Die Bücher

Schon auf der ersten Seite wird mir klar, dass ‚Krieg und Frieden' KEIN Geschichtsbuch ist. Stattdessen wird da vom Leben irgendwelcher Menschen berichtet; es werden Begebenheiten erwähnt, die von keinerlei Nutzen sind, Gespräche geführt, die keine Informationen enthalten und unwichtige Dinge beschrieben. Ich habe noch nie ein derartiges Buch in der Hand gehabt.

„Hier ist überhaupt nicht von Obstanbau die Rede", beschwert sich auch Maxim. „Da stehen nur Namen und dahinter, was die Leute sagen."

„Bei mir auch", murrt Anouschka. „Und das ist nicht mal in Russland. Das scheint Deutschland zu sein." Sie blättert sich auf die ersten Seiten zurück. „Da – da steht, das Buch ist aus dem Deutschen übersetzt worden. Das ist Nazi-Propaganda!"

„Schimpfen sie denn auf Russland?", frage ich. Anouschka schüttelt den Kopf. „Hier ist überhaupt nicht die Rede von Russland. Es geht um Arbeiter, die ihre Arbeit bei der Verwaltung abgeben und dafür ‚Geld' wollen. Sie sind sauer, weil es ihnen nicht genug ist. Und die Verwaltung ist böse auf sie, weil sie die Arbeit nicht gut genug gemacht haben."

„Bei mir geht es auch um ‚Geld'. Sie wollen den Kirschgarten ‚verkaufen', weil sie nicht genug ‚Geld' haben." Maxim schüttelt verwundert den Kopf. „Was sind das für seltsame Bücher?"

„Geschichten", sagt Nadja. „Wie in der Schule. Beim Lesenlernen bekamen wir doch auch solche Geschichten."

„Ja, aber das waren kleine, einfache Geschichten. Nur fürs Lesenlernen, weil wir so früh noch keine richtigen Bücher verstanden hätten. Das hier – das wären ja Geschichten für Erwachsene. Aber die können doch schon lesen." Ich greife zu dem anderen Buch, das wir für mich mitgenommen haben. Vielleicht steht da ja was Richtiges drin.

„Meine Babuschka hat mir auch Geschichten erzählt", sagt Nadja gerade. „Die hat sie von ihrer eigenen Babuschka gehört. Papa war dann immer zornig, er meinte immer, man darf keine ausgedachten Geschichten erzählen. Aber ich habe es geliebt, wenn Babuschka mir welche erzählt hat."

„Woher weiß denn dein Papa, ob die Geschichten ausgedacht sind?", fragt Maxim.

Nadja hebt die Schultern. „Das mit dem Feuervogel war bestimmt ausgedacht. Es gibt doch keine Feuervögel. Aber es ist eine schöne Geschichte."

„Sie hat aber keinen Nutzen", stellt Maxim fest.

Anouschka runzelt die Stirn. „Muss denn alles einen Nutzen haben?"

„Von nutzlosen Sachen hat man nichts."

„Ja, aber Dinge können doch nützlich und schön sein. Wenn ich eine Weste webe, mache ich sie warm und haltbar, aber ich kann hübsche Muster einweben. Dadurch wird die Weste nicht kälter, aber sie erfreut auch die Augen."

„Und Geschichten? Erfreuen die auch die Augen?"

„Nein, aber das Herz", mischt sich Nadja ein. „Wisst ihr, was ich hier habe? Leider auch kein Buch über die Heilung von Tieren, sondern die Geschichte von einem Tierarzt. Es ist lustig zu lesen."

Jetzt weiß ich, warum Nadja beim Lesen so gegluckst hat. Kosma hingegen sagt immer noch nichts; er ist völlig in sein Buch vertieft. Ich trete gegen seinen Fuß. „He! Was ist mit dir?"

Kosma blickt widerwillig auf. „Das Buch ist sehr interessant", gibt er zu Protokoll.

„Hoffentlich keine Nazi-Propaganda?", fragt Anouschka.

„Nein – nein, überhaupt nicht. Da geht es um einen Mann, der bei Landwirten Urlaub macht und ihnen sagt, dass die Verwaltung auch nicht immer recht hat. Ich blicke da noch nicht so durch, aber das ist eine Geschichte von der Oberfläche. So muss Russland früher gewesen sein, als es diesen Krieg noch nicht gegeben hat."

Jetzt begreife ich. Mein Buch erzählt auch von diesen früheren Zeiten. „Benutzen sie bei dir auch Kutschen und Pferde?" Aus dem Geschichtsunterricht wissen wir, dass man früher solche Transportmittel genutzt hat. Die Soldaten dort oben, die heute für uns kämpfen, nutzen motorisierte Fahrzeuge, deren Namen wir in der Schule lernen mussten. Panzer von GAZ, Geländewagen von GAZ und Lada, gepanzerte Fahrzeuge von Kombat, Transporter von GAZ und UAZ und vor allem die schnellen, wendigen, flachen Spähfahrzeuge von GAZ und Marussia. Von letzteren werden am meisten hergestellt. Auch in unserem Bunker gibt es eine Fertigungsstraße für Marussia, an der ich einige Male gearbeitet habe. Aber die Landwirtschaft ist mir viel lieber.

„Nein, die haben schon Automobile", gibt Kosma zurück. Also ist sein Buch aus einer anderen Zeit als meins.

„Sind die auch alle von den Nazis?", will Anouschka wissen. Kosma schüttelt den Kopf. „Nein, Russland."

„Meine beiden auch", erkläre ich. Auch Maxim stimmt zu: „Eindeutig Russland. Die Namen sind russisch und es werden russische Städte erwähnt."

„Meines ist aus England", wirft Nadja ein.

„Da sind die Nazis doch auch", bemerkt Anouschka verwirrt. „Wieso haben wir Nazi-Bücher hier?"

„Vielleicht wollte man wissen, wie sie leben?" mutmaßt Kosma. „Um sie besser zu verstehen und so herauszufinden, wo man sie am besten treffen kann?"

„Deshalb sind die Bücher dann wohl auch so versteckt", Anouschka nickt verständnisvoll. „Weil nicht jeder damit umgehen kann. Man muss sie lesen mit dem Bewusstsein, dass die Nazis eben immer lügen."

„Das glaube ich nicht", widerspricht Nadja. „Also, dass die Nazis in diesen Geschichten lügen. Ich glaube eher, dass man sich vor dem Krieg eben Geschichten erzählt hat. Wie meine Babuschka mir. Und die Geschichten dann eben gedruckt hat, damit sie nicht verlorengehen und auch Menschen sie lesen können, die keine Babuschka haben."

„Das glaube ich auch." Die Bücher scheinen genau das zu sein – Geschichten, die man sich zur Zerstreuung erzählt, ohne nennenswerten Mehrwert. „Aber dann hat man das wohl überall so gemacht. In Russland, in Deutschland und in England."

„Und ohne Sensoren", stellt Maxim fest. „Solche Bücher nimmt man sich einfach und liest, wann einem danach ist. Das ist seltsam."

„Vielleicht war das im Leben vor dem Krieg ganz normal?" Anouschka klingt sehnsüchtig. „Stellt euch das doch vor – Zugriff auf ganz viele Bücher zu haben, jederzeit lesen zu können, wenn man will und was man will. Ich wünsche mir seit Wochen schon Bücher übers Nähen, aber das Buch, in dem der Schnitt für Hemden drin war, finde ich nicht wieder. Mirko könnte noch eines brauchen."

Ich habe noch nicht sehr weit gelesen, aber eines schon verstanden. „Die Menschen hatten früher wohl auch mehr Zeit. Es gab keine Verwaltung, die ihnen sagte, wann sie was machen mussten. Sie haben einfach gedacht, ich gehe jetzt dahin oder ich mache jetzt dies oder das und das haben sie dann gemacht."

Nadja nickt. „Den Eindruck hatte ich auch. Dieser James hat einfach im Wohnzimmer gewartet auf Siegfried, der vergessen hatte, dass er mit ihm reden wollte. Er musste nicht schnell zurück sein, um noch irgendwas anderes zu machen, sondern hatte Zeit zu warten. Und Siegfried – der hatte einen Termin ausgemacht und ist dann einfach zu seiner Mutter gefahren und hat nicht mehr daran gedacht, dass James auf ihn wartet. Und keine Verwaltung hat ihm deshalb Ärger gemacht, nur die Haushälterin hat mit ihm geschimpft."

„Das war also ein ganz anderes Leben als im Bunker", murmelt Anouschka. Kosma bemerkt sachlich: „Das ist ja auch klar. Damals war wohl Frieden. Jetzt sind wir im Krieg und müssen alles tun, damit unser Land siegt. Und wir unsere Demokratie behalten können. Die Nazi-Diktatur will ich nicht in Russland haben."

„Ja, die muss furchtbar sein", Anouschka blickt auf ihr Buch. „Was die da von Webern erzählen – ich glaube, das ist so eine Diktatur. Die Verwaltung ist grausam zu den Arbeitern. Ich verstehe nicht, warum die Arbeiter dieses ‚Geld' haben wollen, aber offenbar bekommen sie ohne ‚Geld' kein Essen. Und sie hungern. Wir bekommen von der Verwaltung ja alles, was wir brauchen: Essen, Kleidung, Unterkünfte, Licht, Bücher und Spiele. Die Weber in Deutschland bekommen gar nichts. Nazis sind so gemein!"

„In England scheint das nicht so zu sein. Ich hab noch nicht viel gelesen, aber da ist offenbar keine Verwaltung." Nadja schwenkt ihr Buch. „Ich will jedenfalls weiterlesen!"

„Ich auch." Kosma umklammert sein Buch, als fürchte er, Anouschka würde es ihm auf der Stelle entwenden.

„Ich weiß nicht, was ich machen soll", Maxim blickt bekümmert drein. „Ich möchte wissen, ob sie den Kirschgarten jetzt wirklich weggeben. Aber das ist alles so seltsam da – ich verstehe nicht alles."

„Ich auch nicht", gebe ich zu. „Aber ich habe einen Vorschlag."

Daraufhin sehen mich alle gespannt an. Schon wieder. Ich weiß nicht, warum das so ist. Ich meine, ich bin doch nur ein Freund unter Freunden, kein Beamter oder sowas, nur ein einfacher Genosse. Aber wann immer wir fünf uns uneins sind, sehen sie alle auf mich, damit ich entscheide, was wir tun.

„Was haltet ihr davon: Wir lesen die Bücher weiter. Und reden nicht darüber, bis wir sie gelesen haben. Denken auch am besten am Tag nicht darüber nach. Wenn wir fertig sind, besprechen wir, was wir gelesen haben und vergleichen, wie die Menschen da gelebt haben. Und danach überlegen wir, ob wir uns noch andere Bücher holen."

Einen Moment herrscht nachdenkliches Schweigen.

„Mir gefällt die Idee." Nadja ist eindeutig wieder fit; sie hat meinen Vorschlag am schnellsten überdacht. „Aber Mirko, dein Buch ist so dick. Was ist, wenn wir anderen vor dir fertig sind?"

„Dann könnt ihr ja tauschen. Und das hier", ich hebe mein zweites Buch hoch, „enthält lauter einzelne Geschichten. Damit könnt ihr euch befassen, wenn ich fast fertig bin und ihr keine Zeit mehr für ein ganzes Buch habt."

„Einverstanden", Anouschka hebt die Hand wie in der Schule. Maxim und Kosma schließen sich an.

„Dann legt die Bücher in meinen Schrank und verschwindet", fordere ich meine Freunde auf. „In fünf Minuten werden die Lichter gelöscht!"

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