17. Misstrauen

Harry spürte die Blicke seiner Freunde auf sich. Ob beim Frühstück, im Unterricht, oder beim Mittagessen - er wurde ständig beobachtet, wenn nicht von Hermine, dann von Ron. Einen ganzen Tag lang versuchte er, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten und keinen einzigen Blick zu Draco zu riskieren, bis es ihm am Abend schließlich zu bunt wurde. Er saß im Gemeinschaftsraum im Schneidersitz auf einem der Sessel und machte Hausaufgaben. Ron und Hermine hatten sich zu ihm gesellt, sie saßen ihm gegenüber auf der Couch und konnten die Augen offenbar nicht mehr von ihm nehmen. Der Schwarzhaarige schmiss sein Buch geräuschvoll auf den Tisch vor sich und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Also, was ist los?", fragte er.

Hermine fühlte sich sofort ertappt und errötete ein wenig, doch Ron zuckte bloß mit den Schultern. „Das müsstest du uns doch eigentlich erklären, oder?"

„Wie meinst du das?"

„Wir haben gesehen, dass du dich mit Malfoy getroffen hast."

Sofort schnürte sich Harrys Kehle zu. „Was soll das heißen, ihr 'habt das gesehen'?", fragte er misstrauisch und blickte zwischen Ron und Hermine hin und her.

Hermine, die noch immer rötliche Wangen hatte, seufzte leise. „Wir haben uns Sorgen gemacht, Harry. Weil du so oft absagst, oder einfach bis spät nachts weg bleibst..."

„Und deshalb spioniert ihr mir nach?" Harry war fassungslos.

Ron ging nicht auf Harrys Äußerung ein, sondern fragte stattdessen: „Ihr seid wohl doch Freunde geworden, was?" Es klang vorwurfsvoll. Als hätte Harry sie verraten.

Einen Augenblick lang zögerte der Schwarzhaarige. Er wusste nicht recht, was er sagen sollte. Draco und er waren keine Freunde. Nicht in dem Sinne. Nicht so, wie Hermine, Ron und er. Sie waren eher... - Nun, sie waren dabei, sich kennenzulernen. Indem sie sich küssten und streichelten. Harry bekam rote Ohren, wenn er daran dachte, wie nah sie sich bereits gewesen waren, und dass er trotzdem keine Bezeichnung für ihre seltsame Beziehung zueinander hatte. Sie waren einfach irgendwas, was beiden unheimlich gut tat.

„Keine Ahnung...", murmelte Harry und senkte den Blick ein bisschen. Er wäre jetzt viel lieber alleine gewesen und hätte über alles in Ruhe nachgedacht.

„Ich dachte, diese Zauberspruch-Sache wäre erledigt gewesen? Ich meine, immerhin hat es ja nicht funktioniert und so..." Ron kratzte sich etwas verlegen am Kopf, setzte sich dann aber wieder kerzengerade auf. „Wieso trefft ihr euch dann immer noch?"

„Wir haben Hagrid den Rest von dem Einhorn-Horn-Pulver zurückgebracht."

Ron stöhnte leise. „Das heißt, ihr seid Freunde."

„Ron." Hermine schüttelte etwas verärgert den Kopf. „Hör doch mal auf, ihm die Pistole auf die Brust zu setzen."

„Ich will nur, dass er sich vorsieht, okay?", fuhr Ron sie an.

„Er ist alt genug um alleine zu entscheiden, mit wem er seine Zeit verbringt, oder meinst du nicht?"

„Offenbar nicht!"

Harry reichte es. Er stand auf, warf Ron einen wütenden Blick zu, nahm sich seine Unterlagen vom Tisch und verließ den Gemeinschaftsraum ohne ein weiteres Wort. Er hatte weder vor, sich vor Ron oder Hermine zu rechtfertigen, noch im Streit etwas zu sagen, was er später gewiss bereuen würde, also war es das Beste, einfach zu gehen. Er war froh, dass ihn keiner der beiden aufhielt, sodass er rasch hinaus auf den Flur und schließlich aus dem Schloss schlüpfen konnte. Das dämmrige Licht verriet dem Gryffindor, dass die Sonne bald untergehen würde. Gedankenverloren ging er in Richtung See, die Schulsachen noch immer unter den Arm geklemmt. Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich Luna neben ihm auf.

„Hallo Harry."

„Hi Luna." Ein Kloß hatte sich in Harrys Hals gebildet. Er schluckte.

„Was ist los mit dir? Du siehst traurig aus."

„Schon okay, Luna." Er setzte seinen Weg fort, doch die blonde Ravenclaw folgte ihm.

„Ich spüre, dass du jemanden zum Reden brauchst", sagte sie leise und einfühlsam.

Harry schwieg kurz. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll."

„Ist etwas passiert?"

„Ich hatte Streit mit Ron."

„Weswegen?"

Sie waren inzwischen am See angekommen. Harry ließ sich müde ins Gras fallen. Luna setzte sich neben ihn.

„Er ist sauer, weil ich mich mit Draco angefreundet habe", sagte Harry leise, nachdem er sich flüchtig umgesehen hatte, um sicherzugehen, dass niemand in der Nähe war.

„Warum?"

Der Schwarzhaarige zuckte mit den Schultern. „Ich glaube er denkt, Draco würde mir nicht gut tun. Und dass er kein guter Umgang für mich wäre."

„Denkst du das auch?"

„Nein", sagte Harry sofort. „Rons Einstellung ärgert mich. Er kennt Draco kaum."

„Er sollte ihn kennenlernen."

Harry lachte leise. „Das wird in diesem Leben sicher nicht mehr passieren. Ehe Ron über seinen Schatten springt, friert die Hölle zu."

„Und was wäre, wenn du Draco einfach mal mitnimmst? Zu euch in den Gemeinschaftsraum. Oder in die Große Halle, an euren Tisch." Luna lächelte aufmunternd.

„Ich weiß nicht recht..." Harry seufzte und ließ sich zurück ins Gras fallen. Seine Finger spielten mit einzelnen Grashalmen, rupften hier und dort einen heraus. „Ich glaube, das kann ich ihnen beiden nicht antun."

Luna legte sich ebenfalls zurück uns blinzelte in den Himmel. „Früher oder später wirst du keine andere Wahl haben, Harry. Vorausgesetzt, du magst beide als Freunde behalten." Sie sah ihn an.

Der Gedanke, Draco nicht mehr zu sehen, bereitete ihm Unbehagen, was Luna auch wieder sehr deutlich zu spüren schien, denn sie fragte lächelnd: „Er bedeutet dir viel, oder?"

Harry schluckte. Es dauerte einen Augenblick, bis er antworten konnte. „Gute Frage... Irgendwie schon." Er sah sie an und musste ein wenig lächeln. „Ich lerne ihn einfach ganz neu kennen und das fasziniert mich", gab er zu. „Er hat so viele verschiedene Facetten. Da ist nicht nur die Arroganz, die ihm aus jeder Pore dringt, weißt du?" Er grinste kurz, ehe er wieder ernst wurde. „Wenn er Gefühle zulässt, dann sind diese so übermächtig, so intensiv." Harry schloss kurz die Augen, als sich Dracos Gesicht in seine Gedanken schob. Sein feines, weißblondes Haar, die grauen Augen, die geschwungenen Lippen, von welchen er sich gerade einen Kuss wünschte. Sein Puls erhöhte sich beim puren Gedanken daran, Draco zu küssen. Als er im Augenwinkel sah, wie Luna ihn beobachtete, errötete ein wenig, obwohl sie logischerweise nicht wissen konnte, woran er gerade dachte. Dennoch waren ihm seine eigenen Vorstellungen unangenehm. Es war vermutlich unangebracht. Harry hatte lange darüber nachgedacht, warum sie sich geküsst hatten, mehrmals. Und er war bislang immer wieder zu dem Entschluss gekommen, dass Draco einfach mit den Nerven am Ende war. Er war traurig und - auch wenn er es niemals selber zugeben würde - wollte er getröstet werden. Auch jemand mit einer eiskalten Fassade wie er, brauchte hin und wieder körperliche Nähe, so wie jeder andere Mensch auch. Dass gerade Harry derjenige war, der ihm diese Nähe geben konnte, war höchstwahrscheinlich reiner Zufall.

Oder?

Was, wenn Draco ebenfalls Gefallen daran gefunden hatte, sich in Harrys Nähe aufzuhalten? Wenn er Harry nicht nur küsste, weil er einsam und traurig war, sondern weil er es wollte? Was, wenn er Gefühle für... - Nein. Harry bremste sich, brach diesen Gedanken sofort ab. Er bemerkte gar nicht, dass er den Kopf schüttelte und Luna ihn daraufhin etwas verdutzt musterte.

„Ich gehe mal wieder", sagte die Ravenclaw plötzlich leise und riss Harry aus seinem Gedankenchaos. „Mach's gut, Harry." Sie lächelte ihn an, stand auf und hüpfte davon.

„Du auch, Luna." Er sah ihr noch kurz hinterher, ehe sich sein Blick wieder auf den See richtete. Er seufzte leise. Dass es seine Freunde misstrauisch machte, dass Draco und er sich plötzlich gut zu verstehen schienen, wunderte ihn nicht. Er hätte es ja selbst nicht für möglich gehalten, dass es einmal so kommen würde - und dann auch noch in diesem rasanten Tempo. Als wäre er auf einmal in einer Parallelwelt gelandet.

Es ärgerte ihn, dass er dieses aufregende Gefühl, seinen ehemaligen Erzfeind neu kennenzulernen, nicht wirklich genießen konnte. Das Kribbeln im Bauch und die Nervosität, all das hatte einen bitteren Beigeschmack.

Der Gryffindor ging erst wieder ins Schloss zurück, als er sich sicher sein konnte, dass seine Freunde bereits schliefen. Er hatte an diesem Abend wirklich die Nase voll - besonders von Ron. Dass er nicht wollte, dass Harry sich in Schwierigkeiten brachte, war ja schön und gut, aber dass er regelrecht sauer wurde, weil sie sich trafen, konnte und wollte Harry nicht verstehen.

-

Schon den ganzen Morgen war Harry innerlich furchtbar unruhig. Sie hatten Zaubertränke-Unterricht und das bedeutete, dass er mit Draco arbeiten würde. Ganze drei Tage hatten sie keinerlei Kontakt zueinander gehabt und Harry wäre beinahe durchgedreht. Er hasste es, dass er bereits jetzt so abhängig von dem blonden Slytherin war, doch er konnte nichts dagegen tun. So sehr er sich auch versucht hatte einzureden, dass er sich da in etwas hineinsteigerte - es nützte alles nichts. Am Ende vom Tag wünschte er sich nichts sehnlicher, als Draco bei sich zu haben, ihm zuzuhören, ihn zu berühren. Dass das alles in seinen Gedanken schon viel zu weit ging, war ihm durchaus bewusst, daher lief er auch gleich ein wenig rot an, als er den Klassenraum unten im Kerker betrat und sofort Dracos graue Augen fand. Sein Blick lag auf ihm, stechend und undurchschaubar. Harrys Herz pochte. Er ging auf den Tisch zu und setzte sich auf seinen Platz.

„Hey." Ein unsicheres Lächeln stahl sich auf Harrys Lippen.

„Hi." Draco grinste, jedoch nur sehr kurz, da Hermine und Ron verstohlen zu ihnen schauten. „Was ist mit Granger und dem Wiesel los?"

Harry folgte Dracos Blick, herüber zu seinen Freunden, die nun schnell wegsahen und so taten, als wäre nie etwas geschehen. Der Schwarzhaarige rollte mit den Augen. „Keine Ahnung", murmelte er. Zum Glück bohrte Draco nicht weiter nach, sondern zuckte bloß gleichgültig mit den Schultern. Wenige Minuten später betrat Snape den Raum und der Unterricht fing an. Draco und Harry redeten wenig, doch es tat Harry gut, dass sie mittlerweile so ein eingespieltes Team waren. Nur noch wenige Male korrigierte Draco ihn - und er tat es viel sanfter, als zuvor.

Während des Brauens sahen Hermine und Ron so offensichtlich zu ihnen herüber, dass Draco abermals die Stirn runzelte. „Weißt du echt nicht, was da los ist?" Er nickte knapp in ihre Richtung.

Harry seufzte, beugte sich näher zu dem Slytherin und erklärte leise: „Sie haben zuletzt mitbekommen, dass wir uns getroffen haben." Sofort weiteten sich Dracos Augen, daher fügte Harry rasch hinzu: „Als wir zu Hagrid gegangen sind. Ursprünglich wollten sie mitkommen, aber ich weiß nicht, ob dir das so recht gewesen wäre." Er biss sich kurz auf die Unterlippe. „Und jetzt rätseln sie darüber, was bei uns los ist."

Der Blonde blickte plötzlich etwas verärgert drein. „Hast du ihnen etwas erzählt?"

„Was soll ich ihnen erzählt haben?"

„Du weißt schon." Er verdrehte die Augen und Harry verstand, worauf er hinauswollte.

„Nein, um Gottes Willen."

„Ganz sicher?"

„Ganz sicher."

„Wirst du es ihnen erzählen?"

Harry zögerte. „Hatte ich nicht vor, nein. Warum?"

„Nur so. Ich denke, das wäre auch keine gute Idee."

Der Schwarzhaarige nickte langsam. „Nein... vermutlich nicht." Bevor sie weitersprechen konnten, hatte sich Snape vor ihnen aufgebaut. „Ich hoffe doch, die Herren unterhalten sich so angeregt über den Trank und nicht etwa über private Angelegenheiten", schnarrte er und musterte das leichte Brodeln im Inneren des Kessels.

„Natürlich nicht, Sir", sagte Harry schnell, während Draco den Trank kurz umrührte.

Ihnen war nicht entgangen, dass sich Hermine und Ron, die Snapes Tadel mitbekommen hatten, daraufhin einen vielsagenden Blick zuwarfen, worüber sich Draco wiederum sichtlich ärgerte, denn er funkelte beide wütend an. Als Snape weiter durch die hinteren Reihen schlich, flüsterte Harry so leise wie möglich: „Können wir uns nachher sehen? Ich will dir das genauer erklären." Sein Herz raste.

„Okay", sagte Draco knapp.

„Üblicher Ort? Sieben Uhr heute Abend?"

Draco nickte, während er im Trank rührte.

Für den Rest des Tages war Harry kaum noch zu gebrauchen. Er zählte die Stunden, bis sie sich treffen würden... Während Hermine beim Mittagessen so tat, als wäre nie etwas gewesen, hatte sich Ron in Schweigen gehüllt. Er war offenbar noch immer beleidigt, ebenso wie Harry, dem es jedoch seiner Meinung nach auch wirklich zustand, eingeschnappt zu sein. Er sah nicht ein, warum er sich von Ron bevormunden lassen sollte, und erst recht verstand er nicht, warum er derjenige war, der sich über Harrys Verhalten ärgerte. Doch andererseits, dachte Harry leicht verbittert, sollte ihn gar nichts mehr wundern. Es war nicht das erste Mal, dass Ron grundlos einen Streit anzettelte, weil er sich falsch behandelt fühlte. Wie oft hatte er schon Eifersuchtsszenen gemacht, wenn Hermine und Harry etwas miteinander besprochen und Ron nicht sofort eingeweiht hatten. Oder wenn er glaubte, Harry würde sich in den Mittelpunkt drängen wollen, obwohl er nach all den Jahren wirklich wissen sollte, dass es überhaupt nicht Harrys Ding war, die Aufmerksamkeit fremder Leute auf sich zu ziehen. Je mehr der Schwarzhaarige darüber nachdachte, desto mehr nervte ihn Rons Verhalten. Vielleicht sollte er mal unter vier Augen mit ihm sprechen... Doch zunächst schob er diesen Gedanken von sich, denn er wollte sich auf das Treffen mit Draco freuen.

Um einer weiteren Konfrontation mit seinen Freunden aus dem Weg zu gehen, war Harry gleich nach dem Abendessen in Richtung Astronomieturm gegangen, obwohl er nun noch eine halbe Stunde auf Draco warten musste. Die Erkenntnis, dass ihre Treffen mittlerweile wirklich zu einer Heimlichtuerei geworden waren, ließ Harry kurz schlucken. Das alles ging in eine gefährliche Richtung.

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