Feuerfest
„Fallen Sie bloß nicht", warnt Capryse und sieht zum wiederholten Male zur Eingangstür des Labors. Aber solange er den Stuhl festhält, kann nicht allzu viel schiefgehen, auch wenn ich an der Verkleidung der Leitung rucke und ziehe wie ein Verrückter.
„Gleich geschafft", stoße ich unter zusammengebissenen Zähnen hervor und hänge mich mit meinem ganzen Gewicht an die Leitung.
„Vincent ..."
„Gleich hab ich's."
„Vincent!"
„Eine Sekunde, dann ..."
„Vincent, kommen Sie augenblicklich herunter!"
Bei seinem alarmierenden Tonfall halte ich inne und jetzt höre ich es auch: Sich stetig näherndes Fußgepolter hallt über den Flur zu uns. Scheiße!
Ich springe auf den Boden, ziehe die Betäubungswaffe und sehe mich nach einer Fluchtmöglichkeit oder wenigstens einem Versteck um. Keine Chance.
„Gehen Sie hinter mich", rufe ich über den Lärm des Alarms hinweg ich und richte die Waffe auf die Tür.
Keine Sekunde zu spät. Sie schwingt auf und die ersten zwei uniformierten Männer stürzen herein. Der erste wird getroffen, schwankt noch ein wenig und geht dann zu Boden. Die nächste Ladung verfehlt den zweiten um Haaresbreite und ich schieße noch einmal. Diesmal treffe ich knapp die Frau, die hinter ihm in der Tür auftaucht. Auch sie kracht zu Boden.
„WAFFE FALLEN LASSEN UND DIE HÄNDE HOCH!", brüllt ein weiterer Soldat, als er das Labor bestimmt betritt. Ist das der Befehlshaber der Truppe?
Ich lade, fixiere ihn an und – die Waffe fällt mir aus der Hand. Sie rutscht mir aus den Fingern und mit ihr falle auch ich. Als ich auf dem Boden aufkomme, spüre ich den glühenden Schmerz in meinem Nacken.
Bereits in der nächsten Sekunde, ich habe noch gar nicht realisiert, was los ist, werde ich schon gepackt, der Rucksack wird mir von den Schultern und meine Hände werden nach hinten gerissen. Dann werden sie von zwei kalten Ringen umschlossen und kurz darauf von diesen auch schon aneinandergezogen. Meine Taschen selbst werden bis auf den letzten Rest entleert.
Das alles passiert innerhalb eines einzigen Momentes und schon werde ich wieder auf die Beine gezerrt. Der Raum verschwimmt und ächzend kneife ich meine Augen zusammen. Fuck, was war das?
„Sie auch! NA LOS!"
„Aber, aber." Lächelnd hält Capryse dem ersten Soldaten, der ihn erreicht, seine Waffe entgegen. „Sie wollen doch nicht den Mann verhaften, der Ihnen Ihr entlaufenes Testobjekt zurückbringt."
Ich glaube, mich zu verhören und für einen Moment fühlt es sich so an, als würde mein Herz entweder stehen bleiben oder gleich aus meiner Brust springen.
„Wie bitte?", fragt der Anführer der Soldaten. Gleichzeitig stoße auch ich ein ungläubiges „Was?" aus.
Der Uniformierte verdreht seine Augen und hebt seinen Arm.
„Den Alarm abstellen. Sofort!", spricht er in ein silbernes Armband und augenblicklich kehrt Stille ein und das rote Blinken erlischt. Seine dunklen Augen fallen auf mich. Ein beunruhigendes Glitzern macht sich in ihnen breit und er winkt einen seiner Soldaten zur Tür. „Informieren Sie den zuständigen Kollegen für VA-001 und besorgen Sie etwas, damit wir ihn leichter händeln können!"
Ich merke, wie mir die Farbe aus dem Gesicht weicht, als der Angesprochene schweigend den Raum verlässt und er seine Aufmerksamkeit wieder Capryse zuwendet, der in dem hellen Licht des Raumes und inmitten der bis an die Zähne bewaffneten Soldaten wie ein aufsteigender Stern erscheint.
„Ich fürchte, Sie müssen sich erklären."
Mit einem Nicken lassen zwei seiner Untergebenen von ihm ab und treten zurück. Capryse selbst lässt nicht für eine Sekunde sein gewinnendes Lächeln fallen.
„Sie sind noch nicht lange hier, guter Mann?"
„Chén. Seit zehn Monaten auf diesem Posten", antwortet Chén und verschränkt seine Arme. „Also?"
„Ah, dann kennen Sie mich noch nicht. Wie dem auch sei." Capryse beschreibt einen Handwink durch den Raum, während ich hoffe, wirklich inständig hoffe, dass dass er sich gerade etwas einfallen lässt, um uns hier rauszuholen
„Bis vor zwei Jahren war ich hier der Leiter des Labors. Biochemiker."
Einer von Chéns Männer beugt sich zu diesem und flüstert ihm etwas ins Ohr. Die Augen des Mannes weiten sich.
„Allerdings habe ich in einem Akt der Selbstüberschätzung beschlossen, einen Befehl von einer höheren Stelle zu missachten und voilà", er breitet seine Arme aus, wie ein Zauberer, welcher eben ein Kaninchen aus einem Hut gezogen hat, „ich wurde, nun ja, degradiert."
Er nickt zu mir. „Ein Mann, der sich etwas anders überlegt hat und Rechenschaft ablegen möchte, kommt nicht einfach so zurück. Nein, er bringt auch gleich ein Geschenk mit. Gesund und munter. – Das Geld kann der werte Cornelius Summit natürlich gerne behalten."
Ich starre ihn an. Ich starre und starre und starre. Das kann unmöglich wahr sein. Niemals würde er ... er würde doch nicht ...
„Das ..." Meine Stimme versagt und ich muss kräftig schlucken.
„Das ist nicht wahr!", bringe ich dann doch heraus und jetzt erst sieht Capryse zu mir. Er tut überrascht, als hätte er mich völlig vergessen.
„Sagen Sie bloß, Sie haben mich nicht richtig verstanden, mein Guter."
„A- aber Mr. Capryse ... Wendell! Sie haben mir geholfen. Ich habe ... ich habe Ihnen vertraut und ... und ... was soll das hier, ich ... verstehe nicht .." Ich bin völlig außerstande, ganze Sätze zu bilden. Eher bin ich damit beschäftigt, genug Luft zu bekommen.
Capryse tritt einen Schritt auf mich zu und mustert mich einmal von oben bis unten. Das macht er ganz schnell, sodass es mir wahrscheinlich gar nicht aufgefallen wäre, hätte ich geblinzelt.
„Sehen Sie es doch so", sagt er dann. „Früher oder später hätte man Sie ohnehin wieder verhaftet, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. So hat Ihre Flucht aber wenigstens noch einen Zweck erfüllt, ist das nicht schön? – Vincent. Ich hatte niemals vor, Sie tatsächlich gehen zu lassen. So eine Chance verwirke ich doch nicht."
„Einen ... Zweck?", wiederhole ich heiser. Bitte lass das nicht wahr sein! Egal, wer das hört, das hier kann einfach nicht das sein, wonach es hier aussieht!
„Nun, ich darf doch wohl annehmen, dass ich nach diesem Gefallen mit meinem alten Arbeitsplatz rechnen darf?"
Langsam nickt Chén. „Ich werde auf jeden Fall ein gutes Wort für Sie einlegen, wenn Sie wollen."
„Aber ... Sie sagten doch, der SEA hätte Sie angeklagt und ... Sie mussten eine tödliche Krankheit entwickeln und Sie ... Sie wurden einfach ... warum sollten Sie hierher zurückwollen?"
„Manchmal müssen Opfer gebracht werden, Vincent. Und ich verbringe sicher nicht mein restliches Leben damit, einer Arbeit nachzugehen, die mich unterfordert. Sollte Ihnen das nicht längst klar sein?"
„Aber ... nein, ist es nicht! Sie haben fast ein Heilmittel gegen Krebs entwickelt, Sie helfen Menschen, verdammt!"
„Ich habe es nicht fast entwickelt", entgegnet mein Gegenüber und kommt noch ein Stück näher. „Ich habe es entwickelt! Zu einhundert Prozent. Ach was, zu zweihundert Prozent."
Wieder blitzen seine Augen auf und diesmal erkenne ich, dass das weder Stolz noch Belustigung ist, sondern purer, gerade so unterdrückter Zorn.
„Aber nicht genug, dass ich die mir gestellten Anforderungen nicht erfüllen konnte – dass ich zu langsam war und kläglich versagt habe –, nein, die großen Konzerne kaufen das natürlich auch noch auf und halten es unter Verschluss, damit sie weiterhin ihre teuren, nutzlosen Pillen und Therapien verkaufen können", stößt er hervor. „Ein Herzlichen Glückwunsch, Sie waren näher dran, als jeder Wissenschaftler vor Ihnen sollte doch eigentlich zufriedenstellend sein, nicht wahr?"
Er wirft einen knappen Blick auf die Soldaten.
„Ich verurteile dieses Handeln nicht, weiß unser ehrwürdiger Vater doch am besten, wie mit solchen Dingen umzugehen ist und die Wirtschaftlichkeit ist schon seit jeher unser größtes Ziel. Aber meinen Stolz kratzt diese Herabwürdigung natürlich trotzdem ein wenig an."
„Aber ... was? Was erzählen Sie da für einen Mist, das ist doch nicht meine Schuld!"
„Oh nein, nichts hiervon ist Ihre Schuld, mein Lieber. Sie könnten höchstens beschuldigt werden, mir vertraut zu haben."
„Dann war das ... dann war das also alles von Anfang an geplant? Das sind Sie nicht, das ... das glaube ich nicht!"
Er schmunzelt. Er schafft es in dieser Situation, zu schmunzeln? Das kann sich doch nur um einen Scherz handeln, das ... tief in meinem Inneren weiß ich, dass es nicht so ist. Dass das hier völliger Ernst ist.
„Nun ja. Der Einfall kam mir in dem Moment, in dem Sie in meiner Küche standen. Verletzt, verängstigt und völlig abhängig von meiner Hilfe. Ein unfassbarer Glückfsfall, aber wie ich schon immer sage: Wie viel Glück kann man denn haben? Drücken wir es einmal so aus ... meine Mutation wäre wohl genau das."
„Und warum dann die Mühe?", fahre ich ihn nun doch lauter an. Die Griffe der Soldaten, werden fester. „Warum haben Sie nicht gleich am Anfang dieses verdammte Sicherheitsamt gerufen? Dann hätten Sie sich so einiges erspart und in Ihrem verdammten Bett schlafen können!"
Und Capryse fängt doch tatsächlich an zu lachen. Er lacht als hätte ich irgendetwas Dummes gesagt oder einen Witz gemacht.
„Oh, bitte. Ich habe zwei Jahre auf solch einen Moment warten müssen und mit jedem weiteren Tag stieg Ihr Wert, was für mich nur immer besser und besser geworden ist. Es ist für mich keine Schwierigkeit, nach so langer Zeit ein wenig mehr Geduld auszuüben." Er lächelt mich an. „Oh, und dann ist da selbstverständlich das Amüsement, das dürfen wir keinesfalls außer Acht lassen."
„Amüsement?" Ungläubig sehe ich ihn an.
„Aber ja doch. War das nicht ein wunderbarer Zeitvertreib? Ich habe bestätigt, dass ich in den letzten Jahren nicht nachgelassen habe und konnte mich zu gleicher Zeit noch ein wenig unterhalten. Finden Sie es nicht spannend, wie einfach ein Mensch gestrickt ist, wie einfach er zu durchschauen und zu lenken ist? Fasziniert war ich auch von der Bereitschaft, die Sie an den Tag gelegt haben, als es darum ging, sich ... einen Floh in das Ohr setzen zu lassen."
„Weiß Alice davon?", frage ich leise, ohne auf diese absolut verstörenden Aussagen einzugehen.
Die Vorstellung, dass sie davon gewusst haben könnte oder ihm sogar geholfen hat ... mir wird schlecht. Kann man sich so sehr in einem Menschen täuschen?
Tief atmet Capryse durch – sein Brustkorb hebt und senkt sich unter dem blütenweißen Hemd –, dann steht er wieder genauso ruhig und unbeeindruckt da wie immer.
„Halten Sie bitte meine Tochter da raus. Meine Tochter und meine Freunde, könnten wir uns darauf einigen?"
„Ich habe Ihnen das Leben gerettet!", starte ich einen letzten verzweifelten Versuch. „Das kann alles nicht Ihr Ernst sein, ich habe die Kugel für Sie abgefangen, verdammt!"
Seine Mundwinkel zucken. „Für Sie war das ja wohl kaum ein richtiges Opfer, meinen Sie nicht?"
„Din gris!", kommt es über meine Lippen, bevor ich es verhindern kann. Mir wird direkt noch übler, als mir auffällt, dass das heute schon der zweite Ausrutscher ist.
„Oh, und sprechen Sie bitte Englisch, Vincent. Eine Konversation besteht immer aus mindestens zwei Personen, welche einander verstehen."
„Schwein!", gebe ich zischend zurück. „DU BIST EIN MIESES SCHWEIN! DU HA- ... du hast mir versprochen, dass ich nicht wieder zurückmuss, was soll der Scheiß, faen!"
Der dritte. Jetzt spüre ich doch, wie die Wut erneut innerhalb von Sekunden in mir anschwillt und förmlich droht überzukochen. Mit aller Kraft kämpfe ich gegen die festen Griffe der Männer an und würde am liebsten auf diesen ungläubigen Gesichtsausdruck einschlagen.
„Aber Vincent. Ich habe Sie zu keinem Zeitpunkt zu einer Handlung oder einem Vorhaben gezwungen, da stimmen Sie mir sicher zu. Meine Lieben und ich haben für Sie gesorgt und auch, wenn ich zu meiner guten Freundin nicht immer ganz ehrlich war, kann man mir nun wirklich keine Schuld zuweisen. Sind Sie nicht erwachsen genug, eigene Entscheidungen zu treffen?"
„DU KANNST DOCH GAR NICHT SO ETWAS WIE FREUNDE HABEN!" Ein Schlag in meine Seite lässt mich für einen Moment einknicken und etwas ruhiger füge ich hinzu:
„Du bist doch noch nicht einmal dazu fähig, etwas zu empfinden, geschweige denn so etwas, wie Freundschaft oder ... oder Liebe, Capryse!"
„Das ist doch noch nicht einmal mein Name", sagt der Mann – von dem ich dachte, er wäre mein Freund – jedoch nur und geht dann an mir vorbei, ohne auch nur noch ein weiteres überflüssiges Wort an mich zu verschwenden.
„Oh nein, bleib hier!", schreie ich ihm hinterher. „Du hast es versprochen, verdammt, das kannst du nicht tun! Hey!"
Aber ich sehe ihn schon gar nicht mehr.
Chén selbst nickt den Männern, welche mich festhalten, zu.
„Ihn verlegen wir morgen. Zwischen den letzten Sachen hat er auch noch Platz", meint er, dann begleitet er Capryse mit dem Rest seiner Gruppe nach draußen. Seine zwei bewusstlosen Leute werden davongetragen. Sobald auch sie verschwunden sind, betritt der Soldat von vorhin das Labor, einen pistolenförmigen Gegenstand in der Hand, was Schweiß aus meine Poren treten lässt.
„Da ist ja mal einer jemandem so richtig auf den Leim gegangen", höhnt einer von meinen Unterdrückern und sie zerren mich auf den Laborausgang zu. „Schön mitkommen, dann müssen wir auch darauf verzichten. Bis morgen kannst du dich noch in einer gemütlichen Zelle ausruhen, das müsstest du ja kennen."
Ich versuche mich loszureißen und stemme meine Füße in den Boden.
„Das könnt ihr vergessen. Ich werde nicht ..."
„Dann halt anders. Leg dich hin!", befiehlt der zweite Uniformierte und zusammen versuchen sie, mich zu Boden zu zwingen. Mit aller Kraft wehre ich mich gegen sie und trete nach hinten aus.
„Lasst mich los, habe ich gesagt! Sofort! Loslassen!"
Aber durch den Schlag auf meinen Nacken, dessen Schmerz nicht aufgehört hat, bis in meinen Kopf hochzuziehen, bin ich immer noch leicht benebelt und als plötzlich etwas Schweres in meiner Kniekehle landet und sie zur Seite eindrückt, stöhne ich auf und breche zusammen.
„Na, geht doch", zischt es über mir. „Betäub ihn! Schnell!"
Über den Schmerz hinweg versuche ich weiterhin, mich hochzudrücken und die Männer abzuschütteln, aber es ist zwecklos. Ich stehe wieder an der gleichen Stelle, wie vor ein paar Monaten. Wenn ich auch nur daran denke, was man wieder mit mir anstellt, wird mir schlecht. Da hilft auch nicht die Tatsache, drei andere Gefangene befreit zu haben. Letztendlich werden sie ja doch wieder aufgespürt.
Ich spüre schon kaltes Metall knapp unter meinem Haaransatz, als ein Schatten durch die Labortür schlüpft. Zugegeben, ein sehr großer Schatten, aber dann ertönt auch schon ein leises Klicken und ich spüre die Munition in meinen Nacken schießen.
Es ist zum Heulen. Ein Aufschluchzen unterdrückend gebe ich den festen Griffen nach und lasse meine Stirn auf den Boden fallen. Jetzt ist es sowieso zu spät, ich komme hier nicht mehr raus. Definitiv nicht als freier Mann. Das Letzte, was ich sehe, bevor ich ohnmächtig werde, ist ein loderndes Aufleuchten, dann ertönt ein leises Wump und mir wird schwarz vor Augen.
Husten. Das dringt zuerst zu mir durch. Nach ein paar Sekunden bemerke ich, dass es von mir kommt und zwinge meine Augen auf. Ich blinzel. Was ... das ist doch nicht das Labor, warum legt man mich in so einem Trümmerhaufen ab?
Ich versuche, mich zu aufzurichten, aber meine Hände sind immer noch hinter meinem Rücken gefesselt und mein Körper ist so schwer, dass ich mich ächzend wieder zurückfallen lasse. Jetzt spüre ich auch dieses ziehende Brennen an meiner Wade.
Scheiße, was ist passiert? Die Luft ist voller schwarzer Punkte, welche auf mich niederfallen wie feiner Schnee. Ab und zu flattert ein Papierfetzen vorüber und irgendetwas läuft über meine Wange. Irgendetwas zähflüssiges.
Knirschende Schritte ertönen und ich drehe meinen Kopf. Da kommt, zwischen zwei umgestürzten Tischen, eine riesige Gestalt auf mich zu und kniet sich zu mir.
„Hugh?" Ich huste.
„Scheiße. Warte, Bro."
Er verschwindet aus meinem Blickfeld und kurz darauf verschwindet ein ungeheurer Druck von meinem Brustkorb – den ich aber erst jetzt wirklich wahrnehme, wo er nicht mehr da ist.
„Komm her, ich helf dir." Der Mann zieht mich auf meine wackeligen Beine und mir stockt der Atem, als ich mich umsehe. Das Labor ist völlig zerstört. Von der ursprünglichen Einrichtung kann man nichts wiedererkennen. Kabel hängen von der Decke und lassen immer wieder leise Funkenschauer zu Boden rieseln und dort drüben, nur ein paar Meter von mir entfernt, liegen die drei Wachmänner. Ihre Kleidung ist zerrissen und die Gesichter sind völlig verkohlt. An einigen Stellen haben sich sogar Teile der Uniform in die Haut gebrannt.
„Was ist passiert?", keuche ich und Hugh macht sich an meinen Handfesseln zu schaffen. Ich schaue an mir herab. Meine Kleidung ist ebenfalls völlig zerfetzt.
„Als wir oben angekommen sind, war da ein Wachmann, welcher uns aufhalten wollte. Ich konnte ihn zwar außer Gefecht setzen, als wir aber beim Auto angekommen sind und da keine Frau war, bin ich zurückgekommen, ich wusste ja, dass du hier runter wolltest. Ich hab mich gerade noch so verstecken können, als dein Freund mit einer Gruppe von Soldaten aus dem Labor kam. Ich fand sein Auftreten ehrlich gesagt schon oben ziemlich seltsam und dann war er da mit diesen Schlägertypen – fande ich noch verrückter. Und als ich hier auftauche, sehe ich diese Kerle, wie sie dich am Boden festnageln und dir irgendetwas in den Nacken jagen. Das sah echt gruselig aus, wie aus so einem schlechten Film."
Es ertönt zwar kein Geräusch, aber die Fesseln geben nach und ich bin frei. Hugh wirft die beiden Ringe von sich, deutet nickend auf die Wachleute und ich betrachte erst sie, dann bewege ich vorsichtig mein Knie. Keine Schmerzen. Nur meine Wade tut immer noch weh. Bestimmt hat sie etwas abbekommen oder ich lag damit auf irgendeinem heißen Metallstück.
„Wie hast du das gemacht?", frage ich leise. Meine Kehle klingt wegen all dem aufgewirbelten Staub und der Asche in der Luft noch immer so rau.
Zur Antwort hebt Hugh seine Hände, welche von einer Sekunde zur anderen anfangen zu glühen. Ich weiche, die Augen geweitet, ein Stück zurück. Krank!
„Ich sagte doch, ich kann helfen. Ich hab einfach auf die Tanks da hinter der Wand gefeuert und sie sind hochgegangen. Zum Glück waren es wirklich Tanks, sonst hätte es wohl nicht so eine Explosion gegeben. Aber keine Sorge, ich bin feuerfest."
Kurz scheint mein Gehirn keinen klaren Gedanken fassen zu können, dann wirbel ich zu ihm herum. „Und woher wusstest du, dass ich es bin? Quasi?"
„Ich habe es mir nur gedacht. Wir haben hier nämlich schon öfter von einem Kerl gehört, der nicht sterben kann. Ich hab einfach auf dich gesetzt."
Ich schnappe nach Luft, sage aber nichts weiter dazu und lege meinen Kopf in den Nacken.
„Allerdings bin ich mir ziemlich sicher, eine herabfallende Decke nicht zu überleben. Können wir los?"
Ich nicke. Immerhin lege ich auch keinen allzu großen Wert darauf, hier vergraben zu werden und abzuwarten bis mich jemand findet.
„Na dann ..."
„Warte!"
Ich habe bei einem der Wachmänner etwas entdeckt und stürze zu ihm, um das Feuerzeug aufzuheben. Es ist völlig verschmiert und ich verbrenne mir fast die Finger. Nach ein paar Sekunden lässt das aber halbwegs nach und ich verstaue es sicher in meiner Hosentasche, schnappe mir noch einen der Elektroschocker, dann folge ich Hugh nach draußen.
Auch die angrenzenden Räumlichkeiten sind nahezu zerstört, die Wände der Gänge weisen wahre Spinnennetze von Rissen auf. Eine Seite des Ganges ist völlig zugeschüttet, weshalb wir nur in eine Richtung gehen können, um hier irgendwie rauszukommen. Die Lampen flackern ununterbrochen und die Sprenkler an den Decken geben ihr Bestes, wodurch dichter Nebel aufsteigt und wir schon nach wenigen Sekunden völlig durchnässt sind. Kurz überlege ich, ob es Capryse rausgeschafft hat, dann fällt mir aber auf, dass es mir sogar fast egal ist.
Ich hebe meinen Arm, mit dem ich meine Augen abschirme, damit ich Hugh nicht verliere. Er weiß, wo es hier wieder rausgeht, nicht ich. Hoffentlich.
Dann bleibt er jedoch vor einem türgroßen Loch in der Wand stehen. Dicke Kabel hängen dahinter und erst als ich ein kaputtes Tastenfeld neben dem Loch entdecke, erkenne ich, was das ist.
„Der Fahrstuhl ist abgestürzt?"
„Es gibt scheinbar zwei davon. Aber ja. Wenn alle Stricke reißen, muss man einfach die übrig gebliebenen Teile nutzen, um daran hochzuklettern", murmelt Hugh.
Ich starre seinen Hinterkopf an. „Das war nicht witzig."
„Ja." Er seufzt. „Ich dachte, das käme cool rüber. Los, hoffen wir, dass es hält."
Und damit springt er und umklammert das erste Kabel. Kurz zögere ich noch, doch als seine Särge von Füßen in dem Schacht verschwinden und das Knirschen und Rumpeln im Gebäude nun auch die Sprenkler übertönt und ich sogar leises Fauchen von Feuer hören kann, gebe ich mir einen Ruck und greife nach dem zweiten Kabel.
Der Aufstieg ist wahrlich die Hölle. Immer wieder rutsche ich ab und ich bin schon nach der ersten Etage so erschöpft, dass ich es unmöglich bis ganz nach oben schaffen werde. Meine Arme werden von Sekunde zu Sekunde schwerer und meine Finger sind nach jedem weiteren Handgriff noch rutschiger.
„Komm schon, du schaffst das!", zischt Hugh über mir und ich lege meinen Kopf in den Nacken.
„Klappe, ich bin gerade gestorben."
Er schnaubt und klettert weiter. Die Zähne zusammenbeißend greife ich nach oben und rutsche prompt ab. Mit aller Kraft verstärke ich mit der anderen Hand meinen Halt und nur mit Mühe unterdrücke ich ein Ächzen, als ich mir die Handfläche aufreiße.
„Alles in Ordnung, Kumpel?"
Ich bekomme das Kabel wieder zu fassen und klettere weiter hoch.
„Ja, doch", stoße ich hervor. „Kletter einfach weiter!"
„Ich bin doch schon da. Los jetzt!"
Ich schaue hoch. Tatsächlich. Noch ein paar Meter, dann habe auch ich es geschafft.
Ich klettere weiter, als plötzlich ein solches Beben das Gebäude erschüttert, dass das Kabel hin- und herschwankt und ich nichts anderes tun kann, als mich daran festzuklammern und zu hoffen, nicht zu fallen. Fest schließe ich meine Augen und warte, bis es aufhört, dann schaue ich nach oben. Hughs Gesicht hat sich verzerrt und er wirft sich auf den Boden, um mir seine Hand entgegenzustrecken. Ein dumpfes Geräusch dringt von unten her zu uns.
„Jetzt mach schon, schnell!"
Etwas in seinem Ton sagt mir, dass ich wirklich nicht mehr warten kann, deshalb klettere ich so schnell wie es bei dem Schwingen des Kabels möglich ist, weiter. Ein leises Grollen von unten verfolgt mich.
Dann erwische ich Hughs Hand und mit einem Ruck werde ich in die Höhe gezogen. Das Grollen ist jetzt lauter und in dem Moment, in dem ich oben auf dem Boden lande, schießt eine heiße Wolke aus Staub, Steinen und Glasscherben aus dem Fahrstuhlschacht. Ich presse mich flach auf den Boden und schlage die Arme über meinem Kopf zusammen.
Nur langsam verstummt das Klirren des Glases und Rumpeln der Fundamente.
„Scheiße, was war denn das?"
„Unsere letzte Warnung. Das Gebäude stürzt gleich in sich zusammen", erwidert Hugh, springt auf und stürmt auf das nächste Fenster zu. Ich werfe einen Blick auf den Haupteingang hinter der nächsten Ecke und weiß, warum. Uniformierte Männer begleiten mindestens zwei Dutzend Menschen durch den Gang, welcher zu dem Fahrstuhl führt, nach draußen. Irgendwie müssen sie ihn wieder in Betrieb gebracht haben. Oder die Leute wurden auf andere Art und Weise nach oben gebrachg.
Ich rappel mich auf und folge meinem Retter, welcher eben ungebremst durch das Fenster rauscht. Hunderte von Glasscherben fallen rasselnd zu Boden.
Dieser zittert unter meinen Füßen und ich laufe noch ein wenig schneller. Bei dem Fenster angekommen bin ich ein wenig vorsichtiger. Mit meiner kaputten Jacke breche ich auch die letzten dicken Scherben aus dem Rahmen und steige dann auf die andere Seite.
Hugh wartet schon ungeduldig und sobald ich vor ihm stehe verschwindet er im Schatten der nächsten Seitenstraße – verborgen vor den Menschen, welche jetzt alle vor dem bebenden Gebäude des SEA stehen.
Was vermutlich sowieso keinen Nutzen mehr hatte, wenn sie sowieso umziehen, denke ich bitter.
Aber da beugt sich Hugh bereits suchend zu drei grauen Müllcontainern.
„Naomi?", flüstert er – nur so laut, wie in unserer Situation ratsam – in die Dunkelheit und wartet kurz. Dann noch einmal:
„Naomi, Kleine. Ich bin's. Hugh."
Ein Scharren ertönt von einem der Container und ich kann förmlich sehen, wie eine zentnerschwere Last von den Schultern des Mannes fällt, als das kleine Mädchen hervortritt.
„Dir geht es gut", stößt er erleichtert hervor und erwidert die Umarmung, in die er geschlossen wird.
„Wir können hier nicht bleiben", unterbreche ich sie und der Riese blickt zu mir. Hier in der Dunkelheit sieht es fast so aus, als würden eine Hose und ein T-Shirt vor mir in der Luft schweben – dunkle, ovale Augen ein paar Zentimeter darüber. Hugh nickt.
„Weißt du, wohin?"
Stumm schüttel ich mit dem Kopf. Er knirscht mit den Zähnen.
„Das war ja echt krass, als ich hier angekommen bin. Aber ich hatte gar nicht die Zeit, mich umzusehen. Überall waren Menschen, die mich angegafft und sogar verfolgt haben und dann wurde ich von den Behörden eingesackt."
„Wann war das?"
Er zögert. „Vor zwei Wochen? Ein wenig länger? Keine Ahnung, da unten verliert man jedes Zeitgefühl."
Ich hebe meinen Arm und ziehe den verschmutzten Ärmel hoch. Die frische Narbe, die von dem Peilsender noch übrig geblieben ist, ist unter einer dichten Schicht von Asche, Blut und irgendeiner Schmiere verdeckt.
„Seid ihr verwanzt? Mir hat man einen Peilsender eingepflanzt, die müsstet ihr erst loswerden."
Hugh hebt ebenfalls seinen Arm und blickt darauf.
„Das ist es also", murmelt er und nickt. „Wir haben wohl ein Problem."
Leise fluchend wende ich mich ab und starre, eine Hand auf meinem Hinterkopf, ins Leere. Wenn wir die Dinger nicht loswerden, können wir uns die Flucht auch gleich sparen.
Oder ich gehe einfach und sie müssen ab jetzt alleine zurechtkommen. Musste ich immerhin auch.
Schnell verwerfe ich den Gedanken. Es kommt gar nicht infrage, dass ich sie jetzt im Stich lasse. Ich wirbel zu Hugh herum.
„Der Elektroschocker."
„Was ..."
„Mein früherer Zellengenosse hat immer über Ausbruchsmöglichkeiten geschwafelt. Eine davon war, alles einfach mit Strom lahmzulegen. Vielleicht nicht das beste Beispiel, aber Handys gehen doch auch kaputt, wenn man einen Stromschlag durch sie durchjagt. Oder?" Ich ziehe den Schocker aus meinem Hosenbund und sehe die beiden fragend an.
Das Mädchen weicht automatisch zurück, aber schnell kniet sich Hugh zu ihr und streicht ihr beruhigend über die Arme.
„Hey, ganz ruhig. Ich weiß, diese Dinger sind schlimm. Aber wenn wir den bösen Männern entkommen wollen, müssen wir das tun. Nur ganz kurz, dann können sie uns nicht mehr finden. – Wenn du willst, mache ich es, in Ordnung?"
Ihre Unterlippe zittert, als sie zaghaft nickt. Mit einem traurigen Lächeln sieht Hugh zu mir.
„Ich fange an."
Schluckend gebe ich ihm den Schocker. Mit einem aufmunternden Lächeln zu Naomi drückt er ihn auf sein eigenes Handgelenk. Dann ertönt dieses ekelhafte Geräusch, er verkrampft sich und beugt sich mit aufeinandergepressten Zähnen vornüber. Ich will mir gar nicht vorstellen, dass man so etwas mit dem Kind auch gemacht hat. Warum?
„Geht's?", frage ich vorsichtig.
Offenbar ja nicht, aber er nickt und richtet sich keuchend wieder auf.
„Wehe, das ist für'n Arsch."
Er winkt Naomi heran und zieht vorsichtig ihren Arm zu sich. Sie kneift ihre Augen zusammen. Tief atmet Hugh durch und drückt jetzt auch ihr die zwei Drähte, die den Strom leiten, auf das Handgelenk. Leise wimmernd vergräbt sie ihr Gesicht in seinem Oberarm.
„Ich zähle runter, ok? Drei – zwei – eins."
Ein gedämpftes Schreien ertönt und plötzlich kann ich mich nicht mehr bewegen.
Mein Puls rast in die Höhe, dann gibt es ein Knacken und gerade noch so unterdrücke ich einen Aufschrei.
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