Die Unterbrechung
„Hey, wir sind in der gleichen Gruppe!"
Ich zucke zusammen und reibe mir das Ohr. „Wie kannst du so früh am Morgen schon so laut sein?", beschwere ich mich.
Maxim lacht nur. „Sei nicht so miesepetrig, Mirko. Freust du dich nicht, dass wir wieder in die Gärtnerei dürfen?"
„Das würde ich vielleicht, wenn ich die Gelegenheit hätte, es selbst zu entdecken", schnauze ich meinen Freund an. „Ich war noch nicht soweit." Aber fast im selben Moment finde ich meinen Namen auf der entsprechenden Liste. „Wir sind auf den Roggen- und Weizenfeldern im Sektor 15 eingeteilt. Stimmt, die sind jetzt reif zur Ernte."
„Und ich muss wieder zur Giftherstellung", mault Nadja, die mit uns die Listen am morgendlichen Aushang durchgeht. „Das geht mir so auf die Nerven. Ich bin abends immer so verdreht danach. Die Dämpfe sind so ... ich kann euch das gar nicht beschreiben."
„Könnt ihr mich irgendwo sehen?", piepst es von unten. „Ich finde mich nirgendwo."
Ich sehe nach unten. „Du stehst direkt vor mir", teile ich in Richtung des brandroten Wuschelkopfes auf ungefährer Höhe meiner Brustwarzen hinab. „Und nebenbei gesagt auf meinem Fuß."
Daraufhin bekomme ich einen Tritt ans Schienbein. „Du weißt genau, was ich meine", mault Anuschka. „Auf den unteren Listen bin ich nicht."
„Dann steh hier nicht länger im Weg rum!" Eine Frau aus einer anderen Sektion schubst Anuschka zur Seite. „Es wollen noch andere sehen, wo sie heute arbeiten!"
Ich packe Anuschka bei den Hüften, hebe sie über meinen Kopf und reiche sie dem hinter mir stehenden Maxim. „Nimm sie mal, ich sehe für sie nach."
„Du kannst dich auch da verpissen!" Die Frau rempelt mich mit voller Wucht an, was mich jedoch nicht im Mindesten tangiert. Einen Zwei-Meter-Mann kann man nicht so einfach umstoßen wie den anderthalbfachen Meter Anuschka.
„Mensch, hau ab da!" Jetzt drängelt auch eine zweite Frau mit. Ich lasse mich nicht stören und überfliege weiterhin die Arbeitslisten am Aushang, bis ich Anuschkas Namen entdecke. „Rauchbomben, Sektor 8", teile ich ihr mit.
„Menno, die bringen mich immer zum Husten", auch Anuschka ist mit ihrer Einteilung nicht zufrieden.
„Guck auch gleich für Kosma nach, der hat wieder mal verpennt", bittet mich Nadja. Den finde ich schnell. „Der kommt mit auf die Felder. Auch Sektion 15." Ich räume nun den Platz für die beiden rabiaten Frauen und folge meinen Freunden in den Frühstücksraum.
Auf halbem Weg stolpert uns ein schlaftrunkener Kosma in den Weg. „Halt!" Ich packe ihn an den Schultern und drehe ihn in Richtung Essraum. „Zum Aushang musst du nicht mehr, wir haben für dich nachgesehen."
„Danke dir", Kosma wirft einen Blick zum Aushang, vor dem sich die Menschen unter heftigen Schieben und Stoßen drängeln. „Geht ja mal wieder wild zu da."
„Wir sollten in Zukunft einfach Mirko für uns alle gucken lassen", schlägt Maxim vor und nimmt sich ein Tablett. „Den schubst keiner so leicht weg."
Maxim ist zwar kaum kleiner als ich, aber wesentlich leichter. Und der zierliche Kosma hätte in dem Gedrängel kaum eine Chance. So schlecht finde ich die Idee nicht.
„Nur schade, dass wir ihm dann nicht im Gegenzug schon mal Frühstück beschaffen können", meint Anuschka. „Aber die passen da ganz genau auf."
Wie genau, beweist der Koch hinterm Tresen in diesem Moment. „Also?", schnauzt er Maxim an, der als vorderster von uns an der Schlange steht. Der zuckt zusammen. „Tut mir leid", entschuldigt er seine Unaufmerksamkeit. „Maxim, Sektion 4, heute zur Landarbeit in Sektion 15."
Daraufhin schiebt ihm der Koch einen Teller mit vier Blinis hin, zwei Äpfel, vier Scheiben Roggenbrot, zwei Butterpäckchen, eine Ecke Kostromskaya und eine Flasche Wasser.
Nadja ist die nächste. „Nadja, Sektion 4, heute Sektion 23, Gärung." Diese Auskunft verschafft ihr zwei Blinis, einen Apfel, drei Brotscheiben, einmal Butter, ein Schälchen Erdbeermarmelade und das obligatorische Wasser.
„Anuschka, Sektion 4, heute Sektion 8, Rauchbomben". Dafür bekommt unser Küken zwei Blinis, eine Birne, zwei Scheiben Brot, Wasser und ein Schälchen Käse-Eier-Aufstrich.
„Kosma, Sektion 4, heute ..." Kosma stockt und ich ergänze: „Sektion 15, Landarbeit." Der Koch wirft uns zwar einen misstrauischen Blick zu, überreicht Kosma aber dennoch drei Blinis, zwei Birnen, drei Brotscheiben, Butter und eine Ecke Kostromskaya.
Dann bin ich dran. „Mirko, Sektion 4, heute Sektion 15, Landarbeit". Der Koch blickt zu meiner Höhe von einem Meter 98 hinauf, mustert meine breiten Schultern und seufzt. Ich bekomme fünf Blinis, zwei Birnen sowie einen Apfel, viermal Roggenbrot, zweimal Butter, einen Würfel Druschba, etwas Rübensirup und einmal Käsesalat. Und zwei Flaschen Wasser.
„Ich finde das ungerecht, dass du immer soviel bekommst", meint Nadja auf dem Weg zu einem Tisch, der für uns ausreicht.
„Dafür kann er nichts!" Anuschka verteidigt mich sofort. „Die Köche sehen seine Masse und denken, die muss ja erhalten werden."
„Außerdem teilt er ja immer mit uns", springt Kosma ihr und mir zur Seite. „Dir geht also nichts ab." Er greift nach meinem Druschba. Im Gegensatz zu mir liebt er Schmelzkäse.
„Ich werfe Mirko ja nichts vor. Ich finde es nur ungerecht, dass die Köche so strikt einteilen." Nadja schiebt ihren Apfel zu Anuschka und nimmt sich dafür eine von Kosmas Birnen.
Ich zucke die Schultern. „Sie können keine Reste riskieren. Wir haben wenig genug und müssen ja auch noch die Soldaten miternähren, die da oben für uns kämpfen." Ich schnappe mir Kosmas Kostromskaya und säble mir einige Scheiben von dem festen Käse ab.
„Ja", steuert Maxim nachdenklich bei. „Eigentlich haben wir Glück, dass wir hier unten sein können und nicht kämpfen müssen. Gerade bei mir und Mirko habe ich damit gerechnet, dass sie uns einziehen, aber das haben sie nicht getan." Er schiebt seine Blinis zu Anuschka und greift dafür nach ihrem Brot.
„Davor hatte ich auch furchtbare Angst", stimmt Anuschka zu und schielt zu mir. „Darf ich deinen Sirup haben?"
„Natürlich", ich mache mir nichts aus Süßem. Anuschka träufelt das klebrige Zeug sofort auf ihre Blinis, mitsamt Nadjas Marmelade. Die bestreicht ihr Brot dafür mit Anuschkas Käse-Eier-Gemisch und schiebt mir den Rest rüber.
„Danke", ich rolle dafür eine meiner Birnen zu Nadja hinüber und den Apfel zu Kosma. „Ich kann mich aber nicht erinnern, dass sie überhaupt jemanden eingezogen haben. Meine Baba erzählte mir noch, dass ein Bruder ihres Vater geholt wurde. Aber seitdem haben sie keine Soldaten mehr aus unserem Bunkerkreis geholt." Ich bestreiche meine Brote mit Butter und Käseaufstrich.
„Und von den anderen Bunkern erfahren wir nichts." Maxim beißt krachend in einen Apfel. „Manchmal frage ich mich, ob die überhaupt noch existieren. Wir produzieren viel mehr Nahrung als wir für unseren Kreis und die uns zugeteilten Regimenter brauchen und trotzdem wird so streng rationiert. Ich fürchte, wir versorgen die anderen Soldaten mit."
„Das wäre sehr schlecht", Nadja beißt von ihrem Blini ab. „Dann werden sie auch bald anfordern, dass wir uns stärker vermehren, damit wir die anderen Bunker wieder auffüllen können." Ein Schatten fliegt über ihr Gesicht. Nadjas Zwillingsschwester Renata ist mit sieben Jahren zu einem kinderlosen Ehepaar in einen anderen Bunker verbracht worden und Nadja vermisst sie noch immer.
„Ich will nicht, dass sie uns auseinanderreißen", Kosma mümmelt an seiner Birne herum. „Sie können dann doch eine ganze Sektion verlegen. Wir haben immerhin sieben Wohnsektionen und die meisten sind voll belegt. Da kennen sich die Leute dann wenigstens. Aber meistens holen sie nur die Kinder aus sehr kinderreichen Familien ab, damit sie die anderen Bunkerkreise verstärken." Kosma hat zwei ältere Brüder, die ebenfalls „verlegt" worden sind. Das war schon vor seiner Geburt. Seine Eltern waren sehr froh, dass sie neben Kosmas Schwester dann auch ihn behalten durften.
„Ich fürchte, darauf legen sie ..." Nadja wird von einem Knacken unterbrochen. Das Kriegsradio schaltet sich wieder einmal an.
„Moskau: Im Verteidigungsministerium wurde eine deutsche Spionin enttarnt. Die Frau hat wohl bereits seit einigen Monaten Informationen an die Nazis weitergegeben. Glücklicherweise wurde sie recht früh entdeckt und hatte noch keine Gelegenheit, an besonders wichtige Daten zu kommen. Die Deutsche wurde unverzüglich festgesetzt und dem Gericht übergeben.
Der Regierungssprecher verurteilte Deutschlands Vorgehen scharf und forderte ein weiteres Mal den Rückzug deutscher Truppen von russischem Staatsgebiet sowie die unverzügliche Einstellung von Spionage und Sabotage. Deutschland antwortete darauf, dass es den Krieg solange weiterführen werde, bis Russland „von Gottes Erdboden getilgt sei und überall die Herrenrasse herrsche".
Der Präsident verspricht der Bevölkerung, dass dies niemals passieren wird. „Die Nazis wollen die ganze Welt übernehmen, aber Russland werden sie niemals bezwingen, dank unserer starken Armee, vor allem aber dank unserer tapferen Bevölkerung, ohne deren Unterstützung es uns nicht möglich gewesen wäre, diesen Krieg so lange durchzuhalten", versicherte er. „Ich bedanke mich bei jedem Russen, ob dieser nun Feldfrüchte erntet, Schutzwesten näht oder Munition produziert – jeder Beitrag ist wichtig! Gemeinsam werden wir siegen und die Nazis in die Knie zwingen!"
Kiew: Die Nazi-Terrororganisation „Ukraine für immer!" hat einen weiteren Anschlag auf eine Bahnstrecke verübt. Dabei wurden die Schienen auf zwanzig Meter stark beschädigt. Offensichtlich war geplant, die Bahnstrecken zwischen Mariupol und Kiew auf eine Länge von mehreren Kilometern zu zerstören. Dank eines Hinweises aus der Bevölkerung trafen die Einsatzkräfte rechtzeitig am Tatort ein und konnten weitere Beschädigungen verhindern. Bei diesem Einsatz wurden drei der Attentäter getötet und vier schwer verletzt. Unter den Einsatzkräften gab es keine Opfer.
Der Gouverneur der Oblast Ukraine drückte sein Bedauern über dieses Geschehen aus. „Leider ist es uns trotz unserer regierungstreuen Bevölkerung noch nicht gelungen, alle Zellen dieser Terroristen aufzulösen, die ich als ein Überbleibsel aus der Nazizeit der Ukraine bezeichnen möchte. Die Regierung weiß jedoch, dass wir unser Möglichstes tun, unsere unrühmliche Vergangenheit hinter uns zu lassen. Dass bei diesem Anschlag ein Hinweis aus der Bevölkerung den Ausschlag gab, dass die Terroristen verhaftet werden konnten, ist ein weiterer Beweis dafür."
Ulaan-Bator: In der Oblast Mongolei wurde heute eine neue Munitionsfabrik eröffnet. Die Sektion 108 des Kreises Changai wurde eigens dafür neu eingerichtet. Changai zählt mit vier Wohnsektionen und den jetzt insgesamt 108 Sektionen zu den kleineren Kreisen, leistet aber einen wertvollen Beitrag zu unserem gerechten Krieg.
Athen: Das den Naziregimes angehörige Griechenland hat im Mittelmeer ein weiteres Mal versucht, einen Nahrungsmitteltranport von Sewastopol nach Mogadischu abzufangen. Den begleitenden Kreuzern des Typs Kirow gelang es jedoch, die griechischen Fregatten in die Flucht zu schlagen.
Griechenland produziert pro Jahr einen Weizenüberschuss von geschätzt 50 Milliarden Tonnen. Seit Jahren bemüht es sich, die Hilfstransporte Russland an die hungernde Bevölkerung Somalias zu unterbinden. Damit will es erreichen, dass Somalia auf den wesentlich teureren Weizen Griechenlands angewiesen ist und sich in diesem Krieg auf die Seite der Nazis schlägt. Trotz des furchtbaren Hungers im eigenen Land hat sich Somalia bisher stets geweigert, seine Demokratie aufzugeben und ein nationalsozialistisches Regime nach dem Vorbild des Westens zu errichten.
„Wir werden weiterhin treu zur Demokratie, ihren Werten stehen und Russland unterstützen, welches die Werte im Namen aller Rechtsstaaten verteidigt", verkündete der somalische Präsident erst kürzlich bei einem Treffen mit dem russischen Außenminister. Dieser versprach der notleidenden afrikanischen Republik weitere umfangreiche Lebensmittellieferungen."
„Naja, jetzt weißt du, warum ihr soviel ernten müsst", bemerkt Nadja, als das Radio schweigt. Maxim stimmt ihr zu. „Die Nazis versuchen schon seit langem, Afrika auszuhungern, damit es sie unterstützt. Vermutlich brauchen sie die Afrikaner als Kanonenfutter, damit sie nicht ihre eigene kostbare Haut riskieren müssen. Diese Schweine!" Er spuckt aus.
„Lass den Scheiß!" Nadja opfert einen Schluck aus ihrer Flasche und ihr Taschentuch, um den Tisch zu säubern. „Ich mag sowas nicht. Auch wenn du recht hast. Vielleicht begegnest du mal einem aus dem Westen, dann kannst du den anspucken. Da würde ich sogar mitmachen!"
Anuschka sieht zu mir hin. „Was ist, Mirko? Du siehst so nachdenklich aus."
„Ja", gebe ich zu. „Ich überlege. Der Sprecher hat doch gesagt, Changai hätte jetzt 108 Sektionen?"
„Willst du hingehen und sie nachzählen?"
„Haben sie nicht vor einigen Wochen von einen Brand in der 141. Sektion von Changai gesprochen?" Ich bin mir ziemlich sicher, mich daran zu erinnern. Sowohl an den Namen Changai, den ich noch nie gehört habe als auch an die Zahl. Ich habe ein gutes Gedächtnis für Zahlen.
Maxim lacht mich aus. „Das kann ja nicht sein, wenn es diese Sektion gar nicht gibt. Es wird ein anderer Kreis gewesen sein."
Kosma runzelt die Stirn. „Ich weiß nicht. Ich glaube, Mirko hat recht. Ich erinnere mich nämlich auch an die Nachricht und ich meine auch, mich an den Namen Changai zu erinnern."
Nadja öffnet den Mund, kommt aber wieder nicht zu Wort. Der Radiosprecher scheint es heute darauf abgesehen zu haben, ihr das Wort abzuschneiden.
„Moskau/Washington: Der amerikanische Diktator hat zum wiederholten Male ein Friedensangebot Russland abgewiesen. „Frieden kann es nur geben, wenn wir auch die letzte russische Seele in den Himmel befördert haben", erklärte er bei einer Pressekonferenz. „Und nach Russland werden alle jene Völker kommen, die nicht arischer Herkunft sind. Wir werden jedes lebensunwerte Leben vernichten."
Der Kremlsprecher erklärte daraufhin, dass das russische Volk und alle Völker unter seinem Schutz sich niemals ergeben werden. „Wir werden bis zum letzten Blutstropfen für Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit kämpfen." Und wenn das Regime der Vereinigten Staaten das nicht einsähe, würde es zusammen mit seinen faschistischen Partnern ..." Plötzlich bricht der Sprecher ab. Verwirrt horchen wir auf.
Dann spricht wieder jemand, hastig, überstürzt: „Ich kann das nicht mehr. Es ist alles in Ordnung – nur hier ist gar nichts in Ordnung! Sie lügen, sie lügen euch nur an! Befreit eu-" Erneut ein Knacken, dann Stille.
„Was war denn das?" Anuschka flüstert nur noch; sie sieht so verschreckt aus, wie ich mich fühle.
„Wen hat er gemeint?" Nadja runzelt die Stirn. „Wer soll sich denn befreien? Die unterjochten Völker des Westens hören unser Radio doch gar nicht."
Wieder knackt es. Dann ertönt eine Stimme: „Liebe Hörer, wir entschuldigen uns für diese Unterbrechung. Vermutlich handelt sich um eine Cyberattacke des Westens. Unsere Techniker haben den Angriff bereits unterbunden und werden die Spur der Cyberkriminellen weiter verfolgen. Wir halten Sie auf dem Laufenden! Einen guten Arbeitstag wünscht Ihnen Radio Russkji!"
„Soweit sind sie noch nie gekommen", Nadja ist blass geworden. „Wie schlimm muss es da oben aussehen, wenn sie bereits unsere Sendungen manipulieren können?"
Rings um uns her debattieren die erschrockenen Menschen über diese unerwartete Störung. Die meisten äußern sich im gleichen Sinne wie Nadja, soweit ich es hören kann.
Ich sehe zu Kosma hinüber. Und erkenne in seinen Augen den gleichen Zweifel, der in mir immer stärker wird.
Was ist, wenn der Unterbrecher die Wahrheit gesagt hat?
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