Kapitel 6 - dreistellig
Lainey
Graham hielt sie, bis sie wieder zur Ruhe kam. Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Und obwohl sie Graham zu nichts gezwungen hatte und er ihr wirklich aufregend Gefühle bereitet hatte, war ihr die ganze Situation unangenehm.
Vermutlich war das der Grund, warum man sich nicht einfach am Bruder des Nachbarn vergriff. Hätte sie ihn doch nie angefasst.
"Ich kann deine Gedanken beinahe hören. Entspann dich. Ist dir doch eben auch ganz gut gelungen", wisperte Graham, während er einen Kuss auf ihren Oberschenkel drückte.
Blut schoss ihr in die Wangen und sie legte die Hände vor ihr Gesicht. Als Graham neben ihr zu liegen kam, zog er an einer Hand und hielt sie fest. Sie wagte es nicht, ihn anzusehen.
Es war draußen bereits dunkel geworden, aber der Wecker auf ihrem Nachttisch verriet ihr, dass es noch nicht Nacht war.
"Welchen Film schlägst du als nächstes vor?", unterbrach Graham die Stille.
"Discovery Channel?", gab Lainey fragend zurück.
"Klar, meinetwegen. Guckst du den oft?"
Sie spürte eine unangenehme Hitze in ihr Gesicht steigen. "Eigentlich nur zum Einschlafen."
"Warum das?", fragte er verblüfft. "Erzähl mir nicht so einen Dummchenkram, wie dass dich das schlaue Gerede müde macht."
Lainey zuckte mit den Schultern. "Nicht direkt. Ich entscheide mich meistens für Dokus über das Universum oder historische Gegebenheiten."
"Was davon taugt eher zum Einschlafen?"
"Das Universum."
"Ach ja?" Er hob eine Augenbraue und Lainey verstand es als eine Bitte um weiteren Erklärungen.
"Klingt vielleicht dumm", setzte sie an, "aber es hilft mir beim Abschalten. In meiner Lieblingsdoku zoomt die Kameratechnik von einem Menschen aus raus, über die Stadt, das Land, den Kontinent, die Erde. Dann aus der Sonnenumlaufbahn, der Milchstraße, der Galaxie und so weiter bis man plötzlich überhaupt keine Idee mehr hat, warum eine einzelne Sorge so schwer wiegen kann, wenn jeder einzelne von uns doch nichts mehr ist als ein Staubkorn im Universum."
"Wow."
"Falsche Antwort?", fragte sie verunsichert.
"Im Gegenteil. Bei mir läuft abends oft der gleiche Sender. Ich gucke aber lieber die historischen Dokus."
"Kannst du dir alles merken, was du dort hörst?"
"Vieles. Du nicht?"
"Nein, in der Regel kann ich mir nicht mal merken, dass ich die jeweiligen Dokus schon kenne." Er wandte sich ihr zu und sie errötete unter seinem Blick. "Ich kann prima dabei einschlafen, weil es Ansätze zum Träumen bietet."
"Warum auch nicht", sagte er freundlich und schloss die Augen als die ersten Takte der Doku erklangen.
"Hey, du muss wach bleiben, wenn du dir die Fakten merken willst."
"Wer sagt denn, dass ich mit geschlossenen Augen nichts hören kann?"
"Touché." Auch Lainey lehnte sich entspannt zurück und schloss die Augen.
"Lainey?"
She öffnete ein Auge. "Ja?"
"Hast du vorerst genug Erfahrungen gesammelt?"
Sie dachte darüber nach. Genau genommen kannte sie die Antwort bereits und wollte sich nur ein bisschen Zeit kaufen. Doch was nützte es? Die Antwort blieb mit oder ohne Schleife darum die Gleiche. "Nein."
Er setzte sich ruckartig auf. "Wie ist dein Plan?"
"Ich werde mich wohl an Jason weiter üben müssen. Andererseits", sie trommelte verspielt mit ihren Fingern am Kinn, "ist er ein wirklich netter Kerl. Vielleicht sollte ich erst Erfahrungen sammeln und sie dann sozusagen an ihm ausprobieren. Kannst du dir vorstellen, mir noch ein paar Tipps zu geben?"
"Nein", erwiderte er schroff.
"Vielleicht nur in der Theorie?"
"Nein."
"Entschuldige, dass ich gefragt habe."
"Ich bin dafür einfach nicht der Richtige."
"Wieso? Schnelle Nummern sind doch genau dein Stil, oder nicht?"
"Elaine." Im seiner Stimme klang ein warnender Unterton mit.
"Stimmt doch. Rein, raus, tschüss. Du hast nie eine Freundin mit nach Hause gebracht. Unsere Väter haben schon ihre eigenen Vermutungen angestellt."
Er verzog das Gesicht zu einer schiefen Grimasse. "Welche?"
"Unwichtig."
"Spuck's aus."
"Nur, wenn du mir hilfst, bei Jason zu punkten."
"Lass mich raten: sie denken ich wäre schwul."
Sie spürte wie sich ihr Gesicht zu einer Grimasse verzog. "Du wusstest es."
"Es gab nicht allzu viele Möglichkeiten, nicht wahr?"
"Und? Bist du schwul?"
Einen Moment herrschte Stille, dann erklang Grahams schallendes Gelächter. "Du warst in den letzten Stunden schon dabei als wir uns miteinander vergnügt haben?"
"Wie sagt man so schön? Bisschen bi schadet nie?", fragte Lainey betont lässig.
Grahams Lachen ging in einem Hustenanfall über. "Großer Gott."
Fragend zog Lainey eine Augenbraue hoch.
"Ich bin Vertreter des Grundsatzes 'Freie Liebe für Alle'. Trotzdem fühle ich mich persönlich zu Frauen hingezogen. Nur zu Frauen."
"Dann steht meinem Unterricht doch nichts im Wege."
"Lainey. Lass es uns einfach vergessen."
"Sicher nicht." Wenn sie ihr Ziel erreichen wollte, musste sie jetzt am Ball bleiben. "Du bist erfahren, ich bin es nicht. Du kannst mir was beibringen und nebenbei ein bisschen Spaß haben. Ganz ohne Verpflichtungen. Du musst am Ende nicht Mal umständlich Schluss machen, weil es ja nichts zu beenden gibt."
Graham antwortete nicht. Die Musik des Discovery Channels summte durch die Luft und verleitete Lainey die Augen zu schließen. Dann eben nicht, dachte sie. Zwingen konnte sie ihn schließlich nicht.
Gerade als sie spürte, wie ihr Körper immer leichter würde, griff Graham erneut nach ihrer Hand. "Beckett darf niemals erfahren was passiert ist. Niemand darf davon erfahren."
Sie öffnete die Augen und wandte sich ihm zu. "Alles klar."
"Ich meine das ernst. Du kannst nicht mit deinen Freunden darüber reden. Wenn Beckett das heraus findet, reißt er mir die Eier ab."
"Ja, das wäre wirklich eine Schande."
Mit einem Ruck zog er sie an seine Seite. Sachte strich er erneut über ihre Brust. Auf ihrem ganzen Körper breitete sich eine Gänsehaut aus. "Versprich es."
Sie öffnete den Mund, doch bevor sie etwas sagen konnte, fiel die Haustür ins Schloss.
"Lainey, ich bin zurück", rief Becks. Seinen schweren Schritten zufolge ging er in die Küche.
Graham bewegte sich in ungeahnter Geschwindigkeit. Er zog Beckett's Klamotten an und beugte sich über sie. "Ich gehe in sein Zimmer. Ich war nie hier drin."
Die Schritte näherten sich der Treppe. "Wir haben nie -"
Lainey scheuchte ihn mit einer Handbewegung zur Tür. Sie wusste, dass Becks in wenigen Sekunden auf den Stufen stehen würde und wenn Graham bis dahin ungesehen in sein Zimmer gelangen wollte, blieb nicht viel Zeit für Absprachen.
"Lainey?", rief Becks.
"Los", zischte sie und fuhr sich mit der Hand über das Haar um den Umfang des Schadens einschätzen zu können. Ihr Haar fühlte sich nicht halb so schlimm an wie sie vermutet hatte. Als die schweren Schritte sich ihrer Tür näherten, zog sie ihr Yoga-Shirt zurecht und die Decke hoch. Sie starrte auf den Fernseher.
"Lainey? Was ist los? Warum antwortest du nicht? Geht's dir nicht gut?"
Lainey setzte ein, wie sie hoffte, unschuldiges Lächeln auf und wandte sich ihrem Bruder zu. "Ich war ganz versunken in die Doku. Entschuldige, Becks."
Becks schnaubte. "Du und deine Dokus. Wir war der Abend? Lief alles glatt?"
Nun war es an Lainey verächtlich zu schnauben. "Dank deiner Wachhunde ist mir niemand zu nahe gekommen. Graham versteht es ausgezeichnet einem erst den ganzen Abend lang den Spaß zu verderben und dann auch noch den nächsten Tag zu ruinieren."
Becks zog fragend eine Augenbraue hoch.
"Er hat mich vorsichtshalber nach Hause begleitet und nun liegt er mit einem mittelschweren Kater in deinem Bett und leidet wie ein kleines Mädchen."
"Ich hatte eigentlich nur Harry gebeten, ein Auge auf dich zu haben."
Lainey zuckte mit den Schultern. "Vielleicht hat er sich Unterstützung gesucht. Oder er wollte den Abend selbst etwas genießen."
"Vielleicht frage ich ihn nachher."
"Lass gut sein. Sieh zu, dass du Graham aus dem Haus bekommst. Ich bin schließlich keine Krankenschwester."
Becks blieb einen Moment schweigend im Türrahmen stehen. "Du bist vielleicht nicht einverstanden mit meinen Methoden, aber ich bin froh zu wissen, dass sich dir niemand aufgedrängt hat."
"Du kannst mich nicht vor allem beschützen. Eines Tages wird es einen Kerl geben, den du nicht vergraulen kannst."
Becks schnaubte. "Nicht bevor du 35 bist. Zur Not hole ich mir bei Graham ein paar Ideen, wie ich unerwünschte Gäste loswerde."
Nun war es an Lainey zu schnauben. "Woher sollte er wissen, wie man kleine Schwestern verteidigt? Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, war Harry ein Kerl."
"Wann hast du überhaupt jemals nachgesehen?"
"Das ist nicht der Punkt."
Beckett verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich an den Türrahmen. "Was genau ist der Punkt?"
"Dass Harry kein Mädchen ist."
"Aber Graham hatte genug Weiber um mir zu verraten, welche Drohungen älterer Brüder ihm lächerlich vorkamen und welche tatsächlich Wirkung gezeigt haben."
"Wenn man es so betrachtet, hast du vermutlich recht." Gedankenverloren starrte sie auf ihre Tagesdecke und strich mit dem Finger in Kreisen darüber.
"Was heißt vermutlich? Harry meint, dass er unmöglich noch im zweistelligen Bereich sein kann."
Sie hielt in der Bewegung inne und sah ihren Bruder an. "Im zweistelligen Bereich? Reden wir von Liebesakten oder Gespielinnen?"
"Eindeutig-"
"Hey Becks, hör auf Märchen über mich zu verbreiten", rief Graham durch den kleinen Flur und trat aus Becks Schlafzimmer hervor. "Du machst mich noch zu einer lebenden Legende."
Lainey beobachtet wie ihr sonst so vorlauter Bruder rot anlief. "Sorry, Mann."
Graham betrat Laineys Zimmer, das Gesicht weiterhin Beckett zugewandt. "Pass auf, was du vor ihr sagst. Eh du dich versiehst, geifert sie mir hinterher wie alle anderen. Das kann ich hier Zuhause echt nicht brauchen. Hier will ich meine Ruhe haben." Er zwinkerte Beckett zu.
Dieser verzog angewidert die Miene und stieß Graham ein paar Schritte zurück. "Raus. Hier drinnen haben Kerle keinen Zugang."
"Was du nicht sagst", lächelte Graham nachsichtig. "War schön mit euch zu plaudern, Mädels, aber ich muss jetzt los."
"Blödmann", zischte Lainey und hob zum Abschied ihre linke Hand mit ausgestrecktem Mittelfinger.
Grahams Lachen kam aus tiefer Kehle. "Nicht so frech, Püppchen. Ich bin immer noch sowas wie ein großer Bruder für dich. Also eine Respektsperson."
Beckett musste sich das Lachen verkneifen. Es sah aus als würde er gleich platzen.
"Pah, zum Glück nicht. Nach deinem Rumgejammer den ganzen Tag kann ich dich nicht mehr ernst nehmen. Sorry."
Graham zog eine Augenbraue hoch. "Entschuldige Mal. Ich hab diesen Schwachmaten für dich abgewimmelt."
"Du hast mir den Abend und den ganzen heutigen Tag versaut. Herzlichen Dank dafür."
"Immer wieder gern, Kleine. Wir sehen uns morgen zum Mittag."
Lainey verdrehte die Augen. Natürlich sahen sie sich morgen zum Mittag. Wie jeden Sonntag seitdem sie denken konnte.
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