„Es tut mir leid ..."
Ich falle zu Boden und aufstöhnend umklammere ich meinen Arm. Scheiße, was war denn das?
Hugh dreht mich auf den Rücken und sieht mich mit großen Augen an.
„Ok, das war ... nicht bewegen, Bro!"
„Zum Teufel, wie ..."
Ich stöhne erneut auf, als er meinen Arm betastet. Mir wird schwindelig.
„Ok, der ist definitiv gebrochen. Ziemlich schlimm. Komm hoch, wir müssen hier weg."
Ich lasse mich hochhieven, ziehe meinen unverletzten Arm aber sofort zu mir, um mit ihm den anderen umklammern.
„War sie das?", stoße ich hervor und starre auf das Mädchen, welches glatt ein weiteres Stück zurückweicht.
„Nicht mit Absicht", erwidert Hugh sofort und stellt sich zwischen uns. Wahrscheinlich hätte ich jetzt nicht einmal etwas gemacht, wenn er nicht so groß wäre, ich wollte sie ja nicht erschrecken. Ich kann es ihr nicht einmal übel nehmen, immerhin habe ich vorgeschlagen, ihr einen Stromschlag zu verpassen.
„Sie ... sie presst die Luft zusammen und ... hör mal, kann ich dir das später erklären? Wir müssen jetzt wirklich los."
Ich nicke. Hier wegzukommen wäre mir im Moment vermutlich auch lieber. „Ja. Ich hoffe, ich habe sie jetzt nicht zu sehr verschreckt. Sie ... ich bin nur ein wenig ..."
Ich starre auf meinen Arm, dann drehe ich mich um und stapfe los.
„Ist auch egal. Sehen wir zu, dass wir nicht schon in den nächsten Minuten wieder geschnappt werden."
Ich bekomme keine Antwort, sondern höre nur, wie sie sich in Bewegung setzen.
Wir huschen von Straße zu Straße und müssen dabei, je mehr Minuten vergehen, mehr Sanitäts- und Polizeifahrzeugen ausweichen, welche alle auf das ehemalige Gebäude des SEA zurasen.
„Da ist ja die Hölle los", höre ich Hugh murmeln. Sagt ausgerechnet der, der die Feuerhände hat.
„Wir sind aber gleich im nächsten Block", informiere ich meine Begleiter. „Dort ist vielleicht ein ..."
Ich springe zurück, als ein Auto mit quietschenden Reifen vor uns hält, und stoße mit meinem verletzten Arm gegen Hugh. Ein glühender Schmerz schießt bis hoch in meine Schulter und das Ächzen, das über meine Lippen kommt, kann ich nur mit Mühe durch das Aufeinanderpressen eben dieser ersticken.
Dann öffnet sich die Fahrertür des Wagens und eine völlig ungläubige Alice tritt auf die Straße.
„Vince ... Vincent?"
Sofort taste ich nach der Betäubungswaffe in meinem Hosenbund. Sobald ich sie gefunden habe, ziehe ich sie hervor und halte sie ihr entgegen. Das kleine Teil zittert wie sonst was.
„Bleib ja da stehen!", befehle ich.
Sofort hebt sie abwehrend ihre Hände. „Was soll das denn, du Idiot?", erwidert sie. „Leg das Ding weg!"
„Was willst du hier?", erwidere ich nur forschend.
„Harriet hat gesagt, du bist schon heute weg, ich dachte doch, du fährst erst morgen. Als ich dann erfahren habe, dass mein Dad mitgekommen ist, bin ich sofort losgefahren."
„Warum?"
Ihre Unterlippe zittert und sie wendet ihren Blick ab.
„Er ... Vincent, seit seiner Entlassung ist er ... er ist regelrecht besessen. Ich habe Angst, dass er euch durch irgendeine Unachtsamkeit in Gefahr bringt und ..."
„Denkst du da eventuell an eine kleine Auslieferung? Dass er mich niederschlägt und als Belohnung für meine Ergreifung seinen Job zurückholt? So etwas in der Art?"
Fassungslos sieht sie mich an. „Er hat ... er hat was getan?", haucht sie. Dann schüttelt sie mit dem Kopf und verschränkt die Arme. „Nein! Das ist nicht ... sag mir, dass das nicht wahr ist!"
Gut gespielt, das muss ich zugeben. Aber solange ich diese Frau im Blickfeld habe, werde ich die Waffe nicht senken. Und wenn diese nur Betäubungsmunition innehat – oder gerade, weil es so ist.
„Ach, dann wusstest du nichts davon? Oder Harriet?", zische ich.
„Nein, wusste ich nicht. Vincent, was ist mit dir passiert? Du siehst furchtbar aus. Und was ist dort hinten? Ist das – Rauch?"
„Verkauf mich doch nicht für dumm!" Ich trete einen Schritt auf sie zu. „Du willst mir also nicht erzählen, dass dein Name gar nicht >Capryse< ist?" Ich kneife meine Augen zusammen und füge etwas leiser hinzu:
„Hast du mir wenigstens bei deinem Vornamen die Wahrheit gesagt? An ein euch will ich da noch gar nicht denken."
Sie starrt mich an. „Das ist der Mädchenname meiner ... meiner Mum. Und >Wendell< ..." Sie sieht aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. „Dad hat jedenfalls gesagt, dass er dich nicht unnötig beunruhigen will, falls du seinen Namen schon einmal bei einem der Laborarbeiter gehört hast. – Vincent, ist das wahr? Wollte er ... hat er dich wirklich ..."
„Du wusstest wirklich nichts davon?"
„Verdammt! Nein, Vincent!"
Ich starre sie an, sie starrt zurück. Dann senke ich ächzend die Waffe. Warum tut nur alles an mir so weh?
„Also gut. Ich ... was will ich auch groß machen?"
„Vincent ...", zischt Hugh warnend.
„Nun ja, du könntest mich ja zwingen, zurückzufahren", schlägt Alice leise vor.
Jetzt bin ich wirklich sprachlos. Aber dann hebe ich wieder die Waffe. „Gehen wir."
Innerhalb weniger Sekunden befinden wir uns alle im Wagen und im nächsten Augenblick entfernen wir uns schon so schnell wie nur möglich von den Ereignissen der letzten Stunde.
„Warum bist du überhaupt hier hergekommen?"
Angestrengt starrt Alice auf die Straße vor sich.
„Wie schon gesagt. Ich hatte Angst, dass Dad etwas Blödes tut."
„Diese Angst war wohl berechtigt."
„Ja, aber sowas Blödes?" Sie schüttelt ihren Kopf. „Das hätte ich ihm in hundert Jahren nicht zugetraut. Ich wusste ja, dass er ein ... Talent hat, Leute für sich zu gewinnen. Aber dass das auch bei mir und Harriet funktioniert?"
„Ein Talent, Leute für sich zu gewinnen?", wiederhole ich stirnrunzelnd.
Sie sieht ein wenig zerknirscht aus. „Zugegeben, seine Kunstfertigkeit, andere zu beeinflussen, kann echt krasse Ausmaße annehmen. Ich will gar nicht wissen, was er Leuten, die das nicht erwarten, alles einreden kann. Aber ... das ist doch alles nur Theorie, nie hätte er das im Praktischen angewandt!"
„Harriet wusste wirklich auch nichts davon?", hake ich zum zweiten Mal vorsichtig nach.
Alice schüttelt ihren Kopf und wirft einen Blick in den Rückspiegel zu Hugh und Naomi. Das Mädchen hat sich gegen seine breite Schulter gelehnt.
„Sie hat nur nicht gesagt, dass der SEA schon immer so viele Etagen unterhalb hat, weil sie gedacht hat, Dad will dich nur irgendwie davon abhalten, dort einzusteigen."
„Und bei der Diskussion des Planes seid ihr nicht auf den Trichter gekommen, dass das nicht stimmen kann?"
„Sie wollte doch mit ihm reden und ..."
„Pff."
Sie seufzt. „Nicht alle Menschen sind so, Vincent", sagt sie mit erstickter Stimme.
Fast automatisch muss ich an Palmer denken. Der Mann hat mir geholfen, obwohl er am besten von uns beiden wusste und weiß, was die Konsequenzen sein könnten. Und die vermutlich auch eingetreten sind, bei dem, was Martin gesagt hat.
Fort. Was meinte er damit? Tot? Insgeheim hoffe ich, dass es das nicht ist.
„Was ist denn?", fragt Alice leise, die meinen leeren Blick bemerkt haben muss.
„Nichts. Ich musste nur gerade an den Kerl denken, der ... der mir geholfen hat zu fliehen."
Nachdenklich sieht sie zu mir. „Das hast du mal erwähnt, richtig. Der Mann muss wirklich über einen ziemlich großen Schatten gesprungen sein."
„Alleine hätte ich das nie geschafft, das wusste er. Ich kann nicht richtig sterben, das war's auch schon wieder."
„War's einer der Wachen?"
„Es war der Arzt, der mich aufgeschnitten hat. Ironisch, nicht?", scherze ich. Aber weiterhin starrt sie nur nach vorn, die Finger um das Lenkrad gekrampft. Ich runzel meine Stirn.
„Was denn?"
„Kannst du das wiederholen?", kommt es schließlich von ihr.
„Äh ... na ja, der Arzt eben. Der mich untersucht hat."
„Wie war noch mal sein Name?"
„Äh, sein Name ... Palmer. Ein bisschen scheinheilig, aber sonst ..."
Ein Keuchen entweicht ihr und ich öffne meinen Mund. Erst schließe ich ihn wieder, aber dann kommt doch wieder etwas aus meiner Kehle.
„Warum reagiert ihr alle so komisch, wenn ich den Kerl erwähne?"
Aber Alice tastet nur – fast am ganzen Körper bebend – nach ihrem Display und wischt mit dem Daumen darüber.
„Harriet anrufen!"
Vielen Dank auch dafür. Ich mustere Alice, die ihren Blick nicht einmal von der Straße richtet und wahrscheinlich trotzdem nicht allzuviel vom Straßenverkehr wahrnimmt und darauf wartet, dass der leise Piepton von Harriets Stimme abgelöst wird.
„Sag mal, was ist denn mit dir ..."
„Pscht!"
Tatsächlich hat sich eben jemand gemeldet.
„Alice? Bist du schon dort? Ich sehe gerade die Nachrichten auf VOBA. Das sieht ja wirklich richtig krass aus, pass ja auf dich auf. Sind die beiden ..."
„Harry", unterbricht Alice sie. „Wann hast du zuletzt von deinem Bruder gehört?"
Mir stockt der Atem. Eine Sekunde ... zwei Sekunden ...
„Was?"
„Alice, das ist nicht ..."
„Doch, verdammt. Und jetzt warte bitte kurz, bis Harriet zurückruft."
„Ein bisschen leiser bitte. Hier schläft ein Kind."
„Harriet oder Harry?"
„Also das ist ja nun scheißegal, oder?", zischt Alice.
Fassungslos sehe ich sie an. „Aber ... warum habt ihr mir das nicht gesagt? Ihr wusstet doch, dass es Palmer war, der mich ..."
„Und hättest du dich von der Frau untersuchen lassen, deren Bruder dich immer und immer wieder auf jede erdenkliche Weise getötet hat? Richtig. Nein!"
„Aber ... aber ... ihr Bruder?"
Alice seufzt. „Ja, Vincent. Immer noch. Weißt du, wenn du Arzt, Wissenschaftler oder Ingenieur oder was weiß ich was wirst, dann ist die beste Anstellung, die du bekommen kannst, bei diesem blöden Service for Extraordinary Appereance."
Ihre Stimme hat einen leiernden Ton angenommen.
„Frag mich nicht, warum die nicht mehr Buchstaben in ihrer Abkürzung haben, wahrscheinlich gibt es ein Limit für Geheimdienste, Services und was weiß ich."
„Also in England ...", beginne ich, stoppe mich aber selbst. Es gibt wichtigere Dinge. „Und weiter?"
„Harriet ist dort nur hin, weil Thomas dort war und immer davon geschwärmt hat, als wäre er im Himmel gelandet. Sie hat recht schnell gemerkt, dass dem nicht so ist und hat die Firma verlassen. Seitdem redet sie kaum noch mit ihm. Ein paar Wochen später kam mein Dad nach. Das war, als ... als mei-"
Sie unterbricht sich, als ihr Display aufleuchtet. Sie wischt darüber.
„Und? Hat er geantwortet?"
Stille. Dann:
„Nein. Ich hab es dreimal versucht. Sogar bei David, aber der ist nicht einmal rangegangen. Bestimmt, weil dort alles drunter und drüber geht. – Alice, er ... scheiße, was hat er gemacht?"
„Er ..."
„Er hat mir geholfen, zu entkommen", werfe ich leise ein.
Alice sieht zu mir und ich wende meinen Blick zur Straße. Ob man ihn nur eingesperrt hat oder ob ... es etwas Schlimmeres ist?
„Harriet, ist alles in Ordnung?", fragt Alice leise. „Harry!"
„Ja, ich ... ist bei euch alles gut?"
Alice seufzt. „Nicht wirklich. Vincent sieht echt nicht gut aus und wir haben noch zwei, die vielleicht einen Check ganz gut vertragen könnten."
„Also gut. – Kommt her."
Damit legt sie auf und Stille senkt sich über uns. Ich kann es noch immer nicht fassen. Sie ist Palmers Schwester. Verwandt mit dem Kerl, der mich täglich aufgeschnitten hat. Der an mir herumexperimentiert hat.
„Haltet ihr das wirklich für eine so gute Idee?"
Ich drehe mich zu Hugh. „Was?"
„Zu dieser Frau zu fahren. Wenn sie wirklich für die gearbeitet hat und die Schwester von dem Kerl war, der dich getötet hat, ist das vermutlich keine gute Idee. Nichts für ungut, Miss, ist auch schön, dass Sie uns mitnehmen, aber ich bin mir nicht so sicher, ob ich ihr trauen soll. Oder Ihnen."
„Sie können ja Vincent fragen. – Vertraust du mir?"
Sprachlos starre ich sie an. Woher soll ich das wissen? Ihr Vater ist mit gerade wortwörtlich in den Rücken gefallen.
„Äh ... ich ..."
Mein Arm stößt an das Feuerzeug in meiner Hosentasche. Es ist hinüber. Lag neben den Leichen der drei Arschlöcher in Schutt und Asche. Und ich habe es trotzdem mitgenommen. Tief atme ich durch. Hätte ich es nicht getan, wenn ich nicht darauf gehofft hätte, dass ich mich in ihr nicht getäuscht habe?
Eine zerbrochene dünne Lesebrille hätte ich ganz sicher liegen gelassen.
„Also ... ja", sage ich vorsichtig. „Ich meine, im Moment bin ich einfach zu ... durcheinander, um noch wirklich zu wissen, wer in Ordnung ist, aber ... ich denke schon?"
„Das wird wohl reichen müssen", murmelt Alice in einem Ton, der mich wünschen lässt, etwas anderes gesagt zu haben.
„Und du bist dir wirklich sicher?"
Unsicher starre ich auf die Eingangstür. Das Auto steht in der Auffahrt und auf dem erleuchteten Klingelschild steht, in feinen, krakeligen Buchstaben, >Palmer<.
Ich nicke. „Ja. Was kann schon groß schiefgehen, hm?"
„Na dann", seufzt Hugh hinter mir und schickt sich wahrscheinlich an, Naomi aus dem Wagen zu heben. „Na komm, Kleine. Drinnen kannst du dich ausruhen."
Alice läuft entschlossen auf die Haustür zu und drückt den Klingelknopf. Mit klopfendem Herzen trete ich hinter sie, meinen schmerzenden Arm fest umklammert. Eigentlich tut mir alles weh, aber das ist wohl am schlimmsten.
Wir müssen nicht lange warten. Die Tür wird förmlich aufgerissen und Harriet starrt uns entgegen. Tiefe Ränder liegen unter ihren Augen.
„Danke", sagt Alice leise. „Dass du uns hilfst."
Harriets Blick gleitet an ihr vorbei und richtet sich nun auf mich. Wortlos sieht sie mich an. Unwillkürlich senke ich meinen Kopf. Er war ihr Bruder. So eine Scheiße!
„Sie ist ja total am Ende. Bringen Sie sie rein, sie muss sich dringend hinlegen!", sagt die Frau nur und tritt zur Seite, sodass wir eintreten können. Hugh ist sichtlich erleichtert.
„Geradeaus ins Wohnzimmer. Da kann die Kleine sich auf die Couch legen. Alice, holst du ihr vielleicht ein paar Kekse und etwas Saft? Die Sachen sind oben. Und du", sie sieht zu mir, „kommst mit in die Küche."
Stumm nicke ich und folge ihr. Noch einmal drehe ich meinen Kopf, um Alice nachzusehen. Sie selbst schaut sich aber nicht noch einmal nach mir um. Im Moment ist sie mit den beiden anderen wohl völlig ausgelastet.
„Setz dich!"
Ich sehe mich in der erhellten Küche um. Die Jalousien sind heruntergezogen worden, sodass uns kein neugieriger Nachbar sehen kann und auf dem Tisch steht ein silberner Koffer. Harriet öffnet ihn und hält dann inne, um ungeduldig zu mir zu schauen.
„Auf den Stuhl. Da."
Schnell setze ich mich.
„Hören ... hör mal", beginne ich vorsichtig, während sie mit den Sachen beschäftigt ist. „Ich wollte nur, dass du weißt, dass ... es tut mir leid."
Dumm. Das ist ja wohl das Letzte, was sie jetzt hören will.
„Ich wollte ihn auf jeden Fall nicht in Gefahr bringen und hätte ich gewusst ... hätte ich gewusst, dass er dein Bruder ist ..."
Sie hebt ihre Hand. „Vincent."
Oh Mann, sie klingt ja mal richtig abgehetzt.
„Woher hättest du das denn bitteschön wissen sollen, kannst du mir das verraten? Ich habe es doch extra verschwiegen. Du bist kurz vor unserem Aufeinandertreffen aus einem Labor geflohen, in welchem er an dir herumexperimentiert hat. Soll ich da etwa erwarten, dass du dich bei mir mit einem Kniefall bedankst, wo du doch sowieso nicht weißt, wie die Leute hier ticken? Und dann passiert das alles auch noch in dieser für dich fremden Welt, ich konnte doch nichts sagen."
Ich ächze und öffne meinen Mund.
„Und jetzt hältst du die Klappe, außer ich frage dich was. Du siehst ja echt scheiße aus, wo liegt das Hauptproblem?"
Sie zieht einen Stuhl heran und setzt sich mir gegenüber. Abwartend hebt sie ihre Augenbrauen.
Ich seufze und deute auf meinen Arm.
„Ich glaube, der ist gebrochen."
Mit geschürzten Lippen rutscht sie noch ein Stück heran und nimmt ihn vorsichtig in die Hand. Ich lege meine, mit der ich ihn bisher gehalten habe, auf meinen Schoß und halte mich an meiner Hose fest.
Vorsichtig tastet Harriet den Arm ab, was mich aber trotzdem immer wieder zusammenfahren lässt. Ich halte die Luft an und presse meine Lippen so fest aufeinander, wie es nur geht.
„Gebrochen", bestätigt sie nickend und erhebt sich. „Ziemlich kompliziert, das ist ein Problem. Warte hier. Ich bin gleich wieder da."
Sie rauscht aus dem Raum und lässt mich allein. Mit geschlossenen Augen lehne ich mich auf dem Stuhl zurück. Was für ein Abend. Wie hatte das so außer Kontrolle geraten können?
Wobei – ich gebe ein bitteres Schnauben von mir – hatte ich überhaupt jemals die Kontrolle? Dieser Scheißkerl hat mich von Anfang an zum Narren gehalten und jetzt sitze ich hier. Mit seiner Tochter im Nebenraum.
Mit fahrig zitternden Fingern streiche ich mir über das Gesicht und zucke prompt zusammen. Die Wunden auf meiner Wange und Handfläche habe ich fast völlig verdrängt.
„Ok, steh auf!"
Harriet kommt ein paar Minuten später in die Küche, eine Jacke hängt über ihrem Arm und ein feuchtes Tuch drückt sie mir in die Hand. Ich ziehe meine Stirn in Falten.
„Was ... was ist denn los? Willst du nicht erst ..."
„Das geht hier nicht", erklärt sie seufzend. „Das muss operiert werden. Al passt auf die beiden auf und kümmert sich um sie. Sie haben zum Glück keine weiteren Verletzungen davongetragen, der Schock sitzt nur sehr tief, gerade bei der Kleinen. – Drück das Pad auf deine Wange!"
Ratlos erhebe ich mich, dem Befehl Folge leistend. Bei dem Brennen, was augenblicklich in meinem Gesicht entsteht, verziehe ich kurz mein Gesicht.
„Aber wie willst du das denn operieren?", frage ich dann. „Wir müssten in ein Krankenhaus. Mit Menschen. Wir ... wir werden entdeckt. Und du wirst mich doch während der OP sicher betäuben, das ... das mache ich nicht mit, vergiss es!"
Entschlossen recke ich mein Kinn in die Luft und funkel sie herausfordernd an.
„Auf gar keinen Fall! Das mache ich nicht mit! Das kann nur schiefgehen und ..."
„Kannst du bitte mal für einen Moment die Klappe halten?", murmelt Harriet und stellt den Motor ab.
Wir stehen am Rand eines riesigen Parkplatzes und ich starre auf das riesige, hell erleuchtete Gebäude vor uns. Dann steigt sie aus. Sie geht um den Wagen herum und öffnet auch meine Tür.
„Komm schon, Vincent. Wir müssen uns beeilen, wenn wir das heute noch machen wollen. Wenn wir hier länger herumstehen, fallen wir noch auf."
„Ich bring mich einfach um", murmel ich und verfluche mich dafür, nicht schon früher darauf gekommen zu sein.
„Auf gar keinen Fall!" Harriet schüttelt ihren Kopf. „Mit jedem weiteren Tod verschlimmert sich deine mentale Gesundheit, das ist dir doch klar, oder? Im Moment mag es dir vielleicht nicht bewusst sein, aber", sie zuckt mit ihren Schultern, „du solltest das nicht als Freifahrtsschein ansehen."
„Ja. Das hat er gesagt", stoße ich hervor, ohne den Blick von dem Krankenhaus abzuwenden.
„Was nicht heißt, dass es nicht trotzdem stimmt. Du kannst wirklich nicht jedes Problem mit einem Neustart lösen, Vincent", sagt sie mit sanfter Stimme.
„Aber ... ich will das nicht! Was, wenn du mich auch ausliefern willst? Du ... ich könnte es dir nicht einmal übel-"
„Hey, geht's noch?" Eindringlich sieht sie mich an. „Das mache ich nicht, auf keinen Fall. Ich werde dich nur örtlich betäuben, ok? Ich nehme dir nicht die Kontrolle über deinen Körper, versprochen, aber wir sollten das wirklich behandeln, das könnte sich sonst entzündet es sich. Am Ende entsteht noch eine Pseudarthrose, das will ich nicht riskieren. Und du auch nicht."
Tief atme ich durch. „Also gut. – Hauptsache, wir werden nicht erwischt."
Während wir auf das Krankenhaus zugehen, kann ich nur daran denken, was für eine gewaltige Dummheit ich gerade begehe. Ich vertraue der Frau, die wegen mir ihren Bruder verloren hat. Wahrscheinlich. Kurz nachdem ich von einem Mann – von dem ich dachte, ich könnte ihm vertrauen – verraten wurde. Nachdem wir irgendwo eingestiegen sind. Wie wir es hier machen, nur mit dem Unterschied, dass meine Begleiterin diesmal wirklich hier arbeitet.
Ich will nicht das ganze Gebäude zum Einsturz bringen müssen, um zu entkommen. Unwillkürlich kommt in mir die Frage auf, ob es Capryse geschafft hat. Capryse.
„Wie heißt er denn nun wirklich?", frage ich leise.
Unbeirrt steuert Harriet auf einen schwach beleuchteten Nebeneingang zu, welchen man vom Haupteingang des Krankenhauses nicht sehen kann. Ich denke schon, sie hat mich nicht gehört, aber dann antwortet sie:
„Abraham. Fellar."
Nachdenklich ziehe ich die Jacke, die ich von Harriet enthalten habe, ein wenig fester zu. Irgendwie löst dieser Name etwas in mir aus, lässt meine inneren Alarmglocken schrillen. Ich bin mir sicher, ihn schon irgendwo einmal gehört zu haben.
Stirnrunzelnd starre ich auf den Boden.
Fellar. Abraham Fellar. Eigentlich kann das gar nicht sein, woher soll ich schon ...
Ich bleibe stehen.
„Den Namen kenne ich tatsächlich."
Harriet tut es mir gleich und sieht mich so an als hätte ich nun wirklich den Verstand verloren.
„Woher denn das? Ich glaube kaum, dass man es bis vor ein paar Stunden gerne gehört hat, wenn man über ihn gesprochen hat, immerhin ..."
„Ja, ja. Aber an dem zweiten oder dritten Tag bin ich abgehauen und in so einem Labor gelandet. In dem stand so ein seltsamer Kühlschrank mit mehreren Fläschchen, auf denen seine Initialen und ... irgendwelche Zahlen standen."
Harriets Stirn zieht sich in Falten.
„Die Frau, die mich erwischt hat, hat ganz panisch reagiert, etwas von einem Dr. Fellar gefaselt und dass ich gefälligst Abstand nehmen soll." Ich zucke mit den Schultern. Harriet dagegen lässt ihren Blick nach unten wandern und erwidert nur:
„Wie gesagt, er hat dort gearbeitet. Wenn du mehr wissen willst, solltest du mit Alice sprechen, mir ... liegt es nicht zu, darüber zu sprechen. Jetzt müssen wir erst einmal sehen, dass wir weiterkommen."
Allzu begeistert bin ich davon zwar nicht, aber ich nicke und setze mich wieder in Bewegung.
„Sag mal, hinkst du?"
Harriet hebt ihren Arm und bringt mich damit wieder zum Stillstand. Sie mustert meine Beine.
Ich winke ab. „Ich bin wahrscheinlich einfach nur erschöpft. Nichts weiter."
Aber Harriet umrundet mich nur unbeeindruckt und seufzt.
„Die Verbrennung konntest du nicht erwähnen?"
„Es ist wirklich nichts weiter. Ich spüre es nicht einmal sehr ..."
„Dann haben wir ein noch größeres Problem. Das wird auch behandelt und währenddessen bist du absolut ehrlich zu mir!"
Mit einem letzten warnenden Blick bringt Harriet die letzten Meter bis zu der Hintertür des großen Gebäudes hinter sich.
„Ab jetzt müssen wir aber absolut leise sein", wispert sie und lässt mich durch die Tür. Dann lässt sie sie ins Schloss fallen.
Der Flur ist hell erleuchtet. Fast ein wenig zu hell, aber Harriet setzt ihren Weg unbeirrt fort und führt mich an mehreren Türen vorbei, bis wir an einer geschwungenen, aber breiten Treppe ankommen.
„Fahrstuhl war wohl keine Lösung?", frage ich leise.
Die Vorstellung, jetzt noch Treppen steigen zu müssen, bingt mich fast dazu, mich einfach auf den Boden plumpsen zu lassen und dann dort sitzen zu bleiben. Wobei liegen ja auch ganz schön wäre. Hauptsache, ich bekomme meine Ruhe, so langsam kann ich nämlich wirklich nicht mehr, auch wenn es mir schwerfällt, das zuzugeben. Harriet lächelt mir aufmunternd zu.
„Es sind nicht viele."
Seufzend mache ich mich an den Aufstieg.
Schon nach ein paar Minuten bemerke ich aber, dass Harriet gelogen hat. Es sind viele. Und so langsam wird mir schwindelig. Mein Arm ist nur noch ein kleines, aber wummerndes Inferno und meine Augen wollen immer wieder zufallen. Im Laufen. Ich stolpere.
„Woah, tief durchatmen, Vincent. Wir haben's gleich geschafft."
„Sicher?", frage ich mit einem Anflug eines spöttischen Lächelns.
Harriet hakt ihren Arm unter meine Schulter und zieht mich auf eine weiße Tür zu.
„Wir sind so gut wie da", murmelt sie und öffnet sie. Vorsichtig streckt sie ihren Kopf vor, dann betritt sie einen viel zu sauberen Flur. Sofort steigt mir der Geruch von Desinfektionsmittel in die Nase und Übelkeit steigt in mir auf. Unsere Schuhsohlen quietschen auf dem Vinylboden, aber wir sind zum Glück allein hier. Weder begegnen wir Ärzten oder Schwestern, noch wartet irgendeine Menschenseele auf einer der Stuhlreihen an den Wänden.
„Ein kleines bisschen schneller", spornt Harriet mich an. „Dieser Flur bleibt nicht lange leer."
Sie sollte recht behalten. Sie hat kaum ausgesprochen, da taucht auch schon am Ende des Ganges eine Person in weißem Kittel auf. Ruckartig bleibt sie stehen, dann kommt sie etwas schneller näher.
„Scheiße!", flüstert Harriet.
„Ah ... Dr. Palmer, Sie hier? Das sieht aber gar nicht gut aus, kann ich Ihnen helfen?"
Dr. Palmer. Jetzt schmecke ich bittere Flüssigkeit von Magensäure auf meiner Zunge. Wir kommen nicht einmal drei Schritte, dann sehe ich ihn wieder vor mir. Oder besser gesagt über mir. Eine weiße Maske über Mund und Nase und ein Skapell in den behandschuhten Fingern.
„Nicht nötig, vielen Dank", höre ich Harriets gedämpfte Stimme, als würde ich mich unter Wasser befinden. „Sehen Sie, ich bin schon so gut wie da, Doktor. Kümmern Sie sich lieber um Ihre Patienten, die sind im Moment mit Sicherheit ein wenig wichtiger. Ich schaffe das hier schon."
Ein leises Auflachen. „Ja, da haben Sie wohl recht. – Nun ja. Ich wünsche auf jeden Fall eine gute Besserung."
Ich höre ein Türenschlagen, kann aber kaum darauf achten. Geschweige denn auf meine Schritte. Mein Körper wird von einem so unkontrollierten Zittern erfasst, dass sogar die Bilder in meinem Kopf angefangen haben zu beben.
„Vincent. Hey, Vincent, ganz ruhig. Es ist alles okay, atme tief durch!"
Ich schließe meine Augen und zwinge meine Lungen, so viel Sauerstoff wie möglich aufzunehmen.
„Sehr gut. Schön weiteratmen."
Ruckartig nicke ich und öffne meinen Mund ein wenig weiter. Scheiße, es war wohl heute einfach zu viel für mich ...
Und es ist wohl genau die Erkenntnis, die mich langsam wieder zur Besinnung bringt. Es war zwar viel, ja, und es ist wahrscheinlich normal, nach so einem Tag schlappzumachen. Aber doch nicht jetzt. Ich öffne meine Augen. Nur noch diese Behandlung, dann kann ich mich ausruhen.
Ich sehe mich in dem Raum um. Es ist ein ziemlich kleiner Operationssaal – und ich, ich sitze auf dem Operationstisch. Ich krampfe die Finger, die ich noch bewegen kann, ohne dass eine Schmerzwelle durch meinen Arm schießt, in den Rand des Tisches, aber hier gibt es keine Schnallen. Nichts, was mich dazu zwingen könnte, hier liegen zu bleiben.
Harriet taucht vor mir auf, eine nierenförmige Schale in der Hand.
„Geht es wieder?"
Zittrig atme ich durch. „Ja, ich ... ich weiß selbst nicht, was das war."
„PTBS", antwortet sie knapp und geht an das Kopfende des Tisches. „Posttraumatische Belastungsstörung Das ist wohl nicht sonderlich verwunderlich."
„Aber ... aber das war doch vorher noch nicht", erwidere ich leise.
„Du meinst, es ist vorher noch nicht so stark aufgetreten. Gab es dafür einen Auslöser?"
Besorgt sieht sie mich an.
„Keine Ahnung. Mir war sowieso schon schlecht und dann wurden Sie von diesem Arzt begrüßt und ich ... da war ... dein Bruder ..." Tief atme ich durch. „Ich war wieder dort und ... – ach, keine Ahnung."
Aber Harriet nickt nur knapp. „Ich verstehe. Darum müssen wir uns später kümmern."
Sie stellt die Schale in ihrer Hand ab und dreht sich wieder zu mir. „Pass auf, ich erkläre dir, wie das jetzt abläuft, okay?" Sie wartet nicht auf meine Antwort. „Wir werden dir jetzt das Oberteil ausziehen und ich werde deine Beine abdecken. Dann säubern wir deinen Oberkörper und Arm so gut wie nur irgend möglich. Ich werde alles desinfizieren, dir die örtliche Betäubung verabreichen und dann anfangen. Es ist nur ..." Sie wirft einen Blick zur Tür. „Dabei werde ich Hilfe brauchen, das fällt nicht unbedingt in mein Fachgebiet. Und du willst ja später sicher deinen Arm wieder richtig benutzen können."
Mir wird ganz flau im Magen. „Was meinst du denn damit?"
„Ich habe meinen Freund ins Boot geholt. Er ist extra noch einmal hergekommen und bereitet sich gerade vor."
„Was? Aber ..."
„Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen. Er ist absolut vertrauenswürdig und wird uns helfen. Er wird dir nicht schaden, weder direkt noch indirekt. In Ordnung?"
Ich will aufspringen, aber sie stellt sich vor mich und legt ihre Hände auf meine Schultern. Verzweifelt richte ich meinen Blick zur Tür auf der anderen Seite des Raumes.
„Vincent, sieh mich bitte an. Er ist mein Freund, in Ordnung? Eli mag zwar in diesem System festsitzen, aber trotzdem ist er nicht eine dieser gewissenlosen Marionetten. Ich verspreche dir, dass dir nichts passieren wird."
Ich senke meinen Kopf, die Augen fest zusammengepresst. „In Ordnung", sage ich leise.
„Okay, sehr gut. Dann versuchen wir mal, dein Oberteil auszuziehen."
Nur ein paar Minuten später liege ich, wieder einmal, zitternd auf so einem verdammten OP-Tisch. Meine rechte Seite ist komplett taub, abgesehen von Gesicht und alles unter der Hüfte, und Harriet sieht so aus, als würde sie gleich sonst was für eine Operation durchführen. Genau wie ihr Kollege, der vor einigen Minuten dazugekommen ist. Es ist doch nur ein Knochenbruch. Verzweifelt starre ich an die Decke. Das grelle Licht der Lampe über mir brennt in meinen Augen, aber das ist mir im Moment ganz recht.
„Hey, Vincent. Ganz ruhig, sieh zu mir, okay?"
Ich drehe meinen Kopf zu Harriet, die mir die Brust abdeckt.
„Es ist nur der Arm. In einer knappen Stunde sind wir fertig. Wahrscheinlich sogar früher, so ein Bruch ist heutzutage kein Thema mehr. Ist sonst alles in Ordnung?"
„Ja, ich ... es wird schon gehen ..." Ich will noch etwas hinzufügen – vielleicht, dass sie es möglichst schnell machen oder dass sie ja aufhören sollen, wenn ich es sage, irgendetwas –, aber meine Kehle ist wie zugeschnürt.
Beruhigend lächelnd tritt Harriet einen Schritt zur Seite, als ihr Kollege neben ihr auftaucht. Freundlich nickt er mir zu.
„Guten Abend, Sir. Mein Name ist Dr. Stone und ich werde Sie jetzt behandeln. Entspannen Sie sich einfach, ihr Arm beschert Ihnen schon bald keine Probleme mehr, das bekommen wir hin."
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