2. Feuerwhisky
„Harry, gibst du mir mal den Brotkorb?" Hermine deutete auf den Korb, der gleich neben Harry stand, doch der Gryffindor hörte gar nicht zu. Sein Blick lag auf dem Tisch der Slytherins. Er hatte immer mal wieder verstohlen zu Draco herübergeschaut, bedacht darauf, nicht zu auffällig zu starren. Was er vergangene Nacht gesehen hatte, hatte ihn nicht schlafen lassen und nun war er so müde, dass es sich anfühlte, als wäre sein Hirn in Watte gepackt. Alle seine Reize funktionierten langsamer als sonst, so schob sich auch Hermines Stimme erst viel später in seine Wahrnehmung. „Harry?"
„Ja?" Er sah zu Hermine, blinzelte kurz verwirrt und musste mit aller Macht dagegen ankämpfen, seinen Blick gleich wieder auf Draco zu richten.
„Den Brotkorb, gibst du ihn mir bitte?"
„Ja, sicher, entschuldige." Er reichte ihr den Korb, biss in sein Brötchen - und automatisch wanderten seine Augen schon wieder zu seinem Erzfeind. Er sah auch ein wenig müde aus, aber vielleicht bildete Harry sich das auch nur ein. Eigentlich wusste er gar nicht, wie Draco am Morgen aussah, er sah ihn ja sonst nie so intensiv an - und das bereits am Frühstückstisch. Harry bemerkte schnell, wie kontrolliert Draco war. Seine Bewegungen, seine Gefühlsregungen, seine Blicke, alles schien genau durchdacht zu sein. Als müsste er beweisen, unnahbar zu sein, zeichnete sich lediglich ein Grinsen auf seinem Gesicht ab, während seine Klassenkameraden fast von den Bänken fielen, vor lauter Lachen. Harry wäre genauso, wie alle anderen auch. Einmal hatte er so heftig gelacht, dass er es nicht mehr geschafft hatte, den Schluck Kürbissaft, den er noch im Mund hatte, runterzuschlucken. Das süße, kohlensäurehaltige Getränk hatte dann den Weg durch seine Nase hinausgefunden. Das hatte furchtbar gebrannt, aber sie alle hatten daraufhin nur noch mehr gelacht, bis ihnen die Bäuche wehtaten. So jemand war Harry. Dabei wäre er manchmal gerne etwas mehr so, wie Draco. Jemand, der sich nicht jede Emotion gleich anmerken ließ. Aber Harry war ein offenes Buch für andere. Er war freundlich und hilfsbereit, es war nicht schwer, sich mit ihm anzufreunden. Draco hingegen wurde von den meisten seiner Mitschüler regelrecht gefürchtet. Man wagte es sich nicht, ihm oder einem seiner Freunde einen Streich zu spielen. Sie alle hatten Respekt vor ihm, und Harry erwischte sich dabei, ein wenig neidisch darauf zu sein. Es war nicht der Respekt, der ihm fehlte, es war mehr das Geheimnisvolle, was Draco in sich trug, das er bei sich selbst vermisste. Er hatte das „gewisse Etwas", wenn man so wollte. Und obgleich Harry wusste, dass er selbst in der Damenwelt sehr beliebt war, so war ihm auch schon mehrfach zu Ohren gekommen, dass auch Draco diverse weibliche Bewunderer hatte. Es gab praktisch zwei Lager; entweder ein Mädchen stand auf Harry, den „Guten", oder aber auf Draco, den „Bösen".
Harry wurde unsanft aus seinen Gedanken gerissen, als ihm Ron, der neben ihm saß, seinen Ellenbogen mit voller Wucht gegen den Oberarm donnerte.
„Ey!" Harry verzog das Gesicht und rieb sich rasch über die schmerzende Stelle.
„Hörst du mir überhaupt zu?" Krümel flogen aus Rons Mund und brachten Harry dazu, abermals das Gesicht zu verziehen.
„Nein, sorry, was hast du denn gesagt?"
„Ich hab dich gefragt, wo du letzte Nacht gewesen bist. Du warst auf einmal einfach weg?!"
„Oh, ich, äh..." Harry kratzte sich kurz am schwarzen Haarschopf. „Ich war nur spazieren. Konnte nicht schlafen."
Hermine sah auf. Sie wirkte sofort alarmiert. „Innerhalb oder außerhalb vom Schloss?"
„Äh... innerhalb?"
„War das eine Antwort, oder eine Frage?"
„Eine... Antwort?" Harrys Augen huschten kurz von einem Punkt, zu einem anderen.
Hermine schmunzelte. „Du weißt, warum ich diese Frage stelle. Es ist nicht ratsam, sich nachts außerhalb des Schlosses herumzutreiben. Erst recht nicht, wenn man Harry Potter heißt."
Damit hatte Hermine nicht ganz unrecht. Zwar war der Krieg endlich vorüber, doch Dumbledore hatte am Anfang des Schuljahres eindringlich davor gewarnt, sich zu sehr in Sicherheit zu wiegen. Dass er Harry dabei besonders lange angesehen hatte, war dem Schwarzhaarigen nicht entgangen. Er wusste nicht, ob noch immer Gefahr drohte. Niemand wusste das. Doch er wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich seinen Abschluss nachzuholen und dann ein neues Leben zu beginnen - wie auch immer das aussehen sollte.
„Ich weiß." Harry senkte schuldbewusst den Blick. „Aber ich habe wirklich dringend frische Luft gebraucht."
„Hast du wieder schlecht geträumt?" Nun hatte Hermines Stimme wieder diesen fürsorglichen Klang, und Harry liebte sie dafür. Seine beste Freundin machte sich oft Sorgen um ihn und das wusste er sehr zu schätzen. Früher hatte sich nie jemand um ihn gesorgt; erst durch seine Freunde hatte er erfahren, was das wirklich bedeutete.
„Nein." Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich schlafe eigentlich relativ traumlos in letzter Zeit. Aber ich komme schlecht zur Ruhe." Er zuckte die Schultern. „Das geht auch wieder vorbei."
Er sah nicht, dass Hermine ihn noch einen Moment lang ansah, während sein Blick schon wieder zum Nachbartisch glitt. Draco lächelte gerade - und ohne dass Harry es hätte beeinflussen können, lächelte er ebenfalls.
-
Hogwarts war nicht komplett wieder aufgebaut worden. Einige Trümmer im Innenhof waren geblieben. „Als Zeichen", hatte Dumbledore gesagt. Als Erinnerung an das, was geschehen war. An das, was Hogwarts hatte erleiden müssen. Was sie alle hatten erleiden müssen. Noch immer drehte es Harry den Magen um, wenn er durch den Innenhof lief und die eingestürzte Mauer betrachtete. Es war eine der Mauern, hinter denen er sich kurz versteckt hatte, um wieder Kraft zu sammeln, bevor er wieder zum Angriff übergegangen war. Er sah die Szene vor seinem inneren Auge ganz genau vor sich, was ihn dazu brachte, den Blick rasch von den Trümmern abzuwenden und dann kurz die Augen zu schließen, um sich wieder ins Hier und Jetzt zu befördern. Auch diese Reaktion war der aufmerksamen Hermine nicht entgangen, die nun sanft ihre Hand auf den Rücken ihres Freundes legte und leicht lächelte, als er sie ansah. Harry lächelte dankbar zurück. In dem Moment breitete sich ein warmes Gefühl in seinem Inneren aus, denn er wurde sich abermals der Tatsache bewusst, was für ein unfassbares Glück er hatte. Seine Freunde lebten. Alle seine Freunde waren noch am Leben. Und er war hier in Hogwarts; er war Zuhause. Für Dumbledore stand es außer Frage, dass Hogwarts die Tore wieder öffnen würde. Ein solch stolzer Ort würde sich nicht unterkriegen lassen - selbst der dunkle Lord sollte das nicht schaffen. Das gesamte Jahr, welches sie verloren hatten, wurde fortan als „dunkles Jahr" bezeichnet. Es fiel aus sämtlichen Bewertungen und wurde behandelt, als wäre es nie da gewesen. Deshalb starteten die Schüler erneut in ihr letztes Jahr auf der Zauberschule. Dieses Jahr würden sie ihren Abschluss machen. Eine Tatsache, die Harry gleichermaßen freute und ängstigte.
Harry war gedankenverloren und auf seine Füße starrend weitergelaufen und hatte nicht bemerkt, dass Hermine ein Stück zur Seite gegangen war, um dem zielstrebig auf die Gruppe zulaufenden Draco Malfoy Platz zu machen. Dieser bahnte sich seinen Weg geradewegs durch die Mitte und stieß seine Schulter absichtlich fest gegen Harrys, welcher vor Schreck kurz zurücktaumelte, sich dann umdrehte und den Blonden mit zusammengezogenen Augenbrauen musterte. Dieser warf ihm nur einen kurzen, verärgerten Blick zu und blaffte: „Pass auf wo du hintrampelst, Potter!" Noch ehe Harry etwas erwidern konnte, war der Slytherin weitergelaufen.
Hermine verdrehte die Augen und stieß einen leisen Seufzer aus, dann wandte sie sich Harry zu. „Der wird sich wohl nie ändern."
Auch Ron gab ein Schnauben von sich. „Affen werden eben immer Affen bleiben."
Harry rieb sich kurz über die Schulter, sah Draco noch einen Augenblick lang hinterher und grinste dann plötzlich. „Na wenigstens etwas, worauf man sich verlassen kann."
Hermine lachte leise. „Stimmt.
Um den Start ins neue Schuljahr gebührend zu feiern, trafen sich am Abend sämtliche Gryffindors in Hogsmeade, im Wirtshaus „Drei Besen", wo sie mit einem Butterbier auf ein gutes Jahr anstoßen wollten. Es war ein so schöner Abend, dass Harry ganz sentimental wurde, als er wieder in seinem Bett lag. Während Ron bereits nach wenigen Minuten leise schnarchte, lag Harry noch eine ganze Zeit lang wach. Er grinste in die Dunkelheit hinein und genoss seit ewig langer Zeit mal wieder das Gefühl, leicht angetrunken zu sein. Sie waren mittlerweile alle Volljährig und hatten beschlossen, sich nach all der düsteren Zeit nun endlich mal was zu gönnen, also war früher oder später auch der ein oder andere Feuerwhisky bestellt worden. Selbst Hermine hatte kurz an einem genippt, was sämtliche Mitschüler lautstark und übertrieben gefeiert hatten. Es war herrlich. Harry konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal beschwipst gewesen war und wie es sich angefühlt hatte. Diese seltsame Mischung aus Leichtigkeit und Schwere zugleich. Einerseits dachte er ununterbrochen an die Zeit nach der Schule, nach Hogwarts, doch andererseits machte er sich nicht wirklich große Sorgen. Es würde schon irgendwie alles hinhauen. Zwar würde er für die Abschlussprüfungen lernen müssen, wie ein Verrückter, aber bis dahin war noch etwas Zeit - und diese Zeit wollte er in vollen Zügen genießen. Eine Woge des Glücks durchfuhr ihn, als er an alle seine Mitschüler dachte, auch an die Lehrer, an Dumbledore und Hagrid - sie alle waren seine Familie. Er drehte sich auf die Seite, ließ einen ganz leisen, zufriedenen Seufzer und presste seine vom Alkohol glühende Wange fester gegen das kühle Kopfkissen.
Er war schon fast eingeschlafen, da schob sich Draco wieder in seine Gedanken. Er sah die Szene noch einmal vor sich, wie er Harry draußen auf dem Hof angerempelt hatte. Dieser ganz kurze, nur Sekunden andauernde Blick in seine grauen Augen. Der Schwarzhaarige runzelte die Stirn. Er hatte dieser Situation keine weitere Beachtung mehr geschenkt und nicht weiter darüber nachgedacht, deshalb konnte er sich nicht erklären, warum er jetzt daran denken musste. Er zog die Beine an und kringelte sich etwas mehr zusammen. Dann, ganz automatisch, sprang seine Erinnerung zurück an die Szene am See - und als er daran dachte, wie Draco splitterfasernackt und anmutig wie ein Gott ins Wasser geschritten war, und sich sein Herz bei dieser Erinnerung kurz zusammenzog, ahnte er, dass das nichts Gutes bedeutete.
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