können, dann kommt mir jedoch der Gedanke, dass das vielleicht keine gute Idee ist. Und wenn es dann erst einmal raus ist und sie ... einfach nur noch weg will ... – Ich schlucke kräftig.

„Vincent!"
Mein Blick zuckt zu ihr. „Was?"
Warum sieht sie so besorgt aus? Ahnt sie etwas?
Aber dann würde sie wohl kaum nach meiner Hand greifen.
„Ich habe gefragt, ob alles in Ordnung ist. Du weißt doch, du kannst mit mir über alles sprechen. Okay?"
Ich entziehe mich ihr.
„Ja. Ich ..." Ich drehe mich um und laufe stockend los. Dabei halte ich mich an meiner Hose fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Das durch mein Herz verursachte Beben in meinem Körper erleichtert das aufrechte Gehen zwar nicht wirklich, aber solange ich nur nicht stehen bleibe, kann auch erst einmal nichts passieren.

Ich höre, wie sie sich ebenfalls in Bewegung setzt und suche fieberhaft nach einer ungestörten Ecke. Aber nirgends ist es wirklich ruhig, sodass ich nur wenige Minuten später vor meinem Zimmer stehe. So eine Scheiße! Das wollte ich doch gar nicht.
Ich atme tief durch, dann öffne ich die Tür und trete ein. Ich stelle mich extra so, dass ich Alice nicht den Rückweg versperre.
Sie sieht sich dagegen erst einmal interessiert um. Sowohl die am Boden liegende Matratze als auch die Couch, die Regale und die darin liegenden und stehenden Dinge mustert sie.
„Hier schläfst du?", unterbricht sie schließlich die Stille.
Ich vergrabe meine Hände in den Hosentaschen.
„Ja, aber ... hier bewahren wir unsere Samen auf. Und Lampen und die Geräte. Du weißt schon. Für unsere Gärten."

So viel Platz habe ich hier also gar nicht und die Couch ist auch nur hier, weil Harriet darauf bestanden hat. Ich schüttel die Gedanken ab, dann starre ich Alice an. Wenn, dann jetzt.
„Wir müssen reden."
„Richtig. Was möchtest du mir denn sagen?"
Ich balle meine Hände zu Fäusten, dann lasse ich wieder locker und ziehe sie aus den Hosentaschen, um stattdessen die Finger ineinander zu verschränken. Das war es jetzt also.
„Also. Ich hab über uns nachgedacht", beginne ich langsam. „Und ich ma- ... ich mag dich."
Ein Lächeln breitet sich auf dem Gesicht der Frau aus, während ich das Gefühl habe, gleich zu ersticken. Ich darf nicht so um den heißen Brei herumreden. Einfach ... einfach raus damit!

„Aber das können wir nicht machen", fahre ich deshalb fort. Viel zu selbstbewusst.
„Als ich ... es liegt nicht an dir, wirklich nicht! Versteh das bitte nicht falsch. Aber als ich gesagt habe, dass das zwischen uns nicht funktionieren wird und du nichts mehr mit mir zu tun haben willst ..."
Sie tritt auf mich zu.
„Vincent, bitte. Wir haben doch ..."
„Nein. Nein!" Ich weiche zurück, die Hände erhoben. „Lass mich einfach aussprechen, okay?"
Meine Unterlippe zittert, aber sie scheint darauf einzugehen. Ihr Lächeln ist verschwunden und es braucht meine ganze Überwindungskraft, um weiter zu sprechen.

„Ich habe das ernst gemeint, Alice. Ver- versprich mir bitte, dass du die anderen nicht ... darunter leiden lässt! Was ich jetzt sage, sie ... von ihnen ist niemand wie ich, verrate sie also bitte nicht. Weil ich ... also du musst wissen ..."
Wieder legen sich diese kalten Hände an meinen Hals, hindern mich vielleicht nicht am Sprechen, dafür jedoch am Atmen. Ich muss tief einatmen, um irgendwie den Druck in meiner Brust loszuwerden. Wenigstens für ein paar Sekunden.
„Bevor ich hier hergekommen bin ... war ich im Gefängnis."
Sie schweigt und starrt mich an. Jetzt wende ich wirklich meinen Blick ab.
„Das weißt du ja. Aber ich habe das verdient, ich war ... ich bin ein Gewalttäter. Einer der übelsten Sorte. Und als ... als dieser Simmons kam, hätte ich ablehnen müssen!"

Jetzt krampfen sich meine Finger in den Stoff meiner Hose.
„Ich hätte sein Angebot niemals annehmen dürfen, ich gehörte ins Gefängnis. Und trotzdem wollte ich raus", breche ich über meine Lippen. „Meine Entscheidungen waren von Anfang an falsch. Falsch und absolut feige. Obwohl ich wusste, wie schlimm ein ... ach was, zwei Mo-"
Mir wird schlecht und ich presse meine Faust auf die Lippen. Durchatmen. Ein Atemzug, zwei Atemzüge und dann weiterreden.
„Trotz dass ich meinen Erzeuger und ... und einen ... jævla dritt!"

Und da war es wieder. Schlimm genug, dass ich ihr gegenüber einfach nicht ehrlich sein kann. Früher war es doch auch kein Problem gewesen, das anderen zu erzählen, denen ich sogar nicht einmal wirklich vertraut habe. Warum ist das jetzt bei Alice ein solches Problem, das kann doch einfach nicht wahr sein!
„Vincent? Was ... möchtest du mir denn genau sagen?"
Ich hole tief, aber zittrig Luft.
„Versprichst du mir, die anderen da rauszuhalten? Dich nur von mir abzuwenden und sie nicht ausliefer-"
„Aber warum sollte ich das überhaupt ..."
„Versprichst du es mir?"
Ich trete einen Schritt auf sie zu und sehe ihr eindringlich in die Augen. Wenigstens das ... Alice nickt.
„Versprochen. Aber sag mir bitte, was los ist, Vincent."

Ich hebe mein Kinn an. Los jetzt, einfach raus damit!
„Wir müssen uns voneinander fernhalten", sage ich bestimmt. „Ich muss mich von dir fernhalten. Ich will dir nicht wehtun und das schaffe ich nicht, wenn wir zusammen sind. Sieh uns doch an, ich lüge dich an und trotzdem bemühst du dich um unsere Freundschaft. Das will ... das will ich aber nicht, ich ... nicht, nachdem ich meinen Erzeuger um- ... umgebracht habe."
Der letzte Satz kommt so leise über meine Lippen, dass ich es selbst kaum höre. Trotzdem fahre ich genau so leise fort:
„Ich weiß jetzt noch nicht, was ... was ich hätte anders tun sollen oder ... oder danach, als ich nicht die gleiche Hölle wie im ... Jugendgefängnis durchmachen wollte oder als ..."

Meine Stimme bricht und ich wende mich von ihr ab, drehe ihr den Rücken zu. Fest presse ich meine Augen zusammen und lasse für den letzten Satz so viel Luft in meine Lungen wie nur möglich. Es tut weh. Genau wie vor wenigen Nächten, als dieser ganze Scheiß in mir hochgekocht ist.
„Wie schon gesagt. Die anderen ... haben nichts mit mir gemein. Sie sind ... in Ordnung und ... sie verdienen es wirklich nicht, da- dahin zurückzukehren", flüstere ich heiser und grabe meine Hand in das Shirt, genau über meiner Brust.
Und dann ... schließt sich die Tür des Raumes. Stille. Eine grauenvolle Stille, obwohl sie doch noch im Raum steht und sich gerade wahrscheinlich ausmalt, was ich getan habe. Entsetzt, dass sie sich so lange in meiner Gegenwart aufgehalten hat. Mein Magen zieht sich zusammen.

Dann spricht sie.
„Warum hast du es nicht früher gesagt? Warum jetzt?"
„Es tut mir leid", würge ich hervor. Sie klingt so anklagend. So ... scheiße, ich wollte das doch alles nicht!
„Ich wollte mi- ... ich weiß nicht. Ich will dir nur einfach nicht mehr ... weh tun und ... und wenn es sein muss, dann ... bestätige ich dafür auch die Meinung deines ... Vaters."
Jetzt ertönen Schritte. Ganz leise. Während ich versuche, meinen Atem wieder unter Kontrolle zu bringen, nähert sie sich mir und bleibt schräg hinter mir stehen. Jetzt ist sie wieder näher.
„Aber Vincent. Um meinen Dad geht es doch gar nicht. Es geht um uns und ..."
„Verdammt, Alice, willst du mich nicht verstehen!?", falle ich ihr lautstark ins Wort. „Ich bin ein ... Mörder u-"

Ich fahre zusammen, als sich ihre Hand auf meinen Oberarm legt.
„Lass jetzt bitte mich aussprechen, okay? Mein Dad ist gerade egal, das kannst du mir glauben. Er kann noch so vielen Leuten davon erzählen und das unter den von ihm geretteten Portalreisenden als Deckmantel für deine Verfolgung nutzen ..."
Er ... was? Mein Herz bleibt stehen und fassungslos starre ich in die Leere. Er erzählt ...
„... aber trotzdem warte ich doch darauf, dass du es mir erklärst", beendet sie ihren Satz. „Niemand tut so etwas, ohne einen Beweggrund und den würde ich vor der Bildung eines Urteils gerne wissen. Ich kenne meinen Vater, bei ihm weiß ich, was für abstruse Gedanken ihn manchmal leiten. Bei dir weiß ich leider noch nicht so genau, warum du Sachen getan hast. Insbesondere die, von denen du mir gerade erzählst. Deswegen bin ich dir aber mehr gerade als nur dankbar für deine Ehrlichkeit. Glaubst du ... du kannst auch noch sagen, weshalb du so etwas getan hast?"

Jetzt streicht die Hand langsam über meine bebende Schulter. Dass meine Augen brennen, bekomme ich erst jetzt richtig mit, trotzdem kann ich nur hoffen, dass ... dass sie nicht wirklich ...
„Du wusstest davon?", hauche ich leise.
Alice taucht in meinem Blickfeld auf. Sie nickt vorsichtig. Und ich schwanke.
„Am Anfang, kurz nach seinem Verrat an dir, hat er es mir erzählt. Und erst habe ich es auch gar nicht wirklich geglaubt, ich hattes nicht wahrhaben wollen. Aber dann ... ich war entsetzt. Unglaublich entsetzt, so konnte ich mir dich nicht vorstellen. Zugegeben, ich habe sogar Angst bekommen."
Ich bekomme keine Luft mehr.
„Aber ich wollte dir die Gelegenheit geben, dich zu erklären, habe gewartet und ..."
„Aber ein ganzes Jahr?", stoße ich hervor und blinzle mehrmals. Gleich ersticke ich. Definitiv.

„Du ahnst nicht, wie oft ich sich darauf ansprechen wollte, aber ... na ja, das hast du doch irgendwie gebraucht, oder?"
Ich höre sie tief einatmen.
„Aber es wäre echt cool, wenn du jetzt die Möglichkeit nutzt, es mir völlig zu erklären. Weshalb du es getan hast. Und, wie wär's, ich entscheide, ob ich mich in Zukunft von dir fernhalte oder nicht?"
Ich drehe meinen Kopf zu ihr, obwohl sich alles in mir dagegen sträubt.
„Was soll man denn da groß erklären? Kapierst du es nicht, ich bin ..."
„Bitte. Für mich, du bist doch mein Freund."
Prompt brennen meine Augen noch mehr.
„Das behauptest du. Nachdem du ein verfluchtes Jahr mit diesem Halbwissen leben musstest. Ist das dein scheiß Ernst?"

Alice tritt nun komplett vor mich und legt ihre zweite Hand auf meine andere Schulter.
„Tust du mir den Gefallen?", flüstert sie leise.
Nein! Ich will das nicht! Ich will das nicht wieder erleben müssen. Ich will nicht noch tiefer darüber nachdenken. Über ihn und ... Ich schlinge meine Arme um meinen Oberkörper.
„Ich wollte dich nicht verletzen, Alice. Ich wollte ... ich wollte mich ändern. Für dich!" Jetzt rollen doch die ersten Tränen über meine Wangen.
„Aber ich schaffe es einfach nicht, ich habe mich kein bisschen geändert! Heute noch würde ich ..."
Ich schließe meine Augen und die Erinnerungen blitzen auf den Innsenseiten meiner Lider auf. Wie in dieser Nacht, als es sich wie damals angefühlt hat. Nicht ausgerechnet jetzt! Ich kann das gerade nicht gebrauchen, soll sie doch erst noch von hier verschwinden!

Doch stattdessen sehe ich bei dem Senken meines Blickes nun wieder meine blutroten Hände. Nur wenige Meter neben mir kauert Mum, ebenso diese elende Farbe an der Schläfe und genau vor mir ... er. Sein massiver Körper verdeckt den, meiner Schwester, die sich wahrscheinlich immer weiter von ihm entfernt. Während er versucht, auf den Beinen stehen zu bleiben.
Meine geben dagegen unter mir nach und ich stürze auf die Knie. Ich kann nicht einmal darauf reagieren.
„Ich hatte solche Angst", stoße ich nur hervor. „Immer wieder hat er uns ... er hat Mum mis- er hat sie ... geschlagen u- und Ruby wollte er auch ..."
Ein Würgen will mich überrollen und ich halte inne. Für einen kurzen Augenblick.

„Er hat sie ins Ne- ins Nebenzimmer gezerrt, hat ihr ... er hat ihr schon ... die Hose ..."
Meine Stimme verwandelt sich in ein leises Wimmern und ich beuge mich vornüber.
„Ich hatte A- Angst, dich auch so ... zu behandeln. Ich wo- wollte dich nicht ..."
Mehr bringe ich nicht heraus, ich kann nicht mehr. Ich kann einfach nicht mehr.
Jeder einzelne Atemzug tut weh und allein der Gedanke, dass ... der Schluchzer übermannt mich und ich kann nichts anderes als auf dem Boden zu kauern und mir zu wünschen, all das war ein Produkt meiner Fantasie. Ein Albtraum. Ein Hirngespinst. Vielleicht eine Lüge, die ich mir in all den Jahren zurechtgelegt habe, um mein Tun zu rechtfertigen.

Ein erneutes Zittern durchläuft meinen Körper, als sich noch mehr Druck auf mich niederlässt und mich umschließt.
Erst nach ein paar Augenblicken realisiere ich, dass ich umarmt werde. Von Alice. Und das auch nicht wirklich fest, wie ich erst gedacht habe, sondern ganz sanft. Ihre Finger kreisen langsam über meinen Rücken.
„Das ist völlig in Ordnung", flüstert sie leise. „Du darfst weinen, ich bin hier. Okay?"
Schluchzend schlinge ich meine Arme jetzt um sie und drücke mein Gesicht gegen ihre Schulter.
„Es t- tut mir leid", stoße ich hervor, darauf bedacht, sie auf keinen Fall hier und jetzt zu erdrücken. „Ich hätte ... es dir eher ..."
„Hey, Vincent", unterbricht sie mich und eine ihrer Hände wandert zu meinem Hinterkopf.
„Sprich nicht. Nicht jetzt."

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