König und Bube
„Hi. Wie ... geht's dir?"
Ich schaue Sie nicht einmal an, sondern zucke nur mit den Schultern.
„Wie soll es mir schon gehen?"
Alice lässt sich neben mich auf die Couch fallen und lehnt sich, den Atem langsam ausstoßend, zurück.
„Das war übrigens nicht böse gemeint. Dad neigt dazu, sich selbst zu überschätzen und sich dann in Schwierigkeiten zu bringen. Ich mache mir einfach nur Sorgen um ihn", fügt sie leise hinzu.
Jetzt sehe ich sie doch an. „Er scheint mit mir fertig zu werden."
„Etwas, was ich nicht erwartet hätte, wie ich zugeben muss."
Ich wende meinen Blick wieder ab und ein dumpfes Schweigen legt sich über den Raum. Es wird nur von dem Surren der Klimaanlage – wie ich vermute – und den leisen Stimmen von nebenan unterbrochen. Ab und zu kann man auch das Rauschen des Verkehrs vernehmen.
„Du weißt, dass der SEA immer noch existiert, nachdem du die Forschungen zerstört hast? In Richmond ... das ist zwar ihre Hauptstelle, aber sie haben auch noch andere Zentralen."
Ich hebe meinen Blick von meinen Händen und starre Alice an. Sie beißt sich nur auf die Innenseite ihrer Wange und zuckt mit den Schultern.
„Deine Probleme werden sich nicht von einem Tag zum anderen lösen."
Ich schnaube. „Das wäre auch zu schön. Aber nein, mir reicht es schon, wenn ich diesem Summit einen Schlag verpasse, der so richtig wehtut."
Langsam nickt sie.
„Und du willst das wirklich allein durchziehen?"
Knapp lache ich auf. „Wie denn sonst? Außerdem jage ich ja nicht das ganze Unternehmen in die Luft."
„Wie konnte ich das vergessen? Es sind ja mittlerweile nur die Labore, das Fundament des SEA", entgegnet Alice und ich verziehe mein Gesicht.
Ihre Mundwinkel wandern in die Höhe und unwillkürlich hebt sich die Anspannung im Raum ein wenig auf.
„Der Rest ist nur eine positive Nebenwirkung", murmel ich.
Jetzt runzelte sie doch ihre Stirn. „Und die Leute, die Mitarbeiter? Was ist mit denen?"
Fast hätte ich gesagt, dass ihnen das zu recht geschehen würde. Ich bremse mich aber gerade so ab und zucke nur mit den Schultern.
„Die haben mit Sicherheit einen Evakuierungsplan", vermute ich. „Außerdem muss ja nicht das ganze Gebäude in die Luft gehen. Wie schon gesagt."
„Ja. Wie schon gesagt."
Ich erwidere nichts darauf, sondern starre nur auf mein Handgelenk, das jetzt, da sich der Ärmel meines Hemdes hochgeschoben hat, freiliegt. Mittlerweile habe ich eine Narbe an der Stelle, wo sich vorher der Sender befunden hat. Zart rosa zieht sie sich über meine Haut. Nach all den Monaten, in denen nichts eine Narbe hinterlassen hat, ist das ein seltsamer, wenn auch guter Anblick. Ich bin immer noch ein Mensch. Ich kann verletzt werden und mein Körper verheilt nicht immer so perfekt, dass nichts mehr zu sehen oder zu spüren ist.
Ein leises Räuspern von Alice' Seite lässt mich aufschauen. Schnell schiebe ich den Ärmel wieder vor.
„Ist das von deiner Flucht?", fragt sie vorsichtig und ich nicke knapp.
„Ja."
„War das dein erster Versuch oder ..."
„Nein, war es nicht!", unterbreche ich sie etwas zu barsch und schließe meine Augen. „Entschuldigung, dass ..."
„Nein, nein, tu das ja nicht." Sie winkt ab. „Ich hätte dich nicht fragen sollen. Ist ja klar, dass du nicht darüber sprechen willst."
„Na ja, ich will wieder zurück", erwidere ich ein wenig scherzhaft. „Da kann es ja nicht so schlimm gewesen sein, oder?"
Diesmal ist die Stille nachdenklicher. Sie setzt mich mehr unter Druck und krampfhaft lausche ich anderen Geräuschen. Als wäre ein Lautstärkepegler hochgedreht worden, schickt jetzt die Klimaanlage ihr Rauschen mit vollem Getöse durch den Raum.
„Ihr benutzt schon noch Feuerzeuge, oder?"
Alice zieht ihre Augenbrauen nach oben. „Feuerzeuge?", wiederholt sie irritiert.
Ich bewege meinen Daumen auf und ab, um die Bewegung, die mit einem der Teile verbunden ist, zu imitieren.
„Ich weiß schon, was das ist" sagt sie belustigt. „Da muss ich Zuhause einmal schauen. Aber ich denke schon, dass da eins liegt. Warum?"
„Irgendwie muss ich doch das Zeug in Brand setzen."
„Wissen Sie überhaupt, in welchem Labor ein zugänglicher Abschntt der Hauptleitung liegt?"
Wir beide fahren zur Tür herum und Alice rutscht ein wenig näher zur Kante der Couch, was mich die Stirn runzeln lässt. Als Capryse mich jedoch fragend ansieht, fällt mir wieder ein, ihm zu antworten.
„Na ja – nein. Aber ich dachte ..."
„Ich kann es Ihnen gerne aufzeichnen."
Der Mann hebt sein gläsernes Tablet in die Luft und setzt sich uns gegenüber. Harriet selbst bleibt ihm Türrahmen stehen, die Kaffeetasse immer noch in der Hand.
Schweigend sehen wir dabei zu, wie Wendell Capryse einen weißen Hintergrund auf dem Tablet aufleuchten lässt und mit einigen raschen Bewegungen seiner langen Finger einen Grundriss zeichnet. Trotz dass diese immer so sehr zittern, gelingen ihm die Linien außerordentlich akkurat, was aber auch einfach an der Technik des Gerätes liegen kann.
Als er das Tablet dann aber herumdreht, damit ich es sehen kann, runzel ich meine Stirn.
„Was ... ist das?"
Drei Stockwerke sind in der Skizze zu sehen. Mehr nicht.
„Das Gebäude des SEA in Richmond. Es hat eine Etage unter der Erde, aber das wissen Sie sicher."
Ich schüttel mit dem Kopf. „Nein, nein. Mindestens zwei, wahrscheinlich sogar mehr."
Jetzt werde ich stirnrunzelnd angestarrt.
„Ich war in der zweiten Etage unterhalb der Erde. Aber es gibt sicher noch mehr, ich habe einmal gehört, wie jemand von >Flur 4< gesprochen hat."
Capryse seufzt und reibt sich über den Nasenrücken. „Tja, da sieht man mal, was sich in achtzehn Monaten so anstellen lässt."
„Heißt ..."
„Heißt, ich würde Ihnen nur vor Ort sagen können, wo die der beste Zugang zu der Hauptleitung liegt, damit das ganze Vorhaben umsetzbar ist." Er erhebt sich und sieht bedauernd auf mich herab. „Aber das wird wohl nichts. Zumal das sowieso nur Anfang des Jahres funktioniert, wenn die täglichen Wartungsarbeiten durchgeführt werden. Zu dem Zeitpunkt würde ein Arbeiter mehr oder weniger wohl kaum auffallen, Hauptsache, im Febuar hat dann alles seine Richtigkeit."
Ruckartig stehe ich auf. Was sagt er da?
„Warum rücken Sie denn erst jetzt damit raus? Das ... das sind noch ... fast drei Monate bis dahin."
„Nahezu."
Ich spüre förmlich, wie mein Gesicht rot anläuft.
„Ich werde doch nicht so lange warten! Ich finde auch einen anderen Weg in das beschissene Gebäude."
Capryse hebt, wie zur Beruhigung, seine Hände.
„Hieß es nicht, Sie wollen nicht dorthin zurück? Wenn Sie jetzt überstürzt handeln, wird es darauf hinauslaufen, dass man Sie wieder einsperrt."
„Und das aus deinem Mund, Dad."
Hilflos balle ich meine Fäuste. „Wird es nicht. Ich überstürze nichts, hören Sie?"
Ich weiche ein Stück zurück, als Capryse um den Tisch herum kommt und seine Hände auf meine Schultern legt. Eindringlich sieht er mich an.
„Ich verstehe Sie ja, Vincent", sagt er leise und ich schlucke. „Sie sind kein Mann, der sich verstecken oder allzulange warten will. Vor allem nicht, wenn es sich um die eigene Freiheit handelt, die Freiheit, zu gehen, wohin es Ihnen beliebt."
Seine Hände wandern über meine Oberarme bis zu meinen Ellenbogen. „Aber wenn Sie jetzt wie eine Motte zum Licht hasten, wird man Sie entdecken! Ich weiß nicht, was genau Sie dort erwartet, aber das muss ich auch nicht, es reicht, wenn Sie das tun. Außerdem sind Sie im Moment ohnehin noch nicht in der Lage, solch eine Unternehmung zu starten. Im Moment mögen Sie vielleicht glauben, es geht Ihnen schon wieder gut, aber dem ist nicht so."
Er legt eine Pause ein, die mich aus der Erstarrung herausreißt und blinzeln lässt. Was soll das heißen? Mir geht es doch gut. Ich könnte jetzt sofort ... ich zucke zusammen, als mein Arm an meinen Körper gepresst wird und ein tiefes Brennen durch meine Seite fährt.
„Was ..."
„Sehen Sie? Aufstehen und Gehen mag vielleicht kein Problem darstellen, wenn Sie es damit nicht übertreiben. Aber im Moment – sehen Sie sich doch an, sie können kaum gerade stehen."
„Was? Natürlich, das sehen Sie doch. Mir geht es ..."
„Gut?" Fast sanft drückt Capryse mich zurück auf die Couch. „Ich möchte Sie nicht hier festhalten, Sie können jederzeit gehen. Aber in genau diesem Moment werden Sie das, was Sie sich vornehmen, nicht aus eigener Kraft schaffen."
Für einen Moment sieht er mich einfach nur an, dann lässt er meine Arme los und richtet sich zu seiner vollen Größe auf – auch, wenn das nicht besonders viel ist.
Ich blicke an mir herab und versuche, mich zu entspannen, um das glühende Gefühl in meiner Seite loszuwerden.
„Mir geht es gut", wiederhole ich nur, glaube es aber selbst nicht mehr so richtig.
„Warum denken Sie nicht noch einmal über alles nach, während ich inzwischen anfange, das Essen für heute Mittag zu kochen?"
„Wenn Sie meinen", brumme ich und er verlässt den Raum. Ich schließe meine Augen. Irgendetwas muss ich doch tun können. Wenn dort wirklich noch mehr eingesperrt werden ... – ich kann sie doch nicht dort warten lassen!
Aber was nützt es schon, wenn es mich dann selbst wieder trifft?
„Hey. Ist alles in Ordnung?"
Irritiert schaue ich auf. Ich habe die zwei fast vergessen.
„Ob ... natürlich. Das sagte ich doch bereits, mir geht es gut!"
Entschlossen deute ich auf das Tablet, welches immer noch nicht erloschen ist, sodass die fehlerhafte Skizze zu sehen ist.
„Ich komme da rein, egal, wie schwierig es werden wird."
Alice lächelt ein wenig wehmütig, während Harriet erst ihre Lippen zusammenpresst und dann ganz verschwindet. Sekunden später fällt die Küchentür mit voller Wucht ins Schloss.
„Und ... hast du jetzt eine Idee, wie du das machst?", hakt Alice zögerlich nach und ich wende meinen Blick von der Tür ab.
„Ja, ich ... also, ich arbeite noch daran."
„Weißt du, ich bewundere dich. Vince."
Mir stockt der Atem und starre sie völlig entgeistert an. Jeder Gedanke an eine Art von Unternehmung verpufft aus meinem Kopf. Hat sie gerade Vince gesagt?
Hey, Vince, hier. Siehst du das UFO? Es ist RIIIIESIG! Ob sie in friedlicher Absicht kommen? Schnell, wir warten bei der alten Raumstation auf ihre Ankunft. Na los, beeil dich mal, du Schnecke. Da ist ja Pookie schneller. Da! Jetzt landen sie, Vince. Hol die Kameras raus, wir werden zu den bekanntesten UF...
Ich zucke zusammen, als mich Alice vorsichtig am Ellenbogen berührt. „Stimmt etwas nicht?"
Schnell schlucke ich den monströsen Kloß in meinem Hals herunter.
„Nein. Nein, alles gut." Ich lächle sie an. „Warum solltest du mich bewundern? Ich kann schon gar nicht mehr zählen, wie oft mich dein Vater schon zur Toilette gebracht hat."
„Na ja, immerhin konntest du dich kaum auf den Beinen halten. Aber trotzdem lässt du dich nicht ... ist wirklich alles in Ordnung?"
„Ja, ich ... sorry, ich bin nur immer noch etwas durcheinander." Kurz zögere ich, dann füge ich leiser hinzu:
„Ist nur ziemlich lange her, dass mich jemand so genannt hat."
Alice reißt ihre Augen auf. „Oh, das ... das tut mir leid. Ich bleibe bei der Langversion und ..."
Schnell unterbreche ich sie:
„Nur keine Panik, so schlimm ist es auch wieder nicht. Es ist nur echt lange her", füge ich hinzu und denke wehmütig an die Zeit zurück, in der das Leben noch unbeschwert war – solange er nicht in der Nähe war.
„Na dann: Vincent. Ich bewundere dich. Ehrlich", wiederholt sie.
Wenn sie nur wüsste. Wenn Sie wüsste, weshalb ich zwei Sterne auf meiner Brust habe, würde sie das nicht sagen. Obwohl die Tattoos nicht einmal ansatzweise zu sehen sind, fühlt es sich so an, als würden sie ihren Blick genau darauf lenken.
Ich schweige aber. Erfährt sie davon, ist ihre Meinung über mich wieder genauso abwertend wie zuvor und ich laufe in Gefahr, verraten zu werden. Ich blicke in ihre hellen Augen. Na ja, es war wohl eher die Besorgnis um den eigenen Vater.
„Hast du Geschwister?", frage ich und überrascht öffnet sie ihren Mund. Dann versteht sie aber.
„Nein, leider nicht. Meine Mum hat uns vor schon vor Jahren ... verlassen müssen, weshalb da nichts mehr drauß wurde. Dad hat niemanden gefunden – oder wollte einfach nicht, er ist ein wenig eigen. Aber das hast du ja wahrscheinlich schon bemerkt."
„Ich hab seltsamere Dinge gesehen", gebe ich trocken zurück.
Alice lacht auf und ich spüre, wie sich ein Schmunzeln auf meine Lippen schleicht.
„Wie kommt es eigentlich, dass du hier gelandet bist? Dad hat nicht allzu viel erzählt. Es war von Parallelwelten die Rede, aber das" Sie schüttelt ihren Kopf. „ist schon ein wenig verrückt."
Bevor ich antworte, drehe ich meinen Kopf zur Tür, dann sage ich:
„Leider ist es aber auch wahr."
Ihre Augen werden unwillkürlich größer und beugt sie sich nach vorn, stützt ihre Arme auf den Knien ab und legt ihr Kinn in die Hände. „Das musst du mir näher erklären", meint sie nuschelnd.
Mit einem unwohlen Gefühl knete ich meine Hände. „Na ja, so viel gibt es da gar nicht zu erzählen. Da ist eben dieses Portal in einem Kraftwerk aufgetaucht. Es war echt riesig und hat sich mit so einem Surren um sich selbst gedreht, dass man glatt eine Gänsehaut gekriegt hat. Der Typ, der mich aus der Haftanstalt geholt hat, damit ich für ihn arbeite, hat mich dann quasi in das Ding geworfen."
Ich halte kurz inne, als ich an den Durchgang zurückdenke. Damals bin ich nach wenigen Sekunden bewusstlos geworden. Die Frage, ob die anderen auch solche Schmerzen hatten, taucht in mir auf. Ich zucke mit den Schultern.
„Auf jeden Fall bin ich dann auf der anderen Seite des Dinges wieder rausgekommen. In Richmond, wo nun in dieser Welt ausgerechnet der SEA seine Zelte aufgeschlagen hat. Keine zwei Stunden später war ich schon dort."
Ich hätte direkt zurückgehen sollen, sobald ich aufgewacht war – oder gleich diese blöde Lagerhalle verlassen müssen. Gleich in der ersten Sekunde. Aber ich Idiot bin geblieben, um ganz brav meine Aufgabe zu erfüllen.
„Und dort haben sie dich dann ... na ja, umgebracht?"
„Sie waren ganz schön eifrig", murmel ich.
Alice richtet sich wieder auf.
„Zum Glück bist du da jetzt raus", murmelt sie
„Umso erstaunlicher, dass ich zurückwill, hm?", erwidere ich.
Ich bin nicht nur erleichtert, dass sie nicht weiter nachgefragt hat, sondern auch geflissentlich überhört hat, dass ich im Gefängnis war, was mir im Eifer des Gefechts herausgerutscht ist.
„Na ja, irgendwie kann ich es ja auch verstehen. Und wenn dir mein Dad wirklich bei der Planung helfen sollte, kann ja gar nichts schiefgehen."
„Ach ja." Ich versichere mich, dass wir immer noch alleine sind. „Er hat ja auch dort gearbeitet. Was war denn sein Job?"
„Das hat er dir auch nicht erzählt? Nun, er war hauptsächlich als Biochemiker tätig. Aber er war Laborchef, also konnte ihm eigentlich so gut wie jede Aufgabe in die Hände fallen."
„Laborchef also", wiederhole ich, nicht ohne verhindern zu können, ein wenig beeindruckt zu sein. „Wie kommt es, dass er nicht mehr dort arbeitet?"
Alice' Gesicht verfinstert sich. „Er sollte einen Virus entwickeln, der unsere Gegner" Abschätzig schnaubt sie. „töten soll. Da hat er sich geweigert, wurde fast wegen Landesverrat hingerichtet, konnte sich aber herausreden. Durch seine vorherigen Verdienste war das keine große Kunst. Wir sind dann auf jeden Fall hier hergezogen und er hat seinen ... nun ja, er hat sich seit einem Jahr nicht mehr bemüht, einen neuen Job zu finden. Dass er nicht mittellos dasteht, scheint ihn in seiner Sturheit nur noch zu bestärken."
Ich betrachte meine Hände. Ganz toll. Viel gebracht hat das letztendlich nicht. Inzwischen haben sie dieses Virus und ganz sicher werden sie nicht allzu lange warten, es auch einzusetzen.
„Und was haben die da in den Laboren gemacht? Bevor ich da ankam?"
„Nun ja, generell weiß außerhalb niemand so richtig, was sie da tun, aber ihre Forschungen können sich in jedes mögliche Gebiet erstrecken, was die tatsächlich schon gemacht haben. Die Quantenphysik ist erst seit Anfang des Krieges Thema, der ehrwürdige Vater erhoffte sich, damit möglichst schnell zu gewinnen?"
„Und?"
Sie zuckt mit den Schultern. „Es ist ihm nicht gelungen. Er wollte genau das, was mit dir in dem Portal passiert ist. Er hat Straftäter, welche lebenslang zum Kälteschlaf verurteilt wurden oder sogar Kriegsgefangene genommen und sie in sogenannten Quantentunneln bestrahlt. Dabei ist alles rausgekommen, aber nicht das, was rauskommen wollte."
Deswegen also die Zellen. Es waren schon vor mir Leute da, mit denen Experimente betrieben wurden. Kann man solche Grausamkeiten noch übertreffen?
„Du bist sozusagen der Erste, bei dem sich der Körper so verändert hat, dass ..." Sie schürzt ihre Lippen. „Genau."
„Woher weißt du das eigentlich alles?", frage ich. „Es darf doch niemand wissen, oder?"
„Na ja, mein Dad hat so einiges mitbekommen. Das war zwar schon am Ende seiner Karriere, aber sowas spricht sich eben rum."
Sie hebt ihre Hand in den Nacken und ihr Blick zuckt für eine Sekunde zur Seite.
„Und wie ..."
„Davon abgesehen, dass dir das bis jetzt nichts als Scherereien gebracht hat, wie findest du die Tatsache, dass du nicht wirklich ... sterben kannst?"
„Äh ... was?"
Etwas unbeholfen grinst mein Gegenüber.
„Na ja, glaubst du, das hätte auch anders werden können?"
„Was geht denn jetzt ab?"
Sie seufzt. „Nehmen wir doch einmal an, du könntest die Regeneration gegen etwas eintauschen, irgendeine andere Eigenschaft , welche wäre das?"
Erst bin ich zu perplex, um etwas zu erwidern, dann lache ich auf. „Du fragst mich, welche Superkraft ich gerne hätte?"
„Findest du denn, du hast eine?"
„Sie ist echt beschissen. Aber gut."
Überlegend schaue ich mich im Raum um. Ich glaube, ich würde mich gerne unsichtbar machen können."
„Unsichtbar", wiederholt Alice. „Würde man dich trotzdem noch berühren können oder wärst du eher wie Luft?"
„Ich will mich ja nicht auflösen. Ich könnte so gut wie alles machen, verstehst du? Niemand, der sieht, wie ich in einer Straßenbahn schwarzfahre oder einen Erdbeershake trinke."
– Und mir dann eine runterhaut.
„Erdbeershakes sind toll", schwärmt Alice sofort und runzelt in der nächsten Sekunde die Stirn. „Aber Straßenbahnen? Ach ..." Sie klatscht sich die Hand gegen die Stirn. „Raupen. Bei uns wurden die Dinger vor circa 15 Jahren abgeschafft. Unpraktisch und die Dinger haben viel zu viel Platz weggenommen. Immer, wenn man in einer mitgefahren ist ..."
„Lenk jetzt nicht ab", unterbreche ich sie und verschränke meine Arme. „Was ist mit dir?"
Ihre Mundwinkel zucken. „Ja? Na dann – ich glaube, Gedankenlesen wäre schon ganz lustig. Aber bitte so, dass ich das kontrollieren kann. Wäre schon blöd, wenn ... du weißt, was ich meine. Hör auf, so zu grinsen!"
„Ich hab dich bis jetzt ja völlig falsch eingeschätzt", sage ich und fange mir einen Boxhieb gegen die Schulter ein. „Au."
„Selbst Schuld. Als ob das bei dir weniger gruselig ist."
Ein Räuspern lässt uns beide innehalten und ich merke, wie mir die Röte den Nacken hochkriecht, als ich zu Harriet schaue, welche in der Tür steht.
„Das Essen ist gleich fertig." Sie lächelt. „Er hofft, ihr habt Hunger."
„Oh, nur keine Umstände", meint Alice und steht auf. „Ich esse ..."
„Er wollte, dass du bleibst."
Alice hält inne und sieht seufzend zwischen Harriet und mir hin und her.
„Also gut", sagt sie dann. „Das ist aber eine Ausnahme."
„Diese Aufnahmen erreichten uns heute und ich muss sagen, werte Zuschauer und Zuschauerinnen, das-ist-unglaublich. Quellen zufolge kommt so ein Viator – eine von dem SEA entdeckte und vorgestellte Spezies – zu uns. Da stellt sich jedoch die Frage, ob diese Kreaturen eine Bedrohung darstellen. Die Portale sind ohne Zweifel gefährlich, wie können wir also annehmen, dass es sie nicht sind? In dieser beeindruckenden Aufzeichnung, welche eine Jugendliche mit ihrem Display tätigen konnte, sehen wir die Ankunft und Flucht eines solchen Viators, nachdem sie, es ist ein weibliches Exemplar, Anzeichen aggressiven Verhaltens gezeigt hat."
Ernst sieht mir der Fernsehmoderator in die Augen.
„Deshalb lautet die Anordnung, bei der Sichtung eines Viators, das Sicherheitsamt in Kenntnis zu setzen, bis weitere Informationen bekanntgegeben werden. Des Weiteren empfiehlt es sich, sich bei dem SEA über die Spezies und der Vorgehensweise bei einer Begegnung genauer zu informieren." Er lächelt. „Nun aber zu einer etwas erfreulicheren Nachricht. Der große ehrwürdige Vater plant ..."
Der Bildschirm erlischt, aber ich kann trotzdem nicht anders, als nur auf die durchsichtige Tafel zu starren. Seit mehreren Wochen warte ich schon hier – obwohl ich fest davon überzeugt bin, dass es mir gut geht – und fast täglich wird alles nur noch schlimmer.
„Das heißt dann wohl, dass nun auch der Letzte misstrauisch ist und man auf Hilfe nun gar nicht mehr bauen kann", stellt Capryse fest, die Finger ineinander verschränkt.
Ich kann nur nicken und muss mir erstmal durch den Kopf gehen lassen, was das jetzt für mich bedeutet. Für mich und die anderen. Ganz sicher nichts Gutes.
Die Frau, welche in dem Video zu sehen war, ist vor Panik ja fast zusammengebrochen. Ein Wunder, dass sie, so kurz nach dem Übergang – wie das jetzt genannt wird – die Kraft hatte wegzulaufen und von Anzeichen aggressiven Verhaltens war dabei rein gar nichts zu sehen gewesen.
„Was machen wir jetzt?", frage ich schließlich leise.
„Wir?"
„Ich. Was mache ich jetzt?", korrigiere ich mich.
Capryse legt seinen Kopf schief. „Ändert das etwa etwas an Ihrem Vorhaben?"
„Nein. Aber ... wenn wir jetzt schon als völlig andere Spezies angesehen werden, was macht das dann überhaupt für einen Sinn, die anderen zu befreien und die bisherigen Forschungen des SEA zu zerstören und wenn es nur ein Exempel ist?"
Der Stuhl, auf dem Capryse sitzt, knarrt, als der sich ein wenig zu mir dreht. Eigentlich seltsam, dass die Technik hier in solch einem Kontrast zu den Möbeln steht. Die wirken fast normal, es sei denn, es handelt sich um ein paar neumodische Designs.
„Weil es genau das ist: ein Exempel. Ist Ihnen die Geschichte Amerikas von dem 16. bis 19. Jahrhundert ein Begriff? Ich weiß nicht, ob sich unsere Geschichten ähneln, aber ..." Er lässt den Satz ausklingen.
„Bei uns war das gerade mal 300 Jahre her."
„Sehen Sie? Bei uns haben sich die Menschen, die von der sogenannten Kolonialisierung betroffen waren, auch nicht beirren lassen, weil ihre Lage so aussichtslos war. Genauso wenig wie Frauen, welche um ihre Rechte, insbesondere das Wahlrecht kämpfen mussten. Nehmen Sie jedes beliebige Beispiel aus der Geschichte, in dem die Menschen in Gruppen oder Klassen eingeteilt wurden. Es hat immer etwas gebracht, für Freiheit und die eigenen Rechte zu kämpfen. Und letztendlich waren es doch immer die Leute ganz oben, die den Stein ins Rollen gebracht haben. Die Politiker, Konzerne und Stars. Überzeugen Sie erst einmal die, dann funktioniert das auch bei dem Rest der Bevölkerung."
Mein Blick wandert zu ihm. Lächelnd betrachtet er mich und ich nicke.
„Sie haben recht. Danke."
„Oh, nicht dafür."
„Wollen Sie Poker spielen?"
„Ich gewinne nur wieder."
Seine Mundwinkel zucken. „Dann versuchen wir es doch einmal mit Schach. Ich habe das Brett und die Figuren selbst designt."
Während Capryse geht und das Spiel holt, auf welches ich eigentlich überhaupt keine Lust habe – weil ich es höchstens mal mit Gibby (eigentlich Gibbons, ein älterer Kerl im Gefängnis) gespielt habe –, schaue ich aus dem Fenster. Die Vorhänge sind eigentlich immer zugezogen, aber heute kann man durch einen kleinen Spalt auf die Straße schauen.
Wie viele wohl schon aus ihrem Leben gerissen wurden, weil sie so einem verdammten Portal zu nahe gekommen sind?
Ich schlucke, als ich plötzlich an Mum denken muss. Und an Ruby.
Ob sie wissen, dass ich nicht mehr im Gefängnis bin? Oder hat Simmons ihnen gesagt, ich wäre tot? Zuzutrauen wäre es ihm.
Mit einem resignierten Seufzer schließe ich meine Augen. Am Ende interessiert es sie nicht einmal. Immerhin sind sie nicht mehr gekommen, sobald ich erst einmal das Jugendgefängnis verlassen habe und verlegt wurde. Kein Besuch, kein Anruf, keine Nachricht ... nichts.
„Schwarz oder weiß?"
Ich öffne meine Augen. „Was?"
„Vereihen Sie bitte. Wollen Sie die schwarzen oder die weißen Figuren?"
„Egal."
Lächelnd legt der Ältere ein dünnes Brett auf dem Tisch ab und stellt kleine Figuren auf. Bei mir die dunklen, er selbst nimmt die weißen.
„Sind Ihnen die Regeln geläufig?"
Ich zucke mit den Schultern. „Ja. Aber ich habe schon ewig nicht mehr gespielt."
„Dann gehen wir das ganz langsam an, in Ordnung?"
Ich nicke, überlege aber schon nach wenigen Runden, ihm das Brett über den Schädel zu ziehen. Langsam angehen, von wegen. Er braucht keine zehn Züge, um mich schachmatt zu setzen. Wenn nicht sogar weniger.
„Sollte das nicht eigentlich Spaß machen?", grolle ich, was ihn aber nur dazu bringt, leise zu lachen.
„Sie besiegen mich im Poker, ich Sie im Schach."
„Pff."
Würde das alles hier an einem anderen Tag passieren, wäre mir das vermutlich egal. Aber heute bin ich einfach nur schlecht gelaunt. Mittlerweile sind schon wieder fast zwei, nein, drei Wochen vergangen, in denen ich hier sitze und nichts tue. Rein gar nichts.
Mit Sicherheit könnte ich schon längst wieder größere Kraftanstrengungen überstehen, aber irgendwie bin ich ratlos. Es ist fast so, als wäre ich in ein tiefes Loch gefallen. Ich weiß zwar, was ich tun will, aber nicht, wie und wann ich es tun soll.
Wahrscheinlich käme ich nicht einmal bis zu dem nächsten Block, bevor mich jemand entdeckt. Und selbst wenn ich es bis zum SEA schaffen würde, weiß ich nicht, wo die Forschungsergebnisse liegen, wo man die anderen eingesperrt hat und ich käme wohl kaum gegen all die Wachleute an. Innerhalb weniger Minuten hätte man mich wieder irgendwo eingesperrt.
Nein. Bei dem nächsten Mal kann ich wohl nicht damit rechnen, meine Zelle oder den Seziertisch auf eigenen Füßen zu verlassen.
„Was soll denn das? Das ist doch nur Schach, mein Lieber."
Ich starre auf die auf dem Boden verstreuten Figuren, dann vergrabe ich mein Gesicht in den Handflächen.
„Ich weiß, ich ... entschuldigung", murmel ich und ziehe ein wenig an den Haaren, die mir über die Stirn wachsen. „Aber was, wenn ich das alles ganz falsch angehe? Was, wenn es ein Fehler ist zurückzukehren?"
Es wundert mich nicht einmal, dass Capryse einen Augenblick später seine Hand auf meine Schulter legt.
„Ich bin mir sicher, Sie schaffen das, Vincent", sagt er mit weicher Stimme. „Sie dürfen jetzt nur nicht die Hoffnung verlieren. Denken Sie an die anderen Menschen, die eingesperrt werden und wie wichtig es ist, klarzustellen, dass Sie immer noch ein Mensch sind. Dann können Sie sich um die Akzeptanz der Leute bemühen."
Ich hebe meinen Kopf. „Sicher?"
„Aber natürlich. Wenn Sie wollen, informiere ich mich ein wenig über die Betriebspläne des SEA und helfe Ihnen damit weiter. Vorsicht ist besser als Nachsicht."
„Wenn Sie wollen", antworte ich und finde, dass das sogar ganz gut ist.
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