Reióa
Etwas verwirrt ging Felix durch die Gänge des Schlosses. In diesem Teil Hogwarts' war er noch nie gewesen. Jeden anderen hätte das vielleicht nicht sonderlich überrascht, aber er, Lee und die Zwillinge hatten für vier lange Jahre die Karte des Rumtreibers besessen. Ein wunderbares Stück Pergament, auf welchem jeder Raum, jeder Gang und jeder Mensch der Schule verzeichnet war.
Und trotzdem.
Dies hier war ihm in keinster Weise bekannt. Die Anordnung der Mauern war eine vollkommen andere. Der Grundriss des Schlosses passte gar nicht mehr. Dazu lag eine solch seltsame Aura in der Luft, dass er unwillkürlich seinen Zauberstab zog. In Hogwarts konnte man eine vertraute Wärme spüren. Die Magie, die die Schule durchdrang, strahlte kaum etwas Gefährliches oder Ungewohntes aus.
Doch hier stellten sich seine Nackenhaare auf.
Argwöhnisch musterte er die Türen an beiden Seiten des Ganges und drehte dann langsam einen der Knäufe.
Mit großen Augen starrte er auf die Bücherreihen, die sich vor ihm erstreckten. Diese Bibliothek war...unfassbar.
Die in Hogwarts war nichts dagegen. Ein Klacks. Ein Fleck.
Die kunstvoll verzierten Bücherwände erstreckten sich bis zur Decke. Es waren sicherlich gute zehn Meter.
Und nach hinten führte der Raum sicher doppelt so weit, wie ein Quidditchfeld.
Er ging zu einem der Regale und zog eines der Bücher raus.
„Die Alchemie im Jahre 300"
„Die Wirkung der verschiedenen Zauberstabhölzer"
„Leitfaden zum Stopp der Hexenverbrennungen"
Woher, bei Merlins Bart, stammten solche Werke?
Bei anderen Bändern konnte er nicht einmal die Titel entziffern. Selbst, wenn es lateinische waren, konnte er meistens nur einen Teil lesen. Er war eben kein Ass in diesem Fach.
Verwirrt sah er sich um. Das musste eine Einbildung sein. Er sah an sich herunter und...seine Kleidung war zerissen und blutdurchtränkt. Obwohl er selbst völlig unversehrt war.
DAS DUELL, schoss es ihm durch den Kopf. Dieser Mistkerl musste den Fluch in seinem Buch gelesen haben, als sie sich in der Bibliothek getroffen hatten.
Und im Moment halluzinierte er nur. Das alles war definitiv nur Einbildung!
Er sah sich um. Trotzdem sollte er herausfinden, wo er war. Vielleicht fand er etwas, was ihm beim Aufwachen half.
Es fiel ihm zwar schwer, aber er verließ die Bibliothek, schloss die Tür und ging zur nächsten.
Dieser Raum war völlig leer. So edel, wie der letzte war, so schäbig war dieser. Die Fenster waren einfach nur zwei dünne Schlitze in der Mauer, durch denen eisiger Wind zog. Spinnennetze, wohin man sah und der Kamin sah so aus, als hätte man ihn schon ewig nicht mehr genutzt.
Er schüttelte sich.
Der dritte Raum war fast genauso, nur dass hier mitten auf dem Boden eine helle, kunstvoll geschnitzte Truhe stand. Sie wollte gar nicht so recht hierher passen. Langsam ging er näher und besah sich die Glyphen, die in dem Holz eingearbeitet waren. Die Ecken und Kanten wurden mit bronzenen Beschlägen zusammengehalten.
Er strich bedächtig über das Holz, dann richtete er seinen Zauberstab auf den Deckel.
„Alohomora!"
Enttäuscht ließ er seinen Zauberstab wieder sinken. Man musste die Truhe mit einem besonderen Zauber versiegelt haben. Bittere Frustration machte sich in ihm breit, als er realisierte, dass sein Wissen nicht einmal so weit reichte, etwas zu öffnen, was nicht auf herkömmliche Art und Weiße verschlossen worden war.
Verärgert ging er weiter. Als er um die Ecke bog, bemerkte er, dass der Gang hier breiter wurde. Er blieb für einen winzigen Moment stehen. Dann setzten sich seine Füße wieder in Bewegung.
Als plötzlich dumpfe Schritte an sein Ohr drangen. Nicht nur von einer, sondern von mehreren Personen. Sie schienen von überall und nirgends zu kommen. Laut hallten sie von den grauen Wänden wider.
Bei ihrem Erklingen, war er so sehr erschrocken, dass er für einen Moment gar nicht wusste, was er tun sollte.
Jetzt aber sah er sich hektisch um. Er musste sich verstecken. Jedoch würde er gleichzeitig in Gefahr laufen, entdeckt zu werden.
Es musste etwas Sicheres sein.
Doch die Schritte kamen näher, sie raubten ihm die Zeit, und er hob kurzentschlossen seinen Zauberstab.
„Cave inimicum!", flüsterte leise und hoffte von ganzem Herzen, dass sich wirklich eine unsichtbare Wand vor ihm aufgebaut hatte, die ihn verbarg.
Er drückte sich gegen die kühle Steinmauer des Ganges und wartete ab, ohne sich zu rühren oder einen Laut von sich zu geben.
Die Schritte wurden immer lauter, dann tauchten fünf Gestalten am anderen Ende des Ganges auf. Sie alle fünf trugen braune Kutten, dessen Kapuzen sie weit über ihre Gesichter gezogen hatten. Sie kamen im Gleichschritt näher und gingen schließlich vorüber, ohne ihn zu bemerken. Felix atmete erleichtert aus.
Zu früh.
Die Letzte der Gestalten blieb abrupt stehen. Langsam ging sie ein paar Schritte zurück und blieb genau auf Felix' Höhe stehen.
Der Junge hielt die Luft an und ballte seine Hände konzentriert zu Fäusten.
Doch dann drehte sich die Gestalt zu ihm und er konnte direkt in ihr Gesicht sehen. In sein Gesicht.
Buschige Augenbrauen, eine kurze, stummelige Nase und ein langer Vollbart.
Er hatte seine Augen geschlossen, doch als er sie wieder aufriss, schien er nicht mehr durch Felix hindurchzusehen. Jetzt sah er ihn direkt an.
Jedenfalls kam es Felix so vor. Schließlich war ja immer noch die Wand zwischen ihnen.
„Quis es?"
War das...LATEIN?
Zwar war diese Sprache nach dem Jahre 500 in Europa verbreitet worden, aber warum man sie jetzt noch sprach, war ihm ein Rätsel.
„Quis es?", wiederholte der Mann etwas lauter und kniff seine tiefbraunen Augen zu kleinen Schlitzen zusammen.
Bedeutete das...'Wer bist du?'
Felix erkannte das erste Wort.
Aber wie hatte er ihn überhaupt sehen können?
Langsam wich er ein Stück zurück. Doch dabei knirschte der Boden unter seinen Schuhen, sodass sein Gegenüber noch ein Stück näherkam. Und langsam hob er seine Hand.
„Ubi es?", zischte er leise und seine Augen funkelten bedrohlich.
'Wo bist du?'
Wie hatte Felix nur in diese Lage geraten können?
Gleich würde der Kerl die Wand berühren. Und wenn er ihn hinter dieser schon aufgespürt hatte, dann würde er den Zauber auch brechen. So viel war klar. Es war so sicher, wie Veritaserum.
Langsam hob Felix seinen Zauberstab.
„Obliviate!", flüsterte er dann leise, in der Hoffnung, ihn nicht sein ganzes Leben...er keuchte, als eine Reihe von Bildern vor seinem inneren Auge vorbeizog. Es war, als würde er die letzten Sekunden noch einmal rückwärts vor sich vorbeiziehen sehen. Das war ja der Hammer.
Doch dann konzentrierte er sich angestrengt auf die Erinnerung, welche er vergessen sollte und ließ schlussendlich den Zauberstab schnell wieder sinken.
Hatte es funktioniert?
Es wäre fatal, wenn nicht.
Der Fremde hielt inne, starrte kurz verwirrt geradeaus und schüttelte dann seinen Kopf. Schnell ging er weiter.
Diesmal wartete Felix, bis er weg war, dann sah er zu, dass er von dort verschwand. Er bog um Ecken und lief durch dunkle Korridore. Aber er fand keinen Weg nach draußen.
Und schließlich kam er an eine mit Runen bedeckte Tür und ganz vorsichtig drückte er sie auf. Bei so etwas sollte man nie vorschnell handeln.
„Du hast dir ja reichlich Zeit gelassen."
Felix erstarrte. An dem Schreibtisch zu seiner Rechten saß der Mann aus seinen Träumen. Diese Stimme hätte er jederzeit wiedererkannt.
Doch das wahrlich Schockierende war das riesige Feld auf der anderen Seite einer Durchgangstür. Es sah zwar verrückt aus, doch Felix sah sowieso nur, wie gebannt auf den knorrigen Baum.
Der Mann schien das zu bemerken, denn mit einem flüchtigen Handschwenk seinerseits fiel die Tür ins Schloss. Dann fuhr er seelenruhig mit seiner Arbeit fort. Er ließ eine große Feder über Pergament schweifen.
„Bist du jetzt etwas vernünftiger?", fragte er nebenbei und Felix runzelte seine Stirn.
„Was soll dass denn bitteschön heißen?", fragte er gereizt und ein leises Kichern drang aus der Kehle des Mannes.
„Eher nicht. Du hast meinen besten Lehrling die letzten fünf Minuten seines Lebens vergessen lassen."
„Einen Ihrer Lehrlinge? Es gibt mehr von Ihrer Sorte?"
Er lachte.
„Natürlich gibt es mehr von meiner, wie du dich ausdrückst, Sorte. Es sind ganz normale Zauberer. Und als Schüler schon dazu in der Lage, die Aura einer Person oder von Magie wahrzunehmen. Nun ja, ein bisschen mehr vermögen sie schon zu tun. Sie sind weiter, als du, mein Junge. Fast. Weiter, als die meisten Zauberer auf jeden Fall."
„Was ist das für ein Buch?"
„Du lässt nicht locker, was?"
Felix konnte das Feixen förmlich vor sich sehen.
„Sie wollen es doch so! Erst kurz nach den Ferien musste Sie mir ja sogar am hellichten Tag auf die Nerven gehen."
„Ja?"
„Tun Sie nicht so blöd!", fauchte Felix, „Sie wissen genau, was Sie tun!"
„Ich danke dir."
„Das war kein Kompliment."
„Weißt du. Dafür, dass du etwas von mir willst, bist du mir gegenüber nicht gerade liebenswürdig", kam die Antwort.
Die belustigte Stimme hatte einen schneidenden Unterton angenommen. Er schwieg für einen kurzen Moment, dann fuhr er sachlich fort:
„Wusstest du, dass das Holz des Holunders, der da draußen steht, für meinen Zauberstab benutzt wurde?"
Er deutete in die Ecke des Raumes, in dem ein langer Wanderstab stand.
„Das ist Ihr...Zauberstab?"
Wieder kicherte er.
„Als Schüler hatte ich einen...normalen. Mit diesem lässt sich einfach die Magie viel effektiver bündeln. Ich betreibe nicht solchen Hokuspokus, wie die Meisten von euch, Junge, ich benötige ihn."
Felix knirschte mit den Zähnen und entschlossen hob er seinen Zauberstab.
„Du weißt, dass das bei mir nichts bringt", seufzte der Mann gelangweilt, ohne auch nur aufzublicken, „Wir waren schon so weit."
„Sie meinen bei dem Hokospokus? Concretione Ilico!"
Er hob seine Hand, um den Fluch abzuwehren, hatte aber natürlich keine Ahnung, wie er funktionierte.
Mit einem triumphierenden Lächelnd sah Felix auf den Erstarrten, die eine Hand erhoben, in der anderen immer noch die Feder, dann ging er eilenden Schrittes auf die Tür zu. Sie war auf.
Und er hatte zehn Minuten. Zehn Minuten, in denen er herausfinden konnte, was in dem Buch stand. Wie es danach weiterging, würde er dann schon sehen.
~
Schwer atmend war er bei dem Holunder angekommen und stemmte für einen Moment seine Fäuste in die Seite. Nur kurz wieder zu Atem kommen.
Dann ging er um den Baum herum und stellte sich vor den steinernen Sockel. Das Buch lag immer noch darauf.
Vorsichtig strich er über den trockenen Stoff. Er war dunkler, als er es in Erinnerung hatte und fast hatte er Angst, das Buch zu beschädigen, wenn er zu viel Druck auf den Einband ausübte.
Doch dann öffnete er die Schnalle und schlug die erste Seite auf.
Sie war leer.
Nur das vergilbte Papier leuchtete ihm entgegen. Er blätterte auf die nächste Seite. Hier war eine Rune aufgezeichnet. Reióa.
Hieß das Buch so?
Er runzelte seine Stirn. In Hogwarts lernten sie eher neuere Runen kennen, höchstens bis in das Jahr 1000, da diese von der herkömmlichen Magie zeugten und genauere Aussagen hatten.
Diese hier konnte viel bedeuten.
Wissen. Macht. Reichtum. Sogar Heilung.
Aber allein für den ersten Punkt lohnt es sich, einen genaueren Blick in das Buch zu werfen.
„ZURÜCK!", schrie eine gellende Stimme und er zuckte zusammen
„Das ist unmöglich", murmelte er, als er den Mann auf sich zukommen sah.
„ZURÜCK, DU NARR! WIE KANNST DU ES WAGEN?"
Aber nicht die Tatsache, dass er sich so schnell aus der Erstarrung befreien konnte, schockierte ihn so sehr. Höchstwahrscheinlich hatte das etwas mit der Begabung des jeweiligen Magiers zu tun.
Es war sein Aussehen...das ließ Felix' Blut in den Adern gefrieren. Es war, als würde flüssiges Quecksilber durch seine Adern laufen.
Die Kapuze des Mannes war heruntergerutscht und jetzt konnte man die auf die Schultern fallenden, strähnigen, braunen Haare sehen, die etwas auf seiner Schläfe verdeckten.
Ein Mal. Ein Mal, welches fast so aussah, als hätte ein Drache es ihm zugefügt. Vier einzelne, rote Striemen, die sich über die Haut zogen.
Und jetzt wusste Felix auch, wo er diese grauen Augen schon einmal gesehen hatte.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top