Evening star
„Ist das Ihr Ernst?"
Ich schaue an mir herab, dann zweifelnd zu ihm auf. Er ist fast zwei Köpfe größer als ich und als er mir auf den Rücken schlägt, stolpere ich fast gegen den nächsten Mülleimer.
„Natürlich. Jeder is' mal knapp bei Kasse. Und solange man in diesen Situationen seine Mittel vernünftig einsetzt, spendiere ich auch gerne mal 'n Bier."
„Und Kleidung", füge ich murmelnd hinzu, aber er nickt nur.
„Und Kleidung."
Ich werfe einen vorsichtigen Blick auf seine mit Nieten besetzte Lederjacke, bei der trotzdem noch das Brusthaar hervorquillt. Oder ist es sein Barthaar?
Ich beschließe, mich damit zu begnügen, dass er sich wenigstens etwas übergezogen hat.
„Da wär'n wir", murmelt George Stallard – wie er heißt – und drückt mich auf den nächsten Stuhl zu. „Bin gleich wieder da."
Damit stapft er durch die Menschenmassen auf einen der Verkausstände zu bis ich ihn aus den Augen verliere. Nervös sehe ich mich um. Soll ich hier warten oder wäre es nicht vielleicht doch besser, von hier zu verschwinden?
Jederzeit könnte hier die Hölle losbrechen. Ich würde wahrscheinlich gar nicht rechtzeitig reagieren können. Ich spanne mich ein wenig an, als zwei junge Männer in schwarzer Kleidung vorbeistiefeln.
Tief atme ich durch, ich muss mich beruhigen!
„Hier. Das hilft immer."
Stallard drückt mir eine Dose in die Hand und lässt sich neben mich auf einen der Stühle fallen. Ich denke schon, er bricht gleich durch, aber noch hält das klapprige Möbelstück.
„Danke", murmel ich und betrachte die Dose in meiner Hand. Er hat ja recht. Ich habe Durst.
Mit einem Zischen klappen wir die Verschlüsse der Büchsen hoch und setzen sie an unsere Lippen. Stallard hatte definitiv recht. Das Getränk, welches meiner Kehle hinunterfließt, scheint meine Lebensgeister wieder etwas mehr zu erfrischen.
„Hm", brummt Stallard. „Wusste, dass dir das gut tut."
„Ja, ich ... vielen Dank, Sir."
Der Bär winkt ab. „Lass das Sir. So viel älter kann ich gar nicht sein."
„Ich bin 28 Jahre alt."
Er starrt mich an. „Nun gut. Vielleicht ja doch."
Unwillkürlich muss ich lächeln. Ich kann es kaum glauben.
„Sehe ich so alt aus?"
Er mustert mich. „Jetzt, wo du's sagst – ne, eigentlich nicht." Er nickt. „Deine Augen. Die sind's. Haben was Reifes an sich."
„Etwas Reifes?", wiederhole ich langsam.
„Haben sicher viel gesehen."
Ich senke meinen Blick. „Hm. Kann schon sein."
Stallards Stuhl knarrt, als er sich ein wenig weiter in diesen zurücklehnt und mit einem seligen Gesichtsausdruck die Dose an seine Lippen bringt. Es ist fast schon beeindruckend, wie schnell er sie geleert hat.
„Also", fährt er dann fort. „Liegt's an den neuen Drohnen?"
Ich ziehe meine Stirn in Falten. „Woran liegt was?"
„Dass du pleite bist. Warst du vorher beim Postamt? Die haben doch jetzt diese neuen Drohnen, oder?
„Ich ... das weiß ich nicht. Ich war nicht bei der Post."
„Hm. Haben viele ihre Arbeitsplätze verloren. Und das während den jetzigen Umständen."
„Sie meinen den Krieg?", hake ich vorsichtig nach.
„Den Krieg?" Er lacht auf. „Der ist doch schon so lange am Laufen, dass man davon in den großen Städten kaum noch etwas hört, wenn man es ignoriert. Nein, ich meine die Wahl des Adjutors unseres ehrwürdigen Vaters."
Adjutor?
„Die Wahl des – Adjutors?"
Stirnrunzelnd nickt er. „Natürlich, im Frühjahr. Hat zwar nicht viel zu melden, ist aber wohl einer der Wenigen, auf deren Rat unser ehrwürdiger Vater etwas gibt. Der neue Kandidat könnte ein wenig frischen Wind reinbringen. Der jetzige Adjutor ..." Stallard sieht sich um, bevor er seine Stimme senkt. „... ist ziemlich altmodisch."
Schnell nicke ich. „Sehe ich genauso."
„Auf jeden Fall wird unser ehrwürdiger Vater dem neuen Kandidaten nicht abgeneigt sein."
Ich nicke nur wieder und verkneife mir die Frage, wann und ob dieser ach so große, ehrwürdige Vater auch gewählt wird.
„Na dann. Hast du noch Hunger?"
Ich öffne meinen Mund und schließe ihn wieder. „Sie wollen mir ernsthaft ..."
Eine plötzliche Unruhe auf den Rolltreppen lässt mich stocken. Ich drehe meinen Kopf und sehe mehrere Leute zur Seite weichen, als fünf uniformierte, bis an die Zähne bewaffnete Gestalten auftauchen. Es erfordert meine ganze Selbstbeherrschung, nicht aufzuspringen und die Flucht zu ergreifen. Sie haben mich noch nicht gesehen, ruhig bleiben! Ohne auch nur innezuhalten, laufen sie im Gleichschritt auf die nächste Rolltreppe zu. Erst jetzt erhebe ich mich langsam. Ich muss hier raus!
Es ist gar keine Frage, dass sich die Kerle auch unten aufgestellt haben.
„Das ist es also."
Ich fahre zu Stallard herum, der mich mit nachdenklicher Miene betrachtet.
„Ich habe nichts getan!", stoße ich hervor. Verrät er mich, dann war's das.
„Warum jagen dich dann die Sicherheitsbeamten?" Er steht ebenfalls auf, stürzt sich aber nicht auf mich. Er starrt mich einfach nur an.
Ich drehe mich einmal zu den Rolltreppen, dann wieder zu Stallard. Ich sollte einfach rennen.
„Das ist nicht dieses Sicherheitsamt. Also ... eigentlich ist es der SEA, vor dem ich davonlaufe, aber ich ... ich bin wirklich nicht ..."
„Siehst du die Frau dahinten?"
Erst denke ich, er will mich einfach nur ablenken, aber das hätte er gar nicht nötig. Deshalb drehe ich mich um und entdecke die Person, auf die er deutet.
„Das ist ja ... Vesper." Ich erkenne die Frau, welche vor mir auf der Rolltreppe gestanden hatte. Jetzt sieht sie nur stirnrunzelnd nach oben um und schultert eine lederne Handtasche.
„Du kennst sie? Na – umso besser."
Ich zucke zusammen, als mir Stallard sechs, sieben Münzen in die Hand drückt.
„Gib ihr das", knurrt er. „Diese Schlampen kennen immer einen Weg, vor allem, wenn sie Bares in den Rachen geworfen bekommen."
„Ich ... warum tun Sie das?" Ungläubig starre ich auf das Geld. Es hätte ihn nichts gekostet, mich zu verraten. Weshalb ...
„Frag einfach nicht und gib dich zufrieden. Und wenn du dich beeilst, erwischst du sie auch noch."
„Danke", bringe ich atemlos hervor. Dann drehe ich mich um und laufe Vesper hinterher, so schnell, dass es gerade so keine Aufmerksamkeit erregt.
Sie ist schon auf dem halben Weg nach unten und ich dränge mich an die noch immer verwirrten Leute vorbei.
Drei Ellenbogen in meiner Seite später habe ich sie erreicht. Das Geld habe ich mit meiner Hand der ganzen Zeit über fest umschlossen.
„Hey."
Vesper dreht ihren Kopf und ein Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus.
„Du bist das. Hast du es dir noch einmal überlegt?"
„So ähnlich. Ja."
„Na gut. Meine Schicht ist zwar schon in einer Viertelstunde vorbei, aber ..."
„Na ja, Sie ..." Ich beiße mir auf die Lippen.
Die kennen immer einen Weg.
„Ich wollte Sie eigentlich nach einem Weg raus fragen." Ich halte ihr die Münzen hin.
Vesper zieht eine ihrer glänzenden Augenbrauen nach oben, dann nimmt sie das Geld jedoch an.
„Da ich annehme, dass ich empfohlen worden bin, werde ich nicht weiter nachfragen. Schlecht für's Geschäft."
Damit packt sie mich am Handgelenk, was mir ein leises Zischen entlockt, und zieht mich den restlichen Weg der Rolltreppe nach unten.
Ich hatte recht. Leider. Die Uniformierten stehen nicht nur auf der Straße, sondern auch vor dem Eingang. Jeder, der das Einkaufszentrum verlassen will, wird vorher gründlich in Augenschein genommen. Das einzig Gute daran: Man verliert bei all den aufgewühlten Menschen leicht den Überblick.
Ich lasse mich von Vesper von dem Eingang wegziehen und schließe schnell zu ihr auf.
„Nehmen wir einen Hinterausgang?"
„Wir nehmen mein Auto", antwortet sie nur und biegt in einen Nebengang ein, welcher zwischen zwischen einem Geschäft mit hässlichem Nippes und einem Juwelier liegt.
Ihr Auto. Damit könnte ich eine gute Strecke zwischen mich und den Sicherheitsbeamten bringen – ganz zu schweigen von dem SEA.
Der Gang hier ist fast menschenleer. Nur ab und zu begegnen wir Männern und Frauen in knallgelben oder roten
T-Shirts – mit Kappen in der jeweils selben Farbe –, welche aufgemotzte Transportwagen voller Kartons vor sich herschieben.
„Pakete können die Dinger eben noch nicht ausliefern", murmelt Vesper. Ob sie dabei mit mir spricht oder ob das eher eine Bemerkung an sich selbst war, kann ich nicht sagen.
Als wir den Parkplatz endlich erreichen und uns die laue Nachtluft entgegenschlägt, sehe ich mich schnell noch einmal um und lasse dabei das Dach nicht außer Acht, um nicht plötzlich betäubende oder sogar scharfe Munition abzubekommen.
„Komm schon, Süßer, da ist es. Steig hinten ein."
Ich folge Vesper zu einem roten, glänzenden Auto, hinter dessen Steuer sie sich setzt. Ich folge ihrer Aufforderung und drücke mich auf die Rückbank.
„Ich bin doch jetzt draußen. Warum fahren Sie mich noch?"
„Hast du mir nicht Geld gegeben, damit ich dir den Weg raus zeige?", fragt sie und startet den Motor. Ihre Handtasche hat sie auf den Beifahrersitz geworfen. „Das Gelände des Gehry-Centrum zählt."
Fast sanft fährt der Wagen los. Er kurvt an den anderen vorbei und verlässt den Parkplatz.
Mein Herz schlägt mir mittlerweile bis zum Hals und mit den Fingern nervös auf meinen Oberschenkel trommelnd starre ich aus dem Wagenfenster. Sobald einer der Uniformierten von dem Sicherheitsamt oder sogar des SEA auftaucht, muss ich mich möglichst weit vorbeugen. Ich glaube, ich würde es nicht aushalten, jetzt doch noch aufgehalten zu werden.
Der Wagen stoppt kurz, als er die Hauptstraße erreicht, dann fädelt er sich in den Verkehr ein. Das Einkaufszentrum liegt nun rechts hinter uns.
„Also, Süßer", sagt Vesper und lehnt sich zurück. Mit ihrer rechten Hand kramt sie in ihrer Handtasche und zieht eine Zigarettenschachtel hervor.
„Wo soll ich dich hinfahren?"
Ich starre sie durch den Rückspiegel an. Sie erwidert meinen Blick aber nicht, sondern achtet nur auf den Verkehr. Eine ihrer hellen Strähnen fällt ihr über die Stirn.
„Sie fahren mich wirklich ... überall hin?"
„Wenn es nicht das andere Ende der Stadt ist", gibt sie zurück, drückt eine der Zigaretten auf einen kleinen Knopf in der Mittelkonsole des Wagens und schiebt sie sich kurz darauf zwischen die Lippen.
„Na ja. Eigentlich reicht ..."
„Scheiße!", flucht sie da und tritt auf die Bremse.
Ich erstarre, als ich den Polizisten mit erhobener Hand vor dem Wagen stehen sehe.
„Duck dich, Süßer", zischt Vesper, als er Anstalten macht, zum Fenster zu kommen.
Die Aufforderung habe ich gar nicht gebraucht. Ich sitze schon im Fußraum und presse mich gegen die Innenseite der Tür. Dann klopft es an der Fensterscheibe und Vesper lässt sie herunter. Sofort schlägt der bisher gedämpfte Lärm der Autos, Werbeanzeigen und Menschen zu uns hinein.
„N' Abend, Sir. Was gibt's denn? Ich hab's heute ziemlich eilig, wissen Sie? Es sei denn, Sie haben heute früh Feierabend, dann mache ich eine Ausnahme."
Ein Husten antwortet ihr. „Halten Sie mir dieses verdammte Ding nicht ins Gesicht!"
„Hey, was sollte denn ..."
„Sie kommen doch vom Gehry-Centrum, oder? Wir haben Sie das Gelände verlassen sehen."
„Ich arbeite dort. Na und?"
„Wir suchen nach einem Flüchtigen. Er hat sich dort aufgehalten, ist bis jetzt aber nicht auffindbar."
„Was habe ich damit zu ..."
„Sie verschätzen die Lage", zischt der Mann warnend. „Er ist gefährlich. Wir müssen jede seiner Fluchtmöglichkeiten überprüfen. Öffnen Sie bitte das hintere Fenster."
Den Atem anhaltend lege ich meinen Kopf in den Nacken. Wenn sie das tatsächlich tut ... fast lautlos gleitet die Scheibe nach unten.
Sofort spanne ich mich an. Verdammt!
Knallende Schritte auf dem Asphalt nähern sich. Dann verdunkelt ein Schatten die hinteren Sitze, als sich ein Mann mit großen, abstehenden Ohren und einer kleinen Nase zu mir hineinbeugt. Als er mich sieht, weiten sich seine Augen und ein Ausdruck der Überraschung macht sich auf seinem Gesicht breit.
Aber ich schnelle schon hoch, umfasse seinen Hals und Nacken und ziehe ihn so in das Wageninnere, dass er zwar immer noch zur Hälfte draußen hängt, aber keine Chance hat, zu entkommen.
„Fahren Sie!", rufe ich laut und obwohl Vesper offensichtlich schockiert von meiner Aktion ist, geht ein Ruck durch den Wagen, als er nach vorne zischt.
Die olivfarbene Haut des Mannes hat sich schnell rot verfärbt und verbissen versucht er, sich zu befreien. Vesper fährt jedoch einen abrupten Schlenker, sodass er mir fast aus dem Griff rutscht. Ein fast animalisches Knurren verlässt seine Kehle. Und dann taucht seine Hand im Wageninneren auf. Sie umklammert eine Pistole und schnell löse ich meine Hand an seinem Hals, um ihn abzuwehren. Kurz ringen wir miteinander, während mir bei Vespers Fahrstil fast der Magen umgedreht wird – dann löst sich ein Schuss.
Vesper schreit auf, aber ein ruckartiger Blick nach vorn versichert mir, dass ihr nichts geschehen ist. Dann fällt dem Kerl endlich die Waffe aus der Hand und ich lasse ihn los. Kurz hört man ihn noch schreien, dann sind wir ihn los.
„Fahren Sie, schnell!"
„Ist er weg?", stößt sie fast panisch hervor.
„Ja." Ich will mich aufstützen, um mich wieder auf die Sitzbank zu setzen, als ich wieder zurücksacke. Keuchend drücke ich die Hand auf meine Seite, in welcher sich ein gleißender Schmerz ausbreitet. Tief atme ich ein, als sich meine Finger rot färben.
„Ist alles in Ordnung?", fragt Vesper laut. Sie scheint langsam wieder zu Atem zu kommen.
„Ja", antworte ich. „Alles gut, setzen Sie mich in einer der Seitenstraßen ab und fahren Sie weiter."
„Sie wissen, dass ich dir geholfen habe, Süßer", murmelt sie.
„Sagen Sie einfach, ich hätte Sie dazu gezwungen", presse ich unter zusammengebissenen Zähnen hervor, als ich mich nun doch irgendwie auf den Rücksitz hieve. Für einen Moment wird mir schwindelig.
„Also gut", willigt sie schließlich ein. Verbissen starrt sie auf die Straße.
„Das ist nicht wahr."
Ihr Blick flackert in den Rückspiegel und wieder zurück. „Was?"
„Ich bin nicht ... gefährlich. Also doch, vielleicht schon, aber ... hier habe ich mir nichts zuschulden kommen lassen. Ich tue Ihnen nichts."
Sie nickt. „Gut zu wissen."
Als wir endlich eine leere Seitenstraße erreichen, hält Vesper an. Kurz noch bleibe ich sitzen, um mich für das Aufstehen zu wappnen, dann öffne ich die Wagentür. Die Waffe des Polizisten halte ich fest umklammert.
„Vielen Dank, Vesper", murmel ich und ziehe mich auf die halbdunkle Straße. „Das war wirklich ... ich schulde Ihnen was."
Sie lässt tatsächlich das Fenster herab und lehnt sich heraus. Grimmig sieht sie mich an.
„Normalerweise bin ich bei dem Sicherheitsamt vorsichtig, aber der Kerl hat meine Zigarette auf die Straße geworfen."
Ich lächle. „Also schulde ich Ihnen eine."
Sie nickt, verzieht dann aber das Gesicht.
„Was ist passiert?"
Ihr Blick ist auf das Blut gefallen und schnell winke ich ab.
„Das ist nichts. Nur ein Kratzer."
„Du wurdest getroffen", stellt sie aber nur stirnrunzelnd fest.
Ich greife an meine Nasenwurzel.
„Es ist wirklich nichts weiter, Vesper. Ich komme schon klar." Ermutigend lächel ich. „Fahren Sie lieber weiter, die sind sicher gleich hier."
„Aber ..."
„Bitte. Ich komme klar, versprochen. Und Sie haben Ihre Aufgabe ja auch mehr als nur erfüllt."
Zweifelnd sieht sie mich an. Doch dann seufzt sie und umklammert das Lenkrad.
„Also gut, Süßer. Pass auf dich auf!"
„Zu Befehl", verspreche ich grinsend.
Sie brummt nur, schließt das Fenster und rauscht davon. Kurz sehe ich ihr noch hinterher, dann drehe ich die Pistole in meinen Händen. Ein rotes Leuchten an der Unterseite erregt meine Aufmerksamkeit.
Sofort muss ich an meinen ersten Tag an diesem verdammten Ort denken. Die Waffe damals hatte ebenfalls solch eine Markierung. Ein Verdacht keimt in mir auf.
Das war sicher der Grund dafür gewesen, dass ich die Waffe nicht hatte abfeuern können. Es ist eigentlich ziemlich clever, eine Sperre einzubauen, sodass nur der Besitzer die Waffe benutzen kann. Und solch eine, die Waffe eines Polizisten, kann man bestimmt auch orten. Kurzentschlossen werfe ich sie von mir und setze den ersten Schritt nach vorn. Meine Knie knicken fast ein, aber ich kann mich oben halten. Vorsichtig setze ich meinen Weg fort. Dabei presse ich mich aber so nah wie möglich an die Hausfassaden, was sich ein paar Minuten später als kluge Entscheidung herausstellt.
Eine Sirene heult auf und die Seitenstraße wird erhellt. Schnell ducke ich mich hinter einem Müllcontainer, dessen Farbe schon angefangen hat abzublättern und halte den Atem an. Nur nicht bewegen!
Aber der Wagen fährt vorüber und ich kann weitergehen. Wenn man das als Gehen bezeichnen kann. Mit jedem weiteren Schritt brennt meine Seite mehr und mir wird immer übler. Mehrere Male muss ich innehalten und meinen Mageninhalt zurückhalten. Viel ist das zwar nicht, aber nach jedem Aufstoßen schmecke ich erneut das Bier, welches mir George Stallard spendiert hat.
Der Streifschuss – wie ich anfangs vermutet habe – ist scheinbar doch ein wenig mehr. Dem Blut nach zu urteilen, scheint die Kugel in der Tat eine beträchtliche Wunde in meine Haut gerissen zu haben. Ich hoffe, dass es einfach nur schlimmer aussieht, als es wirklich ist und dass es nicht mehr lange so sehr blutet.
Ich biege in eine weitere Seitenstraße ein. Irgendwie muss ich einen Weg hier raus finden. Früher oder später finden sie mich sonst noch.
Ich stolpere zurück, als vor mir ein Schatten hervorspringt und stürze dabei fast zu Boden. Doch als ich das grün schimmernde Augenpaar einer struppigen Katze ausmache, stoße ich erleichtert die angehaltene Luft aus. Ich drehe meinen Kopf zu dem Container, hinter dem sie sich versteckt hat und aus dem immer noch scharrende Geräusche kommen, dann gehe ich weiter.
Meinen Arm presse ich mittlerweile fast krampfhaft auf meine Seite und mir wird klar, dass ich etwas brauche, um die Blutung zu stillen und dass ich dringend ein Versteck finden sollte. So schnell, wie die Polizei hier ist, wurde mittlerweile sicher schon längst eine Fahndung ausgerufen. Wahrscheinlich wurde schon im Fernsehen übertragen, dass entweder ein gefährlicher Verbrecher oder Eigentum der Regierung entkommen ist. Beides wird sich nicht zu meinem Vorteil auswirken.
„Hey! Bleiben Sie bitte kurz stehen!"
Mein Kopf ruckt zur Seite. Ich verfluche mich für meine Dummheit, so offen eine weitere Seitenstraße zu kreuzen. Nur dass diese direkt zur Hauptstraße führt, von der sich jetzt ein Polizist nähert.
„Personenkontrolle", fügt der Mann hinzu, die Hand an seinem Gürtel.
Tief atme ich durch, presse meinen Arm etwas fester in meine Seite – dann laufe ich los. Die Rufe des Mannes ignorierend setze ich einen Fuß vor den anderen. Sobald ich die nächste Gasse erreiche, biege ich in sie ein und stolpere prompt. Ich keuche auf, als ich gegen ein hier abgestelltes Auto stoße und zu Boden falle. Ein Stöhnen verlässt meinen Mund in genau in dem Moment, als der Polizist um die Ecke kommt. Ich bleibe liegen, ohne mich zu rühren.
Mit angehaltenem Atem lausche ich den nahenden Schritten. Dann stößt etwas gegen meine Schulter. Ich unterdrücke ein weiteres Keuchen und warte ab. – Etwas, was sich bezahlt macht. Der Polizist beugt sich zu mir hinab und innerhalb von Sekunden schnelle ich hoch und umklammere seinen Hals. Vor Schreck stolpert er zurück und zieht mich auf die Beine. Eh er reagieren kann, lasse ich mein Knie hochstellen und wimmernd knickt er ein. Ich fackel nicht lange und setze meinen Weg schnell fort, ohne mich von dem Brennen meiner Verletzung zu sehr beeinflussen zu lassen.
„Stehen bleiben! Sofort!", hallt die krächzend hohe Stimme des Mannes zu mir. Flüche folgen, die er sicher bei all den Leuten aufgeschnappt hat, mit denen er es bis jetzt in seinem Berufsfeld zu tun gehabt hatte. Scheinbar hat er sich wieder aufgerappelt.
Die nächste Kurve lässt mich zurückprallen. Ich bin wieder an der Hauptstraße. Doch ein Blick zurück sagt mir, dass ich definitiv nicht umkehren darf.
Also laufe ich weiter und weiche einem Skateboarder aus, welcher herangerauscht kommt. Für einen Moment verschwimmt die lila Mütze des Jungen. Ich beiße meine Zähne aufeinander und überquere die Straße. Dröhnendes Hupen lässt mir fast das Trommelfell platzen, aber ich erreiche die andere Straßenseite, ohne weitere Schäden davonzutragen.
Der schon bestehende ist aber umso schlimmer. Mittlerweile muss ich mich dazu zwingen, nicht stehenzubleiben.
Und dann hören die Häuser auf. Einfach so. Rechts von mir befindet sich ein flacher, asphaltierter Hang – eine Art Treffpunkt, welcher mitten in der Stadt liegt –, der zu einem Flussufer führt. Nur einzelne Leute halten sich hier noch auf. Zwei Obdachlose, ein Pärchen – Hand in Hand – und ein zweiter Polizist. Er steht zwischen mir und der Brücke, die ich eben entdecke.
„Bleib sofort stehen!"
Ich wirbel herum zu meinem Verfolger, dann wieder zurück zu dem anderen Polizisten, welcher jetzt auf mich aufmerksam wird. Ich fackel nicht lange und stolpere den Hang hinunter auf das trübe Wasser zu. Ein anderer Weg bleibt mir einfach nicht.
Keuchend bleibe ich am Rand des erhöhten Ufers stehen. Der Schweiß rinnt mir über die Stirn und nach Luft ringend schaue ich auf die schwappenden Wassermassen.
„Scheiße!", bringe ich meine Gedanken zur Aussprache. Es ist zum Heulen.
Ein Klicken lässt mich auf dem Absatz herumfahren. Die zwei Polizisten stehen mit gezückten Waffen vor mir. Wenn man es recht bedenkt, haben sie damit ganz schön auf sich warten lassen, aber der Anblick ist ganz sicher kein schöner.
„So, Freundchen. Jetzt schön da runterkommen und auf den Boden legen!", befiehlt der erste von ihnen umgehend. Das Gesicht des Mannes ist hochrot. Sein dazugekommener Kollege kommt noch einen Schritt auf mich zu.
Mein Herz klopft mir bis zum Hals, als ich mich nach dem Wasser umsehe. Warum überlege ich noch groß? Wenn ich tatsächlich nicht die Kraft dazu finde, bis zum anderen Ufer zu schwimmen und sterbe, macht das für mich keinen großen Unterschied. Andererseits: Kann sich mein Körper regenerieren, wenn sich noch Wasser in meiner Lunge befindet?
Was, wenn ich solange auf dem Grund dieses Flusses liege, bis man mich irgendwann herausfischt? Was, wenn ...
„So, jetzt kommst du her!" Entschlossen tritt der Beamte auf mich zu.
Vor Schreck stolpere ich zurück und – falle ins Leere. Der Schock zuckt durch meinen ganzen Körper, als eiskaltes Wasser über mir zusammenschlägt. Angestrengt presse ich meinen Kiefer zusammen, um ja kein Wasser einzuatmen und will mich nach oben strampeln, als ich über mir die verschwommenen Umrisse der Uniformierten sehe – mit den erhobenen Waffen. Entschlossen stoße ich mich von der glitschigen Uferwand ab. Soweit wie nur möglich entferne ich mich davon. Dann muss ich auftauchen.
Als ich endlich wieder frische Luft in meine Lungen lassen kann, treibe ich für ein paar Sekunden im Wasser. Geschafft. Vorerst ge- ... ein ohrenbetäubender Knall lässt mich zusammenzucken und etwas schlägt neben mir ein.
Schnell schwimme ich weiter. Kugeln zischen neben mir ins Wasser. Eine so nahe an meinem Kopf vorbei, dass sie eine brennende Spur über meinem Ohr hinterlässt.
Ein ersticktes Keuchen ausstoßend hole ich weiter aus. Langsam aber allmählich verlassen mich die Kräfte. Nicht nur meine Verletzung, auch meine Arme schmerzen immer mehr. Wahrscheinlich habe ich die ersten Meter nur geschafft, weil mein Adrenalinspiegel durch die Decke ging. Gegen mein eigenes Gewicht und das der vollgesogenen Kleidung kann der aber nicht mehr viel ausrichten.
Trotzdem kann ich jetzt nicht aufhören, ich darf nicht hier im Wasser sterben!
Ich schnappe nach Luft, als ich urplötzlich wieder nach unten gezogen werde. Ich schlage um mich, komme aber nicht gegen den Sog an.
Eine Strömung! Als ich das realisiere fange ich an, mit meinen Armen und Beinen nur umso entschlossener dagegen anzukämpfen. Wenn ich hier nicht wieder rauskomme, wird das böse enden.
Da komme ich mit voller Wucht auf dem Grund des Flusses auf. Der Schmerz in meiner Seite lässt gleißende Blitze vor mir auftauchen und die Luft wird mir aus den Lungen gedrückt. Der Druck auf meiner Brust scheint ins Unermessliche zu steigen und verzweifelt versuche ich, mich hochzustoßen. Kurz bevor ich ein weiteres Mal aufschlage. Ich weiß nicht mehr, wo oben und unten ist. Meine Glieder kann ich kaum noch bewegen und in meinem Kopf rauscht es immer lauter.
Dann schlägt mir frische Luft ins Gesicht. Husten und spuckend arbeite ich daran, über Wasser zu bleiben und atme so tief ein wie nur möglich. In der nächsten Sekunde erstarre ich jedoch.
Ich befinde mich in der Flussmitte. An der Stelle, an der die Schiffe ihre Wege kreuzen. Und genau so eins taucht eben vor mir auf. Blendend helle Scheinwerfer und eine riesige Bugwelle. Ich schwimme los.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top