Exposed and attacked
Terry
Mit schnell klopfendem Herzen, beuge ich mich ein wenig weiter über das Display, welches ich zu mir herangezogen habe. Meine Augen haben aber nicht viel für das Video übrig, was darauf abgespielt wird. Das war ab dem Zeitpunkt völlig uninteressant, in welchem ich Mr. Capryse' Tochter mit Takeshi gesehen hatte. Wie sie ihm einen Briefumschlag in die Hand drückt. Still und heimlich, nachdem sich beide mehrmals versichert haben, dass sich niemand sonst auf dem Gang aufhält.
Mittlerweile glaube ich, dass meine Unscheinbarkeit meine Stärke ist, sonst hätten sie mich zumindest gehört, als ich aus dem Treppenhaus kam. Die Mutation kann es ja nicht sein, die ist nahezu nutzlos. Aber jetzt ... jetzt kann ich Jasper und Mr. Capryse zeigen, dass ich doch so Einiges mehr drauf habe.
Es war eine gute Idee gewesen, an Takeshi dran zu bleiben. Wer soll ihm denn hier schon einen Brief geben?
Das kann ja eigentlich nur einer von uns sein, mit dem er schreibt. Ein Flüchtling oder ... ich schlucke. Oder einer, der sich mit diesem Vincent versteckt, einer seiner Komplizen. Was, wenn sie irgendetwas Gefährliches planen?
Takeshi könnte ja beispielsweise sagen, was Mr. Capryse' Gewohnheiten sind und diese Verbrecher lauern ihm dann auf. Oder er sagt ihnen, dass wir in diesem Haus leben und sie lassen es über uns einstürzen. Hat Vincent Holt so etwas nicht sogar einmal gemacht?
Erneut schlucke ich und lasse meine Augen über die bewegten Bilder des Videos huschen. Wenn wir wirklich angegriffen werden würden, könnte ich rein gar nichts ausrichten. Ich wäre einer der Wenigen, die nicht dazu fähig sind, etwas zu unserer Verteidigung beizutragen. Alles, was ich wirklich tun kann, ist, Mr. Capryse und meine Freunde zu warnen.
Ich will schon aufstehen, halte dann aber inne. Es fällt auf, wenn ich jetzt wieder den Raum verlasse. So kurz, nachdem ich der jungen Frau und Takeshi bis hierher gefolgt bin. Wenn ich jetzt zu Mr. Capryse gehe, nützt ihm das sowieso nicht besonders viel. Ich sollte vielmehr noch erfahren, was Takeshi jetzt vorhat. Vielleicht finde ich ja sogar heraus, zu wem Mr. Capryse' Tochter geht, wenn er ihr eine Antwort auf den Brief gibt.
Also warte ich ab, den Blick konzentriert nach unten gerichtet. Noch verhalten sich die Beiden völlig normal. Ja, sie reden nicht einmal mehr miteinander, sondern beschäftigen sich mit anderen Dingen. Takeshi hat sich zu den Leuten an dem Tisch auf der anderen Seite des Raumes gestellt und sieht einem von ihnen über die Schulter und Alice Capryse unterhält sich lachend mit einer Frau, bevor sie, die Jacke über den Arm gelegt, den Raum wieder ... verlässt.
Und was jetzt?
Beide kann ich offensichtlich nicht gleichzeitig beobachten.
Ich entscheide mich dafür, den Brief im Auge zu behalten. Wenn Takeshi ihn liest, will ich zumindest in der Nähe sein. Aber noch kümmert er sich nicht um den Umschlag unter seinem Pullover. Nervöse kaue ich auf meinen Nägeln herum.
Warum tut er das nur? Warum tut sie das nur?
Sie kann doch nicht allen Ernstes das Risiko eingehen, dass ihrem Vater etwas passiert! Liegt ihr denn nichts an ihm?
Ein grimmiges Brummen kommt aus meinem Mund. Ich würde alles dafür tun, Mama und Papa wiederzusehen und sie verhält sich so?
Ihr muss doch klar sein, dass Vincent Holt ihm etwas Schlimmes antun wird, wenn er erst einmal weiß, wo wir sind. Mr. Capryse hat genug mit diesem Mann erlebt, um zu wissen, was das für einer ist. Wenn er als unser Befreier einen Viator verfolgt, dann muss dieser ja etwas Schlimmes verbrochen haben.
„Takeshi!"
Ich zucke zusammen. Da ist er.
Mr. Capryse steht im Türrahmen des Raumes, hinter ihm entdecke ich Alice, die stirnrunzelnd zu dem gerufenen Jungen sieht. Ich richte mich etwas auf. Hat sie es ihm etwa erzählt?
Bereits im nächsten Augenblick verwerfe ich diesen Gedanken jedoch wieder, denn Mr. Capryse mustert die Anwesenden und fragt schließlich:
„Ist einem von euch bekannt, wo sich Verena aufhält?"
„Sie wollte in die Küche", bekommt er die Antwort und dankbar nickt er.
„Vielen Dank. Ein Paar von uns werden gebraucht, ein paar Blocks weiter findet eine Geiselnahme statt und wir wurden angefragt. Macht euch jedoch keine Sorgen, es kann gerne der Tisch für uns mitgedeckt werden."
Als er sich umdreht, umklammert Alice seinen Arm.
„Wieso musst du denn mitgehen?", zischt sie. „Du kannst dich doch nicht wirklich wehren! Wenn dir etwas passiert, dann ..."
Beruhigend streicht er ihr über den Handrücken.
„Ich kann sie doch unmöglich in Gefahr bringen", erwidert er mit sanfter Stimme. „Wenn sie von dem Sicherheitsamt verwechselt werden oder ein Passant auf sie aufmerksam wird und es zu einem Konflikt kommt, dann ist es besser, wenn ich dabei bin und die Situation klären kann."
„Verwechseln?", echot Alice stirnrunzelnd.
„Leider schon. Nach meiner Information haben die Geiselnehmer erst vor wenigen Tagen an einer dieser ... Auktionen teilgenommen. Der Erworbene ist wohl dabei."
Ich weiß nicht, wovon er spricht, aber Alice legt ihre Hand in den Nacken und schließt die Augen.
„Pass auf dich auf", murmelt sie jetzt kaum hörbar, in dem Augenblick, in dem Takeshi zu ihnen tritt.
Mit einer letzten Umarmung seiner Tochter verlässt Mr. Capryse den Raum.
Asura
Noch während ich der Gruppe aus dem Fenster hinterhersehe, schließt sich ein Griff um mein Handgelenk und zieht mich einfach zurück. Ich fahre herum.
„Jasper, was ..."
Sein warnender Blick lässt mich verstummen und ich folge ihm durch den Raum und nach draußen auf den Gang. Hier lässt er mich los und beschleunigt nun seine Schritte.
„Was hast du denn?", will ich wissen.
Nach ein paar weiteren Schritten beginnt er:
„Du erinnerst dich an die Sachen in Capryse' Badezimmerschrank?"
Natürlich tue ich das, was ist denn das für eine Frage?
„Ich habe auf jeden Fall nachgedacht", fährt er fort. „Du hast ja von einem Kühlraum gesprochen, den Capryse erwähnt hat. Und wenn er hier an diesem Mittel arbeitet, dann braucht er auch ein Labor, selbst wenn es nur ein kleines ist."
Stirnrunzelnd folge ich ihm in das Treppenhaus.
„Das kann schon sein. Und jetzt?"
Jasper grinst. „Und jetzt überleg mal. Wir befinden uns in einem stillgelegten Hotel und das verfügt über so einen Ort. Sollte es zumindest, wenn es etwas auf sich gehalten hat."
Erst weiß ich nicht, worauf er hinausmöchte, aber dann geht mir ein Licht auf.
„Du meinst die Küche?"
„Nicht die neue, die oben eingebaut wurde. Die Großküche ganz unten."
„Es gibt in den unteren Stockwerken keine Küche", erwidere ich.
„Du meinst, du hast sie noch nicht gefunden. Der Eingang ist ein wenig versteckt, aber ich habe ihn in der letzten Nacht gefunden. Und dir zeige ich das jetzt, das ist wirklich krass."
Ich staune nicht schlecht, als ich tatsächlich vor einer unscheinbaren, mir bis jetzt völlig unbekannten Tür stehe. Schnell und leise hat mich Jasper durch den Empfangsraum mit den überdecken Möbeln und in den Nachbarraum geführt. Und hier, hinter einem weiteren weißen Tuch befindet sich nun der Eingang nach unten, wie er mir versichert.
Er atmet tief durch, dann sieht er zu mir und hebt seine Hand. Zwischen seinen Fingern entdecke ich einen Schlüssel.
„Trotz seiner augenscheinlichen Genialität ist der Mann äußerst unkreativ, wenn es darum geht, seine Schlüssel zu verstecken."
Er schnaubt und sieht dabei sogar fast ein wenig enttäuscht aus, dann schiebt er den Schlüssel in das Schloss und dreht ihn herum. Ein leises Klicken ertönt und die Tür schwingt auf. Ich trete einen Schritt vor, um einen Blick in den Gang zu werfen.
„Na", meine ich. „Das sieht ja ganz schön langweilig aus."
„Dafür kann Capryse nun wirklich nichts. Seine kleine Giftmischerei ist sowieso viel spannender."
Er setzt sich in Bewegung und betritt den Gang.
„Mach die Tür zu", fügt er noch hinzu und schnell tue ich es, um ihm dann zu folgen.
Der Gang ist nicht besonders lang. Die verstaubten Lampen verursachen zwar ein seltsames Dämmerlicht, aber schon bald biegen wir um eine Kurve – Jasper vollführt eine knappe Handbewegung und das Knistern seiner Mutation schwillt an – und kommen an den Türen eines Fahrstuhles an.
„Was hast du gemacht?", frage ich, woraufhin er an die Decke über den Türen deutet.
Stumm mustere ich die nun von uns gedrehte Kamera, während der junge Mann den Knopf drückt, der den Fahrstuhl zu uns holt.
„Fällt das nicht auf? Fellar ist doch nicht blöd, der checkt, dass du hier warst."
Er winkt ab. „Es gibt hier genug, die zu so etwas fähig sind."
Die Türen des Fahrstuhles rauschen auseinander und wir betreten ihn.
„Außerdem wollte ich ihn sowieso zur Rede stellen. Letztendlich ist es mir zwar egal, was die Leute alles tun, um ihre Ziele zu erreichen, aber die würde ich gerne kennen wollen. Einfach weil ich nicht gerne ausgenutzt werde."
Ich starre ihn an.
„Du weißt schon, dass der Kerl und jederzeit wieder ausliefern könnte? Er nutzt uns aus, wir müssen nur irgendwie die Balance finden, inwieweit wir das zulassen, ohne dass wir diesen Arschlöchern zu sehr helfen und möglichst aber auch so, dass wir es nicht zu sehr ausreizen."
Jaspers Mundwinkel zucken.
„Ach ja? Du erweckst mir nicht gerade den Eindruck, als würdest du dich darum wirklich kümmern. Hast du dich mit Capryse nicht sogar gezofft, als Terry und ich hier ankamen?"
Schnaubend verschränke ich meine Arme, als ein Ruck durch die Kabine geht.
„Der Typ hat einfach nur überreagiert. Ich habe doch keine Ahnung, was ihn da geritten hat."
Jasper schweigt und verlässt stattdessen den Fahrstuhl. Die Augen verdrehend folge ich ihm und trete wenige Yards weiter an ihm vorbei, während er eine dünne Tür aufhält.
Und mir bleibt die Spucke weg.
Vor uns erstreckt sich wirklich eine Küche. Nur dass diese in ein kleines Labor umfunktioniert wurde. Töpfe und sonstige Utensilien zum Kochen sind nicht zu sehen. Dafür stehen auf den Arbeitsflächen Mikroskope, Reagenzgläser und Brenner samt Gefäße. Und noch eine ganze Menge anderer Dinge, die ich jedoch nicht kenne.
„Das habe ich dann doch nicht erwartet", murmel ich leise und betrachte die beschriebenen Blätter und das erloschene Display, die auf dem nächsten Schrank liegen.
„Und das ist noch nicht einmal alles."
Jasper läuft durch den Raum als wäre er hier Zuhause. Er macht sich an dem Riegel einer Tür zu schaffen und zieht sie anschließend auf. Ein leises Zischen ertönt dabei.
„Der Kühlraum", werde ich knapp informiert und ich trete näher, um ebenfalls einen Blick reinzuwerfen.
Diesmal bin ich endgültig sprachlos. Links und rechts türmen sich schmale Regale auf. Hinter deren gläsernen Türen widerum wurden die verschiedensten Fläschchen, Schälchen und Gläschen aufgereiht, welche alle in ein grell blaues Licht getaucht werden.
Jasper tritt an ein schmales Fach heran, öffnet es und nimmt eines der Fläschchen heraus. Eine kleine Ampulle.
„Hier. Schau mal, was da steht." Er hält es mir vor die Augen und schweigend starre ich auf die Plakette.
Ath-54
39f001-jkS02
Conatus 09, Verweis auf Akte VH-52
Variante 007
„Das kenne ich doch", entfährt es mir und schnell lasse ich meine Hände in meinen Taschen verschwinden. Suchend grabe ich darin herum, während ich fortfahre:
„Diese Ampullen ... hat Fellar benutzt. Ich habe einmal eine gesehen, als ich bei ihm war und ich konnte sogar", triumphierend ziehe ich den Papierfetzen aus meiner Tasche, „eine Plakette abstauben."
Jasper lässt die Ampulle sinken und wirft nun einen Blick auf den Aufkleber in meiner Hand.
„Das ist ja ein und derselbe Stoff", stellt er verblüfft fest. „Nur der Code ist ein anderer. Und die Variante ist bei deinem leider nicht zu sehen."
Er sieht mich an.
„Du sagst, Capryse hat das Zeug benutzt. Wie genau meinst du das?", fragt er vorsichtig.
„Na ja. Er hat sich das Zeug gespritzt."
Jaspers Augen weiten sich. „Warte mal. Er experimentiert hier herum und führt mit diesem Zeug auch noch Selbstexperimente an sich durch?"
Ich starre nur auf die blassgelbe Flüssigkeit in der Ampulle.
Terry
Vorsichtig luge ich um die Ecke. Im Licht der Stadt, die den mittlerweile angebrochenen Abend erhellt, sodass es einem erscheint, als wäre immer noch helllichter Tag, faltet Takeshi einen Zettel auseinander. Mit zusammengekniffenen Lippen liest er den Brief. Die Mission an sich schien gut gelaufen zu sein, weshalb ich vermute, dass der Gesichtsausdruck des jungen Mannes dem Inhalt des Briefes zu verdanken ist.
Er hat sich auf einem der verstaubten Stühle des wohl ehemaligen Esszimmers niedergelassen, beugt sich über den Zettel und liest leise mit. Ich verstehe leider kein Wort. Aber ich bleibe stehen, gehe etwas in die Hocke und beobachte ihn. Solange bis er sich schließlich seufzend nach hinten lehnt, die Augen geschlossen.
„Oh Mann, Sidney", kommt es leise aus seinem Mund.
Wenn ich nur wüsste, was in dem Brief stand. Wie viel praktischer wäre das. Aber immerhin habe ich jetzt einen Namen!
Sidney, wiederhole ich leise in Gedanken. Vielleicht weiß Mr. Capryse ja, wer das ist. Und vielleicht ist ihm damit ja schon entscheidend weitergeholfen. Worin ich mir aber nicht so sicher bin ... ich beiße mir auf die Innenseite meiner Wange. Sollte ich ihm erzählen, dass Takeshi den Brief von seiner Tochter bekommen hat?
Was wenn ... ich ziehe meinen Kopf schnell zurück, als sich Takeshi erhebt. So leise wie möglich hechte ich auf den Gang und auf die Tür des Treppenhauses zu. Sie ist nur wenige Yards entfernt, weshalb ich sie mit ein paar Schritten erreiche. Ich ziehe sie auf, schlüpfe in das Treppenhaus und drücke sie so vorsichtig wie nur möglich in das Schloss. Schon allein das leise Klicken hallt verräterisch laut in meinen Ohren wider. Hoffentlich hat er das nicht gehört.
Aber dann drehe ich mich schon um und renne den Stufen nach oben, bis ich den nächsten Stock erreiche. Unten höre ich schon die Tür aufgehen und leise öffne ich auch die, vor der ich jetzt stehe. Ebenso vorsichtig schließe ich sie wieder, als ich das Treppenhaus verlasse, dann schlendere ich möglichst gelassen auf den Aufenthaltsraum zu.
„Wo kommst du denn her, Terry?"
Ich fahre zusammen, bleibe stehen und drehe mich um.
Es ist Jasper, der auf mich zukommt, die Hände lässig in seinen Hosentaschen versenkt. Stirnrunzelnd mustert er mich.
Ich zucke mit den Schultern. „Ich war in meinem Zimmer. Warum?"
„Du tust so geheimnissvoll", meint er nur, als er mich erreicht und wir gehen zusammen weiter.
„Ich wüsste nicht, warum ich so tun sollte."
„Siehst du? Ich nämlich auch nicht."
Seine Worte hängen irgendwie seltsam in der Luft, weshalb jetzt ich frage:
„Und woher kommst du?"
„Ich war bei Asura. Und da es dann schon wieder Essen gibt, wollte ich mich noch ein wenig in den Aufenthaltsraum setzen."
„Bei Asura also, hm?", necke ich ihn augenzwinkernd, was ihn zu einem Knurren veranlasst.
„Denk, was du willst, aber verschone mich damit!"
„Geht klar, Sir!", erwidere ich nur grinsend und wir erreichen das Ende des Flures.
Die Stimmen der Anderen werden lauter, Lachen ertönt, dann betreten wir auch schon den großen Raum. Jasper nickt mir noch einmal knapp zu, dann verschwindet er.
Tief atme ich durch und schaue noch einmal zurück. Takeshi hat das Treppenhaus nicht hier verlassen. Wer weiß, wo er hingegangen ist.
Das macht aber nichts, denn nur zwei, drei Stunden nach dem Abendessen stehe ich vor Mr. Capryse' Tür und klopfe einmal an. Tief atme ich durch. Ich weiß immer noch nicht, ob ich ihm auch von seiner Tochter erzählen soll. Was, wenn das wirklich zu viel für ihn ist?
Verrat von einem Menschen, den man gerettet hat, ist eine Sache. Aber wenn dieser Mensch auch noch ...
Die Tür öffnet sich und auf Mr. Capryse' Gesicht zeichnet sich ein dünnes Lächeln ab.
„Terry" begrüßt er mich. „Was verschafft mir die Ehre?"
„Ich ... also ich wollte nur kurz mit Ihnen reden."
„Aber selbstverständlich. Komm doch herein, mein Lieber."
Mr. Capryse tritt ein wenig zur Seite, damit ich den Raum betreten kann, dann schließt er die Tür.
„Also, was möchtest du mir mitteilen?"
Ich drehe mich zu dem Mann, der mich interessiert mustert. Ich verschränke meine Hände hinter dem Rücken.
„Na ja, Takeshi ... er hat heute einen ... Brief bekommen."
Mr. Capryse schweigt und sieht mich weiterhin an. So, als ob er in meinen Augen lesen wollte, ob das stimmt.
„Von wem?", fragt er schließlich.
„Ich glaube, von einem Sidney. Mehr weiß ich aber nicht."
„Sidney", wiederholt der Mann leise, dann wischt er sich über die Augen. „Oh, Takeshi."
„Sie ... Sie wissen, wer das ist?"
Er nickt. „Leider ja. Ein Mitgefangener Takeshis, welcher bei der Flucht von Vincent Holts Komplizen weggetragen wurde. Wie es aussieht, ist er wohl noch immer bei ihnen."
Mr. Capryse geht seufzend an mir vorüber und stellt sich vor die große Fensterscheibe. Gedankenverloren starrt er nach draußen, während ich mit einem mulmigen Gefühl auf meine Finger blicke. Eine düstere Stille herrscht kurz über uns, dann sehe ich auf. Eben dreht er sich stirnrunzelnd um.
„Wie ... hat er denn Kontakt zu Takeshi aufgebaut? Weißt du zufällig, wie er den Brief erhalten hat? Hat er sich nach draußen geschlichen oder ... oder ist da noch jemand?", fügt er etwas leiser hinzu. Jetzt sieht er mir wieder offen ins Gesicht.
Und ich. Ich atme tief durch. Er merkt, wenn ich ihn anlüge. Auf jeden Fall.
„Ja, schon", murmel ich und weiche seinem Blick aus. „Da ist noch jemand, ich weiß nur nicht ... ich weiß nur nicht, ob Sie das wirklich hören wollen."
„Terry." Mit nur wenigen Schritten ist Mr. Capryse bei mir und legt mir mit ernstem Gesichtsausdruck beide Hände auf die Schultern. Er beugt sich etwas herunter.
„Ich möchte euch beschützen. Vor Vincent Holt und seinen Rachegelüsten. Dafür muss ich das jetzt aber wissen."
Ich schlucke einmal und er fügt hinzu:
„Wer weiß, vielleicht ist ihm sogar schon bekannt, wo wir uns aufhalten. Das könnte für uns alle gefährlich werden. Für jeden Einzelnen, sogar für Takeshi. Glaubst du, der Mann, der sich an seiner eigenen Familie vergeht, kümmert sich um scheinbare Verbündete?"
Langsam schüttel ich mit dem Kopf, dann antworte ich ganz leise:
„Es ist ... es ist Ihre Tochter, Mr. Capryse. Sie hat Takeshi den Brief gegeben."
Von Mr. Capryse kommt in der ersten Sekunde kein Wort. Nur seine dünnen Finger schließen sich ein wenig enger um meine Schultern. Dann lässt er mich aber abrupt los. Als hätte er sich an mir verbrannt.
„Nein!", stößt er scharf hervor. „Du lügst!"
Mein Kopf fährt hoch. „Was? Aber ich sage die Wahr-"
„Ich sagte nein!" Er deutet mit einem Finger auf mich. „Sei still! Ich will kein Wort mehr hören, hast du mich verstanden?"
Fassungslos erwidere ich seinen Blick. Ich bringe kein weiteres Wort mehr raus. Würde ich auch nicht, wenn er es mir nicht verboten hätte. Es war wirklich ein Fehler, ihm das zu sagen. Sein Finger beginnt zu beben und ich denke schon, jetzt rastet er komplett aus.
Dann beben jedoch auch seine Lippen, ein Muskel in seinem Gesicht zuckt und er dreht sich von mir weg. Stockend läuft er zu seinem Schreibtisch und umfasst die Lehne des davorstehenden Stuhles. Seine Fingerknöchel treten weiß hervor, als er sich vorüberbeugt.
„Du lügst!", stößt er wieder hervor. „Sag mir, dass du lügst!"
Ich trete einen Schritt auf ihn zu und bleibe sofort wieder stehen.
„Aber ... aber sie hat ihm den Brief doch gegeben", erwidere ich hilflos. „Ich sollte es Ihnen doch sagen."
Als er nun schwankt, laufe ich doch schnell auf ihm zu und helfe ihm, sich auf den Stuhl niederzulassen. Rote Flecken zieren sein Gesicht, als er zu mir aufsieht.
„Das kann nicht ... nicht auch noch ..." Er atmet einmal tief durch. „Das kann nicht wahr sein!", sagt er schließlich, obwohl schon seine Stimmlage beweist, dass er mir glaubt.
Mr. Capryse schließt seine Augen und lehnt sich auf dem Stuhl zurück. Die blassen Hände hat er jetzt auf seine Oberschenkel gelegt. Der Stoff der Hose zerknittert unter ihnen.
So sitzt er da. Eine Sekunde. Zwei Sekunden. Er regt sich nicht und ich stehe einfach nur geknickt neben ihm. Warum habe ich nicht einfach meine Klappe gehalten?
Ich hätte sagen können, dass ich nicht weiß, wer Takeshi den Brief gebracht hat. Ich hätte sagen können, er hätte das Haus selbst verlassen und ihn wahrscheinlich irgendwo abgeholt. Von irgendeinem Treffpunkt.
„Was mache ich jetzt?"
Als ich nicht antworte, öffnet Mr. Capryse seine Augen wieder. Zum ersten Mal scheint er mich wieder richtig anzusehen und langsam erhebt er sich.
„Es tut mir leid, Terry."
Ich stutze. „Wie bitte?"
Er lächelt. Es ist ein bitteres Lächeln. Nur ein kurzes Aufblitzen.
„Es tut mir leid, dass ich so harsch zu dir war, verzeih mir das bitte. Ich war einfach nur ... ach was, ich bin absolut fassungslos. Niemals hätte ich mir das vorstellen können. Das ist doch ... warum?"
Ich zögere.
„Natürlich nehme ich Ihnen das nicht übel. Aber ... na ja. Ich weiß auch nicht, was Sie da jetzt machen könnten."
Die Brust des Mannes hebt sich.
„Ich kann Takeshi doch unmöglich wieder zurückschicken. Und Alice ..." Er verzieht sein Gesicht. „Wenn das herauskommt, dann kann ich rein gar nichts ausrichten."
Er verfällt in ein tiefes Schweigen, dann sieht er mich fragend an.
„Würdest du Takeshi vergeben und ihn schützen, wenn er es bereuen und uns helfen würde, Vincent Holt zu finden?"
„Ich ... also ja. Bestimmt. Vielleicht wollte er Ihnen ja gar nicht schaden, vielleicht war ihm das gar nicht bewusst", füge ich leise hinzu und Mr. Capryse legt nachdenklich seinen Kopf schief.
„Vielleicht, sagst du."
Ich nicke.
„Pass auf." Wieder beugt sich Mr. Capryse ein wenig nach unten und mustert mich eindringlich. Er tut so, als hätte er sich wieder gefasst, aber noch immer zittern seine Finger und die Flecken in seinem Gesicht sind nicht weniger geworden.
„Behalte das für dich, ja? Erzähle niemandem davon und gehe gleich zu Marcos' Zimmer. Sage ihm, dass ich ihn sprechen muss. Kannst du das für mich tun?"
Vincent
Baff blicke ich Harriet entgegen. Es ist ungewöhnlich früh und trotzdem ist sie hier, zieht den Riemen ihrer Tasche ein wenig fester und erwidert eisern meinen Blick. Ich merke, wie sich eine Falte auf meine Stirn schleicht.
„Ist alles in Ordnung?", rufe ich ihr entgegen, aber sie schiebt sich erst an Nora vorbei, wehrt Einstein ab, der schwanzwedelnd an ihr hochspringen will, dann erst erreicht sie mich.
„Komm mit", raunt sie mir zu, bevor ich erneut den Mund aufmachen kann, dann macht sie bereits auf dem Absatz kehrt.
Etwas verunsichert schaue ich mich im Frühstücksraum um, dann folge ich ihr jedoch schnell. Bei den Rolltreppen hole ich sie ein und umschließe ihren Arm.
„Jetzt warte doch mal! Was ist denn los?"
„Wo ist Hugh?", ist alles, was kommt. „Das solltet ihr beide hören."
Jetzt macht sich doch Sorge in mir breit. Was ist passiert?
„Was sollten wir beide hören?"
Als sie mich jedoch nur ungeduldig ansieht, seufze ich einmal.
„In der Küche. Unten."
„Na, dann los."
Sie wendet sich nach links und macht sich an den Abstieg. Diesmal lasse ich mich nicht abschütteln. Ich versuche zwar, etwas aus ihr herauszuholen, aber egal, was ich frage, sie vertröstet mich. Will nichts zwei Mal erzählen müssen.
Genervt sehe ich sie an, aber es hilft nichts. Den ganzen Weg über bekomme ich nichts aus ihr raus.
Und als wir endlich die Küche erreichen und Hugh, der gerade an der Anrichte steht, überrascht aufsieht, platze ich fast vor Ungeduld.
„Harriet, so früh schon hier? Willst du auch einen Kaffee?", begrüßt er sie, nickt mir noch zu, dann dreht er sich wieder der Kaffeemaschine zu.
„Es gibt Neuigkeiten. Schlechte."
Hugh hält inne und dreht sich nun vollends zu uns.
„Geht es um Quiles?", stoße ich hervor und bereits im nächsten Augenblick fährt mir ein Schauer über den Rücken.
„Oder ... oder um Alice?"
Harriet schüttelt nur mit dem Kopf und stellt ihre Tasche neben dem nächsten Stuhl ab.
„Nein, nichts davon. Es geht um uns alle."
„Uns alle?", echot Hugh. „Wie meinst du das?"
Harriet atmet tief durch.
„In der letzten Nacht wurde die Mauer beschossen. Im Norden. Niemand weiß, wer oder was dafür verantwortlich ist, aber nahezu alle Verteidigungssysteme des Abschnittes sind ausgefallen und zwei der Flieger konnten durchbrechen. Einer wurde nach wenigen Meilen abgeschossen, der andere ist irgendwo in den Wäldern runtergekommen. Der Pilot ist dabei aber verschwunden. - Diesen Angriff konnte auch der Ehrwürdige Vater nicht verheimlichen."
Wir starren sie an, unfähig etwas zu sagen. Das nutzt sie und fügt hinzu:
„Das war erst der Anfang, das wird jetzt richtig übel. Ihr müsst euch mit Quiles in Verbindung setzen. Irgendwie. Ich bezweifle, dass eurer bisheriger Notfallplan ausreichend ist."
Ich realisiere erst gar nicht, was sie da sagt, aber dann stammel ich:
„Was ... was sollen wir denn sonst noch machen, um Vorbereitungen zu treffen? Wir haben uns so weit nach unten zurückgezogen wie nur möglich, wir haben den Tunnel und den Weg zu Quiles' Versteck, welches er uns in einem Notfall zur Verfügung stellt."
Harriet verschränkt ihre Arme.
„Das wird nicht ausreichen, Vincent. Ihr befindet euch hier in der Hauptstadt, in der Metropole, die als Erstes anfixiert wird. Es wird nicht lange dauern und auf den Straßen ist nur noch das Militär zu sehen. Sterling wird Vorbereitungen für einen eventuellen ... Bombenangriff treffen und wer weiß, ob da nicht irgendjemandem die Kaufhäuser einfallen wird."
Sie hatte kurz gestockt, sich jedoch schnell wieder gefangen.
„Wenn ihr fliehen müsst, dann muss das schnell gehen. Schneller."
„Und was schlägst du vor?", schaltet sich Hugh ein.
„Ihr müsst euren Sponsor einfacher erreichen können. Irgendwie ... muss es sich einrichten lassen, dass er euch bei einer Evakuierung so schnell wie nur möglich unter die Arme greifen kann, damit ihr den Weg bis in dieses Versteck alle wohlbehalten übersteht. Das Risiko muss wenigstens etwas verringert werden."
Hugh starrt vor sich hin auf den Boden. Ich selbst, mir geht das gerade alles viel zu schnell, gehe zu dem nächsten Stuhl und lasse mich darauf nieder. Das ist eine Katastrophe. Eine riesige Katastrophe!
Wenn hier wirklich jederzeit jemand aufschlagen könnte, wäre es doch am besten, wir sammeln noch heute das Nötigste vor dem Tunnel, setzen uns mit Quiles in Verbindung ... und verschwinden.
Er muss uns helfen, immerhin haben wir einen Deal. Er braucht uns, wir brauchen ihn! Er kann uns also nicht im Stich lassen, sondern muss für uns da sein, wenn wir den Tunnel verlassen.
Den Tunnel.
Mir wird schwindelig. Jeden einzelnen Tag habe ich gehofft, dass ich den Sub-Center nicht durch ihn verlassen muss. Durch diese elendig dunkle und enge Röhre.
Als Hugh mich anstößt, sehe ich auf.
„Was?"
„Ich habe gefragt, wie wir jetzt vorgehen wollen. Was denkst du?"
Ich schnaube. „Dass das hier alles zum Kotzen ist." Ich wische mir einmal über die Augen, dann fahre ich brummend fort:
„Ich würde sagen, wir setzen uns gleich mit Quiles in Kontakt. Jetzt, wo die Lage immer brenzliger wird, wird er unsere Unterstützung sowieso bald in Anspruch nehmen. Da können wir auch gleich zum Treffpunkt gehen und irgendein Kommunikationsmittel fordern, das auch ganz unten nicht gleich den Geist aufgibt und mit dem wir ihn so zeitnah wie nur möglich erreichen."
Knapp nickt Hugh. „Und wir sollten vielleicht eine Evakuierung vorbereiten. So, dass unter den anderen keine Panik entsteht. Es sind ja nur Sicherheitsvorkehrungen und durchgesprochen haben wir das Thema schon oft genug. Hoffentlich."
„Was sollen wir auch sonst machen?", erwidere ich leise und lasse meinen Finger auf der schartigen Tischplatte nieder, um den Maserungen machzufahren.
Ich will zurück. Einfach nur zurück in meine Welt und wenn es das Gefängnis ist, in welches man mich wieder sperrt. Eingesperrt bin ich sowieso, da kann es doch auch Zuhause sein. Wo ich mich nicht mit all dieser Scheiße herumschlagen muss.
„Nun gut", höre ich Harriet sagen. „So viel erst einmal dazu. Wenn sich etwas ändert und ich etwas Neues erfahre – die Nachrichtensender berichten durchgehend über den Vorfall – lasse ich es euch wissen.
Andererseits würde ich dann auch Alice nicht mehr sehen. Wären also all diese Probleme und bitteren Umstände nicht ...
Ich nicke Harriet knapp zu. „Klingt gut."
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