Der Raum
In ungewohntem Schweigen hämmern wir auf die Mauer ein. Anouschka kehrt ständig den Schutt zusammen und verstaut ihn in meinem Schrank. Das ist so in Ordnung. Der Schrank ist zwar riesig, aber ich besitze ohnehin nur drei Overalls, eine Hose und zwei Hemden, zwei Schlafanzüge und etwas Unterwäsche. Die Verwaltung verteilt regelmäßig Kleidung, aber es ist nur selten etwas dabei, was mir passt. Selbst die beiden Hemden hat Anouschka mit Hilfe eines dritten auf meine Größe abgeändert. Mein Schrank ist also weitgehend leer und kann jede Menge Abraum aufnehmen.
„Nadja ist eingeschlafen", bemerkt Anouschka irgendwann.
„Horosho. Beim Aufwachen wird's ihr hoffentlich besser gehen." Maxim packt kräftig zu und bricht einen größeren Brocken aus der Mauer. „Die Wand ist völlig marode. Kein Wunder, nachdem sie so durchfeuchtet wurde."
Kosma runzelt die Stirn. „Ich frage mich ja, wie es den Nazis ergeht, wenn sie mit dem Zeug vergiftet werden. Aber warum muss auch Nadja bei der Produktion so viel davon abbekommen? Können sie das nicht verhindern?" Er hustet. „Verflixt, jetzt hab ich den Staub eingeatmet."
„Eigentlich ist das das Gleiche." Diese Gedanke kommt mir ganz plötzlich. „Nadja atmet das Gift ein, wir den Betonstaub. Wenn wir das Getreide umfüllen, ist es ja auch so, manchmal kann ich Stunden danach nicht richtig atmen. Es gibt keinen Schutz davor."
„Doch, gibt es", widerspricht Anouschka. Verblüfft drehen wir uns zu ihr um. „Im Ernst?"
„Naja, ob es auch dagegen wirkt, weiß ich nicht. Aber die Nazis nutzen doch auch Giftgas. In der Näherei habe ich schon oft die Befestigungen für Masken hergestellt – Masken bedecken das Gesicht", erläutert sie auf unsere verständnislosen Mienen hin.
„Dann sieht man doch nichts."
„Oh, doch. Vor den Augen ist ja Glas. Aber wichtiger ist, man kann durch diese Masken atmen. Es kommt aber nur gute Luft durch die Maske, kein Gift. Sowas sollten wir bei der Gärung auch tragen dürfen, dann würde es uns nachher nicht so schlecht gehen." Anouschka hat diese unangenehme Erfahrung auch einige Male machen dürfen.
„Das würde sehr helfen", Maxim rüttelt erneut am bröckeligen Beton. „Warum gibt die Verwaltung uns solche Mass-Kenn nicht aus?" Er reißt an dem Brocken, als habe er die Verwaltung selbst vor sich. Der Beton hält dieser Wut nicht stand und löst sich unvermittelt, worauf mir Maxim rücklings in die Arme fällt. „Hoppla!"
„Das war gut." Kosma inspiziert die entstandene Lücke. „Ich glaub, da passe ich jetzt durch."
„Wage es nicht, da alleine durchzukrabbeln", schnauze ich ihn an. „Wir brauchen eine Öffnung, durch die Maxim und ich auch kommen. Wir wissen ja nicht, was für Gefahren da drüben lauern können."
Kosma gibt mir recht. „Ich konnte ja nicht allzuviel erkennen. Aber es muss ein riesiger Raum sein. Und was da rumsteht – es ist unglaublich!"
„Dann beeilt euch, damit wir das glauben können", drängt Anouschka.
Die Wand lediglich zu zerstören geht wesentlich schneller als unser tastendes Stochern zuvor, als wir noch auf der Suche nach den leckenden Rohren waren. Und jetzt nehmen wir auch keine Rücksicht mehr darauf, was sonst noch in der Wand sein könnte. Flüchtig kommt mir der Gedanke, dass wir auch auf Gasrohre treffen könnten, aber ich schiebe ihn beiseite. Ich will jetzt einfach wissen, was sich auf der anderen Seite befindet.
Gegen neun Uhr haben wir soviel von der Mauer entfernt, dass Maxim und ich uns vermutlich durchzwängen können, das Loch aber immer noch vom Schrank abgedeckt wird, wenn ich ihn wieder an seinen Platz schiebe. Und Nadja ist wieder wach. Ihr ist noch immer schwindelig, wie sie zugibt, aber zumindest verstehen wir sie jetzt besser.
„Eine Stunde noch. Das reicht für nen ersten Blick", erklärt sie.
„Du willst mit?" Anouschka mustert sie besorgt. „Bist du wieder soweit in Ordnung?"
„Das geht schon", wehrt Nadja ab.
„Wir haben nur eine Taschenlampe", gibt Kosma zu bedenken.
„Morgen nehmen wir halt alle welche mit", schlägt Maxim vor. Und spricht damit aus, was wir alle denken. Wir sind fest entschlossen, den Raum hinter meiner Wand vollkommen zu erforschen. Und unsere Expeditionen der Verwaltung vorzuenthalten. Die Beamten müssen auch nicht alles wissen. Viel zu schnell werden hier Verdächtigungen laut, jemand könne ein Spion der Nazis sein. Es reicht aus, wenn wir selbst wissen, dass wir treu zu Russland stehen. Beweisen kann man das nicht, also geben wir der Verwaltung besser gar nicht erst Gründe für übereilte Mutmaßungen und hysterische Beschuldigungen.
„Warte mal", Kosma zerrt die kleine Lampe von meinem Schreibtisch. „Ich glaube, das Kabel langt aus. Wir können sie auf die andere Seite stellen."
Tatsächlich reicht das Kabel, um die Lampe auf den Durchbruch zu legen und den Schirm in den Raum hineinragen zu lassen. So werden wir etwas mehr sehen können.
Kosma taucht als erster hindurch, dann Maxim. Anouschka schlüpft gewandt durch die Öffnung, die noch unsichere Nadja wird hinten von mir und vorne von Maxim unterstützt. Dann endlich zwänge ich mich ebenfalls durch das Loch.
Ich richte mich langsam auf, jederzeit auf einen Bums gefasst. Aber da ist nichts – über meinem Kopf ist genügend Raum. Auch als ich probeweise die Arme strecke, berühre ich keine Decke. Das kenne ich eigentlich nur von den Landwirtschaftssektoren.
Meine Freunde stehen vor dem Durchbruch und sehen sich staunend um. Kosma lässt die Taschenlampe über die Objekte gleiten, die hier kreuz und quer stehen. Es sind Regale, so hoch wie meine Schultern und sie alle enthalten Bücher. Egal, in welche Richtung wir blicken, wir können nur weitere Regale erkennen und noch mehr Bücher.
„Das muss das Paradies sein", flüstert Nadja. „So viel zu lesen."
Anouschka geht auf eines der Regale zu und nimmt sich ein Buch. „Hatschi!" Eine Staubwolke hat sich gelöst.
„Hier muss schon lange niemand mehr gewesen sein", bemerkt Maxim. Kosma nickt. „Ich dachte erst, vielleicht ist hier das Lager, aus dem die Medien kommen. Aber dazu ist hier viel zuviel Staub."
Anouschka wischt den Staub von ihrer Beute. „Leuchte mal drauf!", fordert sie Kosma auf. Der gehorcht und Anouschka entziffert mühsam den Titel: „'Der Kirschgarten', heißt das Buch."
„Gib her!" Maxim reißt ihr das Buch aus der Hand. „Hoffentlich ist das endlich mal ein gutes Buch über Obstanbau. Wann immer ich nach Lektüre über Landwirtschaft frage, bekomme ich irgendwas über Kartoffeln oder Getreide."
„Ladno, dann liest du das zuerst", Anouschka bleibt ungewohnt friedlich. „Ich suche mir was anderes."
Für uns alle ist klar, was wir mit unserer Entdeckung anfangen werden. Lesen – lesen, bis uns die Augen schmerzen und der Kopf wirbelt. Und am nächsten Tag weiterlesen, bis wir alle diese unzähligen Schriften erkundet haben.
„Wenn wir nur mehr Licht hätten", stöhnt Kosma, der sich nun ebenfalls einem Regal nähert. Nadja läuft ihm nach. „Huch!" Sie rutscht aus und ich kann sie gerade noch halten. „Du solltest dich wieder hinlegen."
„Danke, aber ich bin in Ordnung. Da ist was auf dem Boden."
Ich bücke mich und fühle nach. Der Boden ist feucht. „Hier läuft auch Wasser aus." Ich taste mich an der Pfütze lang und stoße wieder an die Wand. Auf dieser Seite ist eine eiserne Platte befestigt, aus welcher die lecken Rohre in die Wand führen und an einer Seite tröpfelt es. „Das Wasser kommt aus der Platte!" Sie muss hohl sein. Aber was für einen Sinn hat das?
Kosma kommt zurück und leuchtet die Wand an. Die Platte ist weiß, hüfthoch und gerillt. „Was ist denn das für ein Ding?"
Seitlich ist so etwas wie ein Drehschalter. Ich bewege ihn vorsichtig, daraufhin gluckert es in der Platte. „Was auch immer, das Dings hat die Feuchtigkeit verursacht. Wir müssen es wahrscheinlich komplett abdichten."
„Guck mal", Kosma ist abgelenkt. Über dem Teil sind mehrere Schalter im Licht der Taschenlampe aufgetaucht. „Was wohl passiert, wenn ich da draufdrücke?"
„Ich will es nicht wissen!", kreischt Nadja, aber zu spät. Kosma hat bereits einen der Schalter betätigt.
Wir alle halten den Atem an. Ich weiß nicht, womit die anderen rechnen. Mir jedenfalls schießen in Sekundenschnelle etliche Szenarien durch den Kopf. Alarmschrillen, Sicherheitstruppen, Nazisoldaten, Wassereinbruch, Explosionen, sogar die völlige Selbstzerstörung dieses wunderbaren Raumes voller Bücher ...
Aber nichts von allem geschieht. Es blitzt kurz und lautlos, dann leuchten unzählige Lampen an der Decke auf. Der Raum wird so hell wie es sonst nur die landwirtschaftlichen Sektionen sind.
„Uh!" Anouschka schließt geblendet die Augen. „Ich wusste gar nicht, dass etwas so hell sein kann!"
„Da gewöhnst du dich dran", tröste ich sie. Mir macht das grelle Licht weniger aus; ich habe schließlich den ganzen Tag unter einer solchen Lichtfülle gearbeitet. „Das ist in der Landwirtschaft auch so. Die Pflanzen brauchen das Licht."
„Da oben soll es auch so hell sein", sagt Nadja nachdenklich. „Unsere Soldaten kämpfen in diesem strahlenden Licht. Ist hier auch ein Schlachtfeld?"
„Das glaube ich nicht. Dann müsste mehr kaputt sein." Kosmas Einwand entbehrt nicht der Logik.
„Vielleicht ist es so hell, damit man besser lesen und die Bücher sortieren kann." Ich jedenfalls würde ein solches Licht bevorzugen.
Anouschka blinzelt zwischen ihren Fingern hindurch. „Eigentlich ist das ja nett. Man kann ganz weit sehen!" Da hat sie recht. Die Lampen ziehen sich über den kompletten Raum hinweg, dessen Ende wir gar nicht erkennen können.
„Und überall diese Regale!" Maxims Jubelruf drückt aus, was wir wohl alle empfinden. „Sind da überall Bücher drauf?"
Nichts wäre mir jetzt lieber als diesen Raum von vorne bis hinten zu erkunden. Aber ich bemühe mich um Vernunft. „Das können wir morgen feststellen. Am besten holen wir uns jeder ein Buch und gehen wieder in mein Zimmer. Um zehn Uhr muss jeder in seinem eigenen Bett sein und wir haben nicht mehr sehr viel Zeit."
Nadja seufzt. „Du hast ja leider recht. Dann sehe ich mal nach, wo sich die Bücher über Tiere befinden."
„Hier!", ruft Kosma von einem entfernteren Regal herüber. „Jedenfalls ist da eine Kuh drauf!"
Ich besehe mir den Einband des Buches. Tatsächlich, vor einem Hintergrund aus Weide, Hügel und Himmel, wie wir ihn nur aus Geschichtsbüchern kennen, steht eine schwarzweiße Kuh und grast friedlich. Neben ihr steht ein Schuppen oder Stall, so genau kann ich das nicht unterscheiden. „Der Doktor und das liebe Vieh", lese ich den Titel vor.
„Horosho!" Nadja strahlt auf. „Da steht sicher drin, wie ich der rotbunten Färse helfen kann, wenn ich wieder in die Ställe komme. Der Armen geht's nicht gut und keiner weiß, was ihr fehlen könnte. In den Anleitungen ist nichts zu finden." Sie umklammert das Buch wie einen Schatz. „Ich habe immer wieder gefragt nach Büchern über die Heilung von Tieren, aber die Verwaltung meint, ich soll warten, bis irgendwann ein neuer Tierarzt zu uns kommt. Aber der Kuh geht es jetzt schlecht und nicht irgendwann. Sie kann nicht warten."
Anouschka winkt mich zu sich. „Ich glaube, das hier ist Geschichte. Wollen wir?" Sie zeigt mir ein dickes Buch, welches mit ‚Krieg und Frieden' betitelt ist. „Das sieht aus, als ob da alle Kriege verzeichnet sind, die gegen Russland geführt worden sind."
„Ich hab hier aber auch etwas Interessantes", meldet sich Kosma von einem anderen Regal. „'Russische Volkserzählungen aus der Sammlung von A. N. Afanasjew'. Der muss wohl ein Historiker gewesen sein."
„Wir nehmen beide mit", beschließe ich. „Und dann brauchen wir noch was für euch."
„Ich hab schon was", erklärt Anouschka. „Guck mal. ‚Die Weber' – ich arbeite doch so gerne in der Weberei. Da sind sicher schöne neue Muster für mich drin!"
„Und ich nehme das hier", Kosma schwenkt ein dünnes Buch, auf dem ‚Ein Sommer - Maxim Gorki' steht. „Bisher weiß ich ja nur, dass wir in der Landwirtschaft die Pflanzen auf Sommer und Winter einstellen müssen. Aber keiner sagt uns, was das bedeutet. Oder wisst ihr das etwa?"
Ich schüttele den Kopf und Maxim sagt: „Nein. Die Verwaltung sagt uns doch nichts, was wir nicht für die Arbeit brauchen."
„Aber hier können wir es erfahren!" Kosma strahlt. „Ich glaube, das sollte mal ein Raum für die Universität werden, auf der die Beamten und die Ärzte lernen. Vielleicht wollte man in unserem Bunker auch einmal eine Universität einrichten und hat es dann sein lassen." Sein Strahlen verschwindet mit einem Mal, als hätte man es ihm aus dem Gesicht geschlagen. „Ich hätte so gerne studiert. Aber die Verwaltung hat meinen Antrag abgelehnt. Ich bin zu renitent."
„Aber du bist doch so brav", wundert sich Nadja. Ich kann ihr das erklären: „Als renitent und Unsicherheitsfaktor wird jeder eingestuft, der auch nur einmal in der Schule etwas Unklares nachgefragt hat, vor allem in Geschichte. Und das haben wir doch alle."
Anouschka stimmt zu: „Meine Mutter hat auch einmal gesagt, studieren dürfen nur diejenigen, die niemals Fragen stellen und alles sofort aufnehmen, was man ihnen sagt." Sie legt Kosma den Arm um die Schulter, wobei sie sich selbst bei ihm etwas recken muss. „Sei nicht mehr traurig, Duschka. Jetzt können wir alles nachholen!"
„Das ist wahr!" Kosmas Miene hellt sich wieder auf. „Also kommt! Ich kann es nicht erwarten, mit dem Lesen zu beginnen!"
Das können wir alle nicht. Wir löschen das Licht, krabbeln in meine Unterkunft zurück, rücken den Schrank wieder an seine Stelle und dann sucht sich jeder einen Platz und beginnt zu lesen. Es ist halb zehn, wir haben nicht mehr viel Zeit, bis in allen Räumen das Licht gelöscht wird.
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