Das Buch
Als er wieder den Schlafsaal erreichte, hämmerte sein Herz wie wild gegen seine Brust. Drei Mal war er Peeves begegnet und ein Mal war er auf Mrs Norris' Schwanz getreten. Dieses Gejammer hatte er noch drei Gänge weiter gehört.
Er setzte Marlow wieder in sein Fach, ließ sich auf den Boden neben seinem Bett fallen und atmete tief durch. Dann bemerkte er, dass er den Umhang noch trug und zog ihn schnell von seinem Kopf.
Es war knapp gewesen. Aber er hatte es geschafft.
Mit zittrigen Händen legte er das Buch vor sich auf den Boden. Er konnte immer noch nicht fassen, dass er es gefunden hatte.
Er warf einen prüfenden Blick auf die Silhouetten seiner Freunde, die sich im schwachen Dämmerlicht des Mondes deutlich abzeichneten. Dann nahm er seinen Zauberstab zur Hand.
„Lumos!", flüsterte er leise und die Spitze des Zauberstabes leuchtete auf.
Ehrfürchtig strich er über den Stoff des alten Buches. Allerdings war seine Neugierde noch größer, als die Vorsicht und er öffnete die Schnalle. Endlich würde er wissen, was darin stand. Er klappte die erste Seite auf.
Trockenes, vergilbtes Papier schien ihm wie beim ersten Mal entgegen. Er blätterte auf die zweite Seite und warf einen kurzen Blick auf die Rune.
Er blätterte weiter und...runzelte seine Stirn. Leer.
Er schlug die nächste Seite um. Und die nächste. Leer, leer, leer. Alles war leer. Das...konnte nicht wahr sein! Er legte den Zauberstab achtlos auf den Boden und hob es auf, um von vorne nach hinten durchzublättern. Es blieb dabei. Die Seiten waren leer.
Ein Zauber, schoss es ihm durch den Kopf und er griff wieder nach seinem Zauberstab.
„Revelio!"
Er tippte mit dem Stab auf die Seiten, aber nichts veränderte sich.
„Aparecium!"
Immer noch nichts.
Er wiederholte den Spruch, aber das Buch ließ sich nicht dazu zu bringen, seine Geheimnisse zu offenbaren. Das war doch zum aus der Haut fahren. Ob dies wieder so ein Scherz des Man...seines zukünftigen Ichs war?
Er stöhnte leise.
Dann fiel ihm ein Spruch des Halbblutprinzen ein.
„Specialis Revelio!"
Sozusagen die Erweiterung des Enthüllungszaubers. Er hielt seinen Atem an, als dünne schwarze Linien das Papier durchzogen, dann aber wieder erloschen. Sein Herz machte einen Satz. Er hatte den richtigen Spruch gefunden.
„Specialis Revelio!", sagte er etwas lauter. Hoffentlich wachten die Jungs nicht auf. Und dieses Mal zeichneten sich deutlich kleine Texte in Form von seltsamen Zeichen und alten Runen ab, die er zuvor noch nie gesehen hatte. Nur einige wenige kannte er, aber der Großteil wurde sicher vor Jahrhunderten verwendet.
Er sah zu den Schlafenden bevor er sich am Kopf kratzend darüber beugte.
„Was ist das?", murmelte er und versuchte, die Zeichen zu entziffern.
Das Fach Alte Runen brachte ihm zum ersten Mal in seinem Leben wirklich etwas, aber der Großteil...unlesbar. Er setzte sich in eine andere Position und nahm das Buch in die Hand.
Die Stärke der Runen wächst mit der Macht ihres Meisters oder ihrer Meisterin. Hieß...mit ein bisschen Glück konnte er die Runen entziffern. Aber ob es ihm auch etwas bringen würde?
Das war eine ganz andere Frage.
Jedoch...er konnte es wenigstens versuchen. Es kostete ihn ja nichts.
Erster Satz. Er kniff seine Augen zusammen.
Die erste Rune, die er kannte, war Fehu.
Sie verbildlichte das Feuer, welches das Chaos gebar. So ziemlich alles, was sich bewegte, alles, was der Mensch haben konnte.
Die zweite Rune war...Gebo. Die Rune der Gabe. Wenn er sich denn richtig erinnerte.
Diese Rune erinnerte den Menschen daran, immer das Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen zu wahren. Sie hält ein Geschenk für alle bereit, erwartete aber auch eine Gegenleistung.
Zum ersten Mal in seinem Leben dankte er Merlin für Bathsheda Babbling.
Er sah für einen Moment aus dem Fenster an den Nachthimmel und las dann weiter.
Hagalaz. Automatisch erinnerte er sich an Babblings Worte:
„Wie ein Hagelschauer kommt Hagalaz auf die Menschen hernieder. Sie ist die Rune der Transformation. Dinge enden und beginnen neu. Etwas findet sein Ende oder erneuert sich aus sich selbst heraus. Man wird das kaum beeinflussen können. Einem wird jedoch der Mut gegeben, diesen Weg zu gehen."
Aus irgendeinem Grund erinnerten Felix diese Worte an einen Phönix. Das Sinnbild der Wiedergeburt, wenn man es so wollte.
Konzentriert kramte Felix während dem Lesen nach den verschiedensten Bedeutung der verschiedensten Runen, ohne zu bemerken, dass sich etwas veränderte.
Er begann, auch diese lesen zu können, von denen er zuvor noch nie etwas in seinem Leben gehört hatte.
Perthro, Tiwaz, Mannaz und sogar die Rune Dagaz.
Und dann kamen die Zeichen, dessen Bedeutung er kannte, ohne überhaupt ihren Wortlaut zu kennen. Er wusste einfach, was und wie sie es ihm sagen wollten.
Meistens sprachen sie von uraltem Wissen und dem Beherrschen dieser Künste und er wusste, dass ihn das so sehr faszinierte, dass er es auch wollte.
Als er dann aber bei einer Seite ankam, auf der nur ein einziger Satz stand, stoppte er. Was hatte dieser zu bedeuten?
Im Grunde bestand er nur aus vier Symbolen.
Das Wissen, allein für den Erben bestimmt.
Gedankenverloren strich er darüber. Was war so besonders daran?
Und im nächsten Moment zuckte er aufs Heftigste zusammen, als es ihn wie ein Blitz durchfuhr. Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt und dann fing sein ganzer Körper an unkontrolliert zu zittern.
Er konnte nicht dagegen tun, stattdessen sah er die verschiedensten Bilder vor seinem inneren Auge vorbeiziehen.
Und das in einer solchen Schnelligkeit und so verworren, dass er entsetzt aufsprang. Das Buch glitt ihm dabei aus den Händen und fiel auf den Boden, wo es offen liegen blieb.
„Fe? Was ist denn los?", erklang eine schläfrige Stimme und zu seinem Erschrecken stellte er fest, dass er sie kaum mehr zuordnen, geschweige denn lokalisieren konnte. Als hätte man ihn mit einem Imperturbiato-Zauber belegt.
Und darauf reagieren konnte er erst recht nicht.
Wie festgenagelt stand er da und starrte zitternd an die gegenüberliegende Wand. Er blinzelte, versuchte die Orientierung wiederzuerlangen, doch die Bilder wurden immer schneller und schneller. Immer verschwommener und schemenhafter und inzwischen drehte sich der ganze Schlafsaal. Er wusste nicht mehr, wo oben und unten war.
„Fe? Ist alles gut? Felix? Felix!"
Die Stimme erhob sich und kurz darauf erschien eine Gestalt vor ihm, die ihn an den Armen packte und schüttelte.
„L...Lee?", brachte er unter größter Anstrengung hervor, bevor er keuchend auf die Knie fiel.
„Felix! Ich bin Fred!"
Nach Luft schnappend suchte Felix nach Worten, brachte aber kein einziges heraus. Sein ganzer Körper verkrampfte sich, sodass es ihn heftiger schüttelte, als an den Tagen, an denen er mit Keuchhusten im Bett liegen musste.
„George! Lee! Schnell! Ich glaube, er hat einen Anfall! Holt Hilfe, na los!", drang es leise an sein Ohr.
Jegliche Farbe entwich ihm und mit weit aufgerissenen Augen und blutleeren Lippen wollte er nach seinem Freund rufen. Wollte, dass er ihm half. Dass er machte, dass es endlich aufhörte. Wollte ihn anflehen, aber...es ging einfach nicht.
Sein Kopf sackte ab. Er konnte nur noch auf das Buch achten, das zwischen ihm und Fred lag. Der Satz schien zu pulsieren und sich regelrecht in sein Hirn zu brennen.
Er stieß einen stöhnenden Laut aus.
Dann verschwand die Welt in einem weiteren Schwall aus Formen und Farben.
Er hörte Fred weiterhin auf sich einsprechen und überlegte fieberhaft, wie er reagieren sollte. Ein Handheben, ein Nicken...irgendetwas.
Sein Kopf dröhnte, mittlerweile schwitzte er am ganzen Körper und schließlich drang ein leises Krächzen über seine Lippen.
Das war alles. Nicht mehr. Es war zum Verzweifeln.
Und dann hörte plötzlich alles auf.
In seinem Kopf herrschte nur noch dunkle Leere, das Zimmer stand urplötzlich erschreckend still und wie ein Kartenhaus fiel alles in ihm zusammen. Alles in ihm und er selbst auch. Er spürte gar nicht, wie er hart auf den Boden aufschlug. In seinen Ohren klang nur das dumpfe Geräusch eines Aufpralls nach.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte er geradeaus, ohne wirklich etwas wahrzunehmen.
„Aus dem Weg!", zischte es im nächsten Augenblick und er wurde an den Schultern
nach oben gerissen.
Erleichtert stellte er fest, dass diese Stimme schon deutlich lauter gewesen war
und...dass er anscheinend wieder dazu fähig war, einzelne Gedanken zu fassen.
Lupins Gesicht erschien in seinem Blickfeld. Der Professor schüttelte ihn heftig.
„Felix! Felix, hörst du mich?"
Felix schloss seine Augen und nickte langsam. Tat er das wirklich oder ließ er seinen Kopf einfach nur nach unten fallen?
Anscheinend schon, denn Lupin atmete tief durch, immer noch voller Sorge.
Aber dann wich die Anspannung der Wut und Felix riss seine Augen wieder auf, als Lupin ihn mit der flachen Hand ins Gesicht schlug.
„Du...", begann er bebend vor Zorn, „...WAS IST DAS FÜR EIN BUCH? WEIßT DU EIGENTLICH, WAS ALLES HÄTTE PASSIEREN KÖNNEN? WAS FÄLLT DIR EIN?"
Er deutete nach unten. Felix kam langsam wieder zu Sinnen und folgte seinem Blick. Der Professor schien es gewesen zu sein, der das Buch zugeschlagen hatte.
Und dann fiel ihm auf, dass er ihn noch nie hatte schreien hören. Bisher hatte er noch nicht einmal seine Stimme erhoben. Und jetzt...hatte er ihm sogar eine Ohrfeige gegeben. Felix realisierte das alles erst nach und nach.
Er sah wieder auf und öffnete seinen Mund. Irgendetwas musste er sagen. Irgendeine Entschuldigung. Eine Erklärung, weshalb dieses Buch hier bei ihm lag.
Aber ihm fiel kein einziges Wort ein. Sein Kopf war wie leergefegt. Also schloss er den Mund wieder.
Lupin wandte sich zu Fred.
„Nimm das Buch und pass ja auf, dass es auch verschlossen bleibt. Hast du mich verstanden?"
Fred nickte.
„Ja, Professor", sagte er leise und hob das Buch vom Boden auf.
Lupin selbst zerrte Felix auf die Beine, welche sofort wieder einknickten. Nach einigen weiteren Versuchen stand er dann relativ fest auf dem Boden.
„Ihr geht wieder schlafen! Fred, du kommst mit!"
Die Jungen wagten es nicht, ihm zu widersprechen. In diesem Moment wäre das wahrscheinlich reiner Selbstmord gewesen.
Lupin setzte sich in Bewegung und verließ den Schlafsaal.
„Alle sofort zurück in eure Betten!", zischte er den aufgewachten Schülern zu und der Ton veranlasste sie, der Aufforderung umgehend Folge zu leisten.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top