13. Verluste
Harry hatte längst aufgehört, zu hinterfragen, warum er Draco ständig ansehen musste. Warum er sich um ihn sorgte und sein Herz so seltsam stach, wenn er seinen traurigen, gebrochenen Blick sah. Warum er nachts nicht mehr schlafen konnte, weil seine Gedanken nur um ihn kreisten. Warum er nach Gründen suchte, sich mit ihm zu unterhalten, und ihm doch keine einfielen, weil sie einfach nichts gemeinsam hatten und wohl nach außen hin auf ewig Feinde bleiben würden. Niemand würde wissen, was für „intime" Momente sie bereits miteinander geteilt hatten. Niemand würde jemals erfahren, dass sie sich in diesen schwachen Stunden gegenseitig im Arm gehalten hatten. Und niemand würde auch nur ansatzweise ahnen, wie viel es ihnen beiden insgeheim bedeutet hatte.
Draco war in den letzten Tagen still geworden. Er war in sich gekehrt und ständig in Gedanken. Harry hatte Mitleid; er kannte diese Gedanken zur Genüge. Beim Zaubertränke-Unterricht redeten sie kaum miteinander. Harry hatte ein paar Mal versucht, eine belanglose Unterhaltung zu starten, doch schnell gemerkt, dass dem Slytherin nicht danach war, also hatte er schließlich ebenfalls geschwiegen. Dennoch bildete er sich manchmal ein, Draco würde absichtlich zur gleichen Zeit wie er zum Kessel greifen, sodass sich ihre Hände berührten. Auch entging dem Gryffindor nicht, dass Draco oft zu ihm schaute, so, wie Luna es ihm bereits vor einiger Zeit gesagt hatte. Jedes Mal lief ihm eine Gänsehaut den Rücken runter, wenn sich ihre Blicke trafen. Er war sich nicht sicher, was das zu bedeuten hatte, doch auch das hinterfragte er gar nicht erst.
Drei Tage nach dem Tod seiner Mutter, war der Blonde erneut vom Unterricht befreit. Es war also der Tag der Beerdigung. Harry hatte große Mühe, sich auf den Unterricht zu konzentrieren, bis selbst Ron ihn anrempelte und leise fragte, was mit ihm los sei, doch Harry hatte bloß abgewunken. Er konnte niemandem sagen, dass er mit Draco litt und sich wünschte, etwas für ihn tun zu können. Er wusste noch nicht einmal selbst, woher dieses Verlangen kam. Dieser Wunsch, ihm nahe zu sein, ihm zu helfen, einfach bei ihm zu sein. Was genau war geschehen, in den letzten paar Tagen?
Nach dem Abendessen war er hinunter zum See gegangen, um ein wenig alleine zu sein. Gerade einmal zwei Minuten saß er auf der Wiese und schaute auf das ruhige Wasser, als er ein leises Räuspern hinter sich vernahm. Er blickte über seine Schulter und sah Ginny ein paar Meter entfernt stehen. Gedanklich fluchte er. Lauerte sie ihm etwa auf, oder warum trafen sie sich schon wieder dort unten am See?! Er ärgerte sich, denn noch immer brachte er den See mit Draco in Verbindung; er wollte nicht, dass auch Ginny ein Teil davon war. Der Schwarzhaarige dachte an den Moment zurück, an dem Ginny und er sich geküsst hatten, an genau dieser Stelle. Es schien ihm ewig her zu sein, dabei waren es lediglich ein paar Wochen gewesen...
„Hallo, Harry. Willst du alleine sein?", fragte Ginny leise.
Harry brachte es nicht übers Herz, sie wegzuschicken. „Schon okay", erwiderte er. Sie setzte sich neben ihn ins Gras und schwieg einen Augenblick lang. Das Schweigen war nicht so angenehm, wie das, welches Draco und er sich manchmal teilten. Vielmehr baute sich nun eine seltsame Spannung auf, die ihm nicht gefiel. Er wollte etwas sagen, doch er wusste nicht was. Glücklicherweise machte sie kurz darauf den Anfang, indem sie fragte: „Geht es dir gut?"
„Ja, sicher. Und dir?"
„Ganz okay." Sie zögerte kurz. „Hermine und Ron meinten, du wärst in letzter Zeit viel unterwegs gewesen, sie haben dich kaum gesehen. Ich glaube, sie machen sich ein wenig Sorgen um dich."
Harry lächelte. „Die beiden sind doch ganz froh, mal unter sich zu sein."
„Das stimmt nicht." Sie legte ihre Hand auf seinen Arm und er kam nicht umhin, diese Geste als etwas deplatziert zu empfinden. „Sie vermissen dich." Die Rothaarige schluckte. „Und ich dich auch."
Harry spürte, wie sein Puls stieg. Sofort bereute er es, überhaupt zum See gegangen zu sein. Noch während er fieberhaft überlegte, was er ihr antworten sollten, fragte sie mit leiser, sanfter Stimme: „Hast du noch mal nachgedacht? Über uns?" Sie suchte seinen Blick, doch er erwiderte ihn nur kurz. Er hatte immer gehofft, ein solches Gespräch nicht noch einmal führen zu müssen. Doch es hatte keinen Sinn, sich noch länger davor zu drücken. Er seufzte leise und senkte den Kopf ein wenig. „Ginny, ich...", er schluckte. „Ja, habe ich."
Nun sah sie ein wenig ängstlich aus. „Und? Zu welchem Entschluss bist du gekommen?" Ihr daraufhin folgendes, hoffnungsvolles Lächeln machte es ihm unendlich schwer. Doch er sah ihr in die Augen, sah tief hinein, und fühlte nichts.
„Dass es keinen Sinn hat", sagte er leise, ohne den Blick von ihr abzuwenden.
Ihr Lächeln erstarb, doch sie hielt seinem Blick stand, versuchte, irgendetwas aus seinen Augen herauszulesen, ehe sie langsam nickte. „Das habe ich mir schon gedacht." Sie sah hinab auf ihre Hände, die sie nervös knetete. „Ich nehme an, dass das endgültig ist."
„Ja", sagte Harry leise. 'Das war es schon damals', fügte er in Gedanken hinzu.
„In Ordnung." Sie atmete tief durch. „Ich hatte immer gehofft, dass du uns noch eine Chance gibst." Ihre Stimme war leise, wie ein Hauch des Windes um sie herum. „Ich habe mir immer vorgestellt, dass wir irgendwann einmal eine Familie gründen", sagte sie aufrichtig und Harrys Herz wurde schwer. Bis kurz vor der Schlacht, kurz bevor sie sich getrennt hatten, hatte er das auch immer gedacht. Dass er einmal Vater werden würde. Ginnys Ehemann. Doch alles sollte anders kommen. Es fühlte sich ein bisschen so an, als würden sie einen Plan ändern, der schon ewig lange für sie festgestanden hatte. Als würden sie zu Wegen aufbrechen, die es noch gar nicht gab. Fernab von allem, was ihnen bisher bekannt gewesen war und stets diese angenehme Sicherheit gegeben hatte.
Harry war bereit dafür. Er war bereit für neue Wege, die ihn weiterbringen würden.
„Aber es ist okay", redete Ginny weiter. „Es ist immer gut, Gewissheit zu haben." Sie lächelte tapfer und Harry nickte.
„Ich weiß, dass es sich sehr klischeehaft anhört, aber...", der Gryffindor kratzte sich nervös im Nacken, „ich würde mir wünschen, dass wir trotz allem Freunde bleiben." Er schluckte. Er hatte keine Ahnung, ob Ginny der Typ Mensch dafür war, oder ob sie ihm für diesen Spruch lieber eine Ohrfeige verpassen würde. Zum Glück traf Ersteres zu, denn sie nickte sofort und ihr Lächeln wirkte um einiges ehrlicher, als das vorige. „Ja, das würde ich mir auch wünschen." Sie zog ihn in eine vorsichtige Umarmung. „Ich geh dann mal wieder. Mach's gut."
„Bis dann." Er lächelte ihr noch einmal zu. Als sie weg war, wurde er ein wenig melancholisch. Mit seinen achtzehn Jahren fühlte er sich mittlerweile zu alt für dieses Gefühlschaos. Außerdem wünschte er sich wieder einmal seine Eltern an seine Seite. Er könnte sicher einiges von seinem Dad lernen, was den Umgang mit Frauen anging, könnte sich Geschichten von ihm und seinen Erfahrungen anhören. Und von seiner Mom würde er sich erklären lassen, wie Frauen so ticken. Der Gryffindor lächelte bei dem Gedanken an seine Eltern und an Gespräche, die niemals stattfinden würden. Das Lächeln verging ihm, als sich Narzissa in seine Gedanken schob. Kurz darauf Draco. Er fragte sich, ob Draco diese Nacht wohl in Malfoy Manor verbringen würde, oder ob er dennoch nach Hogwarts zurückkehren würde. Kurz spielte er mit dem Gedanken, zum Astronomieturm hinaufzugehen, doch selbst wenn der Slytherin sich dort befand, so wollte Harry ihm seine Privatsphäre lassen. Es war wichtig, dass er diesen Tag irgendwie verarbeiten konnte. So wie er Draco einschätzte, wollte er höchstwahrscheinlich eh lieber alleine sein.
Harry saß nur noch wenige Minuten unten am See; er hatte keine Ruhe mehr, konnte sich nicht entspannen, sodass er schließlich aufstand und sich auf den Weg zum Gryffindor-Gemeinschaftsraum machte, wo er hoffte, auf Hermine und Ron zu treffen. Ein wenig Ablenkung würde ihm sicher gut tun.
Im Schloss traf er auf Luna, die gerade aus der Bibliothek kam.
„Hallo Luna." Harry lächelte und winkte ihr kurz zu.
„Hallo." Sie lächelte zurück. „Geht es dir gut?"
„Ja, naja... es geht so. Ich habe mich vorhin endgültig von Ginny getrennt", sagte er leise.
„Oh, das tut mir leid."
„Schon okay. Es ist besser so." Er zögerte kurz. „Wie geht es dir?", fragte er dann, um schnell vom Thema abzulenken.
„Gut. Mein Vater hat mir heute eine neue Uhr per Eule geschickt, schau nur." Sie hielt ihm ihr Handgelenk hin und lächelte stolz. Die Uhr war mit pinken Federn und kleinen Strasssteinchen beschmückt.
„Oh, wow", brachte Harry mit leicht verwirrtem Blinzeln heraus. „Die ist wirklich schön, Luna. Sehr ausgefallen."
„Ja, nicht?" Sie strich sanft über eine pinke Feder. „Mein Vater kennt meinen Geschmack sehr gut."
„Das ist großartig."
Luna verlor sich kurz im Streicheln der Feder, sah schließlich auf und sagte unvermittelt: „Ich habe Draco Malfoy vorhin gesehen und er sah wieder so entsetzlich traurig aus. Ich dachte, das würdest du vielleicht wissen wollen." Sie lächelte, legte den Kopf leicht schief und verabschiedete sich, noch bevor Harry etwas erwidern konnte. Und - hatte sie ihm zugezwinkert? Er sah ihr verdutzt hinterher, stand nun zögernd auf der Treppe und überlegte, ob er dem Astronomieturm nicht doch einen kurzen Besuch abstatten sollte. Er hatte Angst, Draco vielleicht allmählich auf den Wecker zu fallen. Andererseits machte er sich auch Sorgen, der Slytherin könnte ganz alleine und möglicherweise überfordert mit der Situation sein. Immer dann, wenn Harry sich in Trauer beinahe verloren hätte, waren Ron und Hermine da gewesen. Ohne sie hätte er so manches nicht gepackt, da war er sich ganz sicher.
Harry dachte daran, wie Draco ihn wenige Tage zuvor umarmt hatte, oben auf dem Turm. Es hatte sich so angefühlt, als wäre er am Ertrinken gewesen und nur Harry alleine hätte ihn über Wasser halten können. Es hatte sich richtig angefühlt. Und wenn Harry tief in sich ging, dann fühlte es sich auch richtig an, jetzt zu ihm zu gehen.
Auf halber Strecke hinaus aus dem Schloss, fiel ihm sein Tarnumhang ein, also machte er kehrt und hastete in den Gryffindorturm, wo er den Umhang holen wollte. Plötzlich spürte er eine innere Ungeduld, die er sich nicht erklären konnte. Als müsste er sich beeilen. Zu allem Überfluss war der Gemeinschaftsraum an diesem Abend recht gut gefüllt, und als Ron und Hermine ihren Freund entdeckten, riefen sie ihn fröhlich zu sich. Sie saßen über ein Schachbrett gebeugt.
„Hey Harry, Lust auf ne Runde Schach?" Ron grinste.
„Oh ja, bitte lös' mich ab, Harry, ich kann nicht mehr." Hermine gähnte demonstrativ.
„Sorry, später vielleicht, ich muss noch mal los", sagte Harry im Vorbeigehen. Er ging geradewegs ins Schlafzimmer, schnappte sich seinen Umhang, rief seinen Freunden noch einmal „bis später!" zu und war auch schon wieder verschwunden. Insgeheim war er heilfroh, dass sie ihn nicht großartig mit Fragen gelöchert hatten - doch dass sie nun endgültig skeptisch wurden, wo er immer hin verschwand, konnte er sich schon jetzt denken. Er würde sich bei der nächsten Begegnung also vermutlich doch auf eine lustige Fragerunde gefasst machen können. Zunächst einmal sollte das jedoch nicht seine Sorge sein. Kaum war er aus dem Gemeinschaftsraum raus, warf er sich seinen Tarnumhang über und schlich sich unbemerkt aus dem Schloss hinaus in Richtung Astronomieturm.
Harry versuchte, die Treppen so lautlos wie möglich hochzusteigen. Mittlerweile war es so dunkel, dass er aufpassen musste, wohin er trat. Oben angekommen schlich er leise um die Ecke, hinüber zur Plattform. Tatsächlich saß dort jemand, nicht jedoch auf der Bank, sondern zwei Meter weiter auf dem Boden, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. An den hellblonden Haaren erkannte er Draco. Doch was hatte er in der Hand? Eine Flasche? Der Gryffindor blinzelte ungläubig. Tatsächlich setzte der Slytherin die Flasche just in diesem Moment an seine Lippen und trank einen großen Schluck. Kurz darauf verzog er für ein paar Sekunden das Gesicht und ließ die Flasche wieder sinken. Harry wagte sich ein kleines Stückchen näher an ihn heran.
„Ich weiß, dass du da bist, Potter", murmelte Draco in die Stille hinein. Harry zuckte vor Schreck zusammen. Er hielt die Luft an, überlegte kurz, ob er sich zu erkennen geben, oder einfach wieder abhauen sollte.
„Du bist nicht gerade unauffällig, so wie du die Treppen hier hoch polterst", setzte der Slytherin nach. Seine Sprach klang merkwürdig verwaschen und Harry musste kein Genie sein, um festzustellen, dass das, was der Blonde da in der Flasche hatte, Alkohol war.
„Willst du lieber alleine sein?", fragte Harry, ohne den Tarnumhang abzulegen.
Einen Augenblick lang zögerte Draco - und Harry hoffte, er würde nicht 'Ja' sagen. Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, warum er gerade das hoffte, denn Draco flüsterte: „Nein."
Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er sich noch ein klein wenig näher heranwagte, bis er schließlich nur noch einen Schritt von Draco entfernt war. Dieser legte seufzend den Kopf in den Nacken. „Gib dich endlich zu erkennen, Potter."
Schließlich zog Harry sich den Umhang aus. Er sah Draco an, konnte jedoch nur noch grobe Umrisse seines Gesichts erkennen - es war bereits zu dunkel. Sein Puls raste, als er sich einen Ruck gab, und sich mit ein wenig Abstand neben ihn setzte.
„Was trinkst du da?"
„Feuerwhisky."
Wie auf Kommando schlug Harry eine leichte Alkoholfahne entgegen. Er zog beide Augenbrauen überrascht hoch. Die Flasche war bereits halbleer und er hoffte, dass Draco nicht alles alleine getrunken hatte...
„Woher hast du den denn?"
„Von meinem Vater gestohlen."
„Ohje", murmelte Harry.
„Ja, ohje, das hat sich mein Vater wohl auch gedacht." Draco lachte heiser, nahm dann noch einen Schluck.
„Hat er dich dabei erwischt?"
„Kann man so sagen."
„Was meinst-", weiter kam Harry nicht, denn Draco hatte einen leisen „Lumos"-Zauber ausgesprochen und die kleine Öllampe, die er dabei hatte, damit entzündet. Nun brannte ein schwaches Licht; gerade hell genug, um sich gegenseitig in die Augen zu schauen. Sofort fiel Harry der dunkle Schatten über Dracos linker Wange auf. Der Gryffindor kam nicht umhin, zischend die Luft einzuatmen und sich etwas näher zu Draco zu beugen, um ihn genauer betrachten zu können. „Wie ist das passiert?" Dracos Wange war deutlich angeschwollen und verfärbt. Auch sein Gesicht war wieder leicht gerötet. Er musste viel geweint haben.
Draco verdrehte die Augen. „Hallo?", flötete er, hob die Flasche an und musterte Harry mit einem Blick, als könne er nicht einmal eins und eins zusammenzählen.
„Das war dein Vater?" Harry zog skeptisch die Augenbrauen zusammen. Er kannte Lucius Malfoy zwar als unglaublich arroganten, unsympathischen Schnösel, aber als sonderlich gewalttätig seinem Sohn gegenüber hatte er ihn noch nie erlebt.
„Ja." Draco grinste schief. „Auch 'n Schluck?" Er hielt Harry die Flasche hin.
Der Schwarzhaarige zögerte einen Augenblick lang. Draco war ganz offensichtlich bereits angetrunken. Tatsächlich hatte Harry jedoch Lust auf einen Schluck Feuerwhisky, also nahm er ihm die Flasche aus der Hand, trank einen großen Schluck und verzog gleich darauf angewidert das Gesicht. „Den hab ich aber besser in Erinnerung", brachte er schließlich hervor und schüttelte sich kurz.
Draco lachte leise - und Harry fragte sich, warum er nicht öfter lachte. Es stand ihm gut. Der Slytherin nahm die Flasche wieder an sich, lehnte seinen Kopf gegen die Wand hinter sich und atmete tief durch. Harry streckte die Beine aus, lehnte seinen Kopf ebenfalls zurück und schaute in den Himmel. Allmählich waren bereits die ersten Sterne vereinzelt zu sehen. Er wusste nicht, ob er Draco auf den heutigen Tag ansprechen sollte. Sollte er ihm noch einmal sein Beileid aussprechen? Sollte er ihn fragen, wie es ihm ging?
„Wer hätte das gedacht?", murmelte Draco unvermittelt. „Dass wir beide hier mal zusammen sitzen und Feuerwhisky trinken?"
Harry lächelte kurz. „Ja."
Sie schwiegen eine Weile. Hin und wieder nahm Draco noch einen Schluck - was Harry wieder an seine ursprüngliche Frage erinnerte. „Warum hat dein Vater dich geschlagen?", fragte er leise und sah ihn an.
Draco zuckte mit den Schultern. „Er ist einfach ausgetickt. Hat die Nerven verloren." Er lächelte kurz bitter. „Wer kann's ihm verübeln?" Und Harry nickte, obwohl Draco ihn nicht ansah. „Er hat sich direkt danach entschuldigt. Halb so wild. Außerdem durfte ich dann doch den Feuerwhisky mitnehmen."
„Soll ich es heilen?"
Nun drehte der Slytherin seinen Kopf zu Harry. „Kannst du das?"
„Ja." Harry rutschte nun ganz nah zu ihm, zückte seinen Zauberstab und richtete ihn geradewegs in Dracos Gesicht, der daraufhin zusammenzuckte und etwas zurückwich. Auch er war ein gebranntes Kind. Waren sie alle. „Vertrau mir", murmelte Harry und konzentrierte sich bereits auf Dracos Wange.
„Dir vertrauen?" Wieder lachte Draco kurz. „Du weißt schon, dass wir immer noch Feinde sind, oder Potter?"
„Sind wir das?"
„Werden wir immer sein."
„Halt still jetzt", bat Harry sanft, sprach einen „Episkey"-Zauber aus und schon war sowohl die Schwellung, als auch die Verfärbung verschwunden.
Draco tastete sich ungläubig an der Wange herum. „Nicht schlecht." Er nickte anerkennend und Harry grinste, während er seinen Zauberstab zurück in die Hosentasche steckte. Sie saßen noch immer sehr dicht beieinander. Harry hatte sich kurzerhand in den Schneidersitz gesetzt, während Draco ein Bein ausgestreckt und das andere locker aufgestellt hatte. Ohne zu fragen nahm Harry dem Slytherin die Flasche aus der Hand und trank einen Schluck. Der Feuerwhisky brannte in seiner Kehle.
„Genau das Richtige für diesen Abend." Draco genehmigte sich ebenfalls einen Schluck und sah wieder hinauf zum Himmel.
„Ja." Harry folgte seinem Blick. „War es sehr schlimm?" Er flüsterte.
Draco schwieg kurz. „Ja."
Der Gryffindor sah ihn nicht an; er konnte es nicht. Sein Blick war starr in den Himmel gerichtet. „Willst du darüber reden?"
„Nein."
„Okay." Harry biss sich kurz auf die Unterlippe. Er hatte noch nie wirklich gut trösten können; meistens wusste er einfach nicht, was er sagen sollte - doch da Draco ohnehin nicht reden wollte, begnügte Harry sich damit, ihm einfach Gesellschaft beim Schweigen zu leisten. Er durfte schnell feststellen, dass es ein angenehmes Schweigen war, bei dem jeder seinen eigenen Gedanken nachgehen konnte, ohne alleine zu sein. Stille legte sich über die beiden Schüler. Die Sonne war komplett untergegangen und lediglich Dracos Öllampe spendete ein wenig Licht. Sie tranken abwechselnd den Feuerwhisky, bis die Flasche fast leer war. Obwohl es sehr kühl dort oben war, fror keiner von ihnen. Der Alkohol trieb ihnen Hitze ein. Noch immer saßen sie sehr dicht beieinander. So dicht, dass Harry wie in Trance dem gleichmäßigen Atem des Slytherin lauschte. Das Geräusch beruhigte ihn. Es gefiel ihm.
„Denkst du echt, wir werden immer Feinde sein?", flüsterte Harry in die Stille hinein. Er sah Draco an, der seinen Blick mit müden, schweren Augen erwiderte. Er hatte viel mehr getrunken, als Harry. Ein leichtes Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Blonden aus - und dann ging alles ganz schnell. Mit einem geflüsterten „Nox" löschte Draco die Öllampe. Kurz darauf spürte Harry eine kühle Hand in seinem Nacken, die seinen Herzschlag sofort in die Höhe trieb. Er wusste, was geschehen würde. Er spürte Dracos warmen Atem gleich vor sich, Sekunden später küsste er ihn. Harry hatte die Luft angehalten, keuchte nun leise in den Kuss hinein. Seine Hand schnellte nach vorne, fasste an Dracos T-Shirt, hielt sich daran fest, während der Slytherin seine Lippen abermals mit Harrys verschloss. In diesem Augenblick prasselten so viele Eindrücke auf ihn nieder, dass er sie gar nicht alle verarbeiten konnte. Er roch den Alkohol, er roch Dracos angenehmen Körperduft, er spürte weiche Lippen, die sich verlangend gegen seine pressten - und als sie gleichzeitig den Mund öffneten, schmeckte er den Alkohol auch.
Draco küsste ihn mit einer Leidenschaft, die irgendetwas in Harry entfachte. Der Gryffindor zog an Dracos Shirt, zog ihn näher zu sich, während Draco sich in den schwarzen Haarschopf krallte und eine Gänsehaut bei Harry auslöste, die ihn erneut leise in den Kuss keuchen ließ. Die schlanken Finger des Slytherin wanderten von Harrys Haaren zu seinem Gesicht, welches Draco mit beiden Händen sanft umfasste, ohne den Kuss zu unterbrechen. Die Stille weit oben auf dem Astronomieturm wurde lediglich durch leise, schmatzende, genießerische Laute durchbrochen. Sie küssten sich, als hätten sie niemals etwas anderes getan. Als wären ihre Lippen füreinander geschaffen. Ihre Bewegungen schienen perfekt aufeinander abgestimmt zu sein. Gleichzeitig war das alles so neu und aufregend, dass Harrys Hand zitterte, als er diese durch Dracos weiches Haar gleiten ließ. Sein Herz raste so extrem, dass er sich ganz sicher war, dass Draco es spüren konnte. Es war stockdunkel, sodass sich Harry ganz auf seine Sinne konzentrieren konnte. Er ließ einige Haarsträhnen durch seine Finger gleiten, während er den süßen Geschmack des Feuerwhiskys von Dracos Zunge kostete.
Trotz Luftnot lösten sie sich erst voneinander, als es nicht mehr anders ging. Leise keuchend hielten sie sich noch immer aneinander fest, blieben sich ganz nahe.
Lange Zeit fand niemand Worte für das, was soeben geschehen war. Erst langsam beruhigten sich ihre rasenden Herzen wieder.
Harry schluckte hörbar. Er hatte seine Hände noch immer in Dracos Haarschopf vergraben. „Du hast zu viel getrunken", flüsterte er. „Oder?"
Draco nickte sofort. „Ja."
Langsam ließ Harry seine Hände sinken und auch Draco ließ ihn los. „Wir sollten zurückgehen."
Wieder nickte der Slytherin. „Okay." Er ließ seine Öllampe wieder aufleuchten. Sofort trafen sich ihre Blicke und Harry stach es kurz ins Herz. Sie hatten sich geküsst. Der Feuerwhisky benebelte seine Sinne, und hätte er nicht wenigstens noch einen Funken Vernunft in sich, hätte er den Slytherin gleich wieder zu sich gezogen. Die Anziehung, die von ihm ausging, war so groß, dass es ihm unendlich schwerfiel, sich langsam aufzurappeln, Draco die Hand zu reichen und ihm ebenfalls aufzuhelfen. Der Blonde war deutlich wackeliger auf den Beinen, sodass Harry sich nicht traute, ihn loszulassen, während sie die Treppe hinunterstiegen. Hier und dort eckte Draco an; er torkelte mehr, als dass er ging. Harry umfasste seinen Körper etwas fester, führte ihn sicher hinab und flüsterte: „Wir sollten den Tarnumhang nutzen, damit Filch uns nicht erwischt."
„Kluger Einfall, Potter", nuschelte Draco und musste prompt gähnen.
„Dann komm", wisperte der Gryffindor, warf den Tarnumhang über sie beide und stützte den schwer torkelnden und schwankenden Draco bis vor die Slytherinräumlichkeiten. Dort blieben sie vor der Tür stehen und sahen sich an. Der Gang wurde lediglich von einigen wenigen Fackeln erleuchtet. Harry hielt Draco noch immer fest, rückte nun beinahe automatisch näher zu ihm. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, als Draco sich müde gegen ihn lehnte, seine Arme etwas unbeholfen um Harrys Körper schlang und ihn an sich drückte. Harry wusste, dass dies höchstwahrscheinlich das letzte Mal war, dass sie sich so nahe sein würde. Wenn Draco erst einmal seinen Rausch ausgeschlafen hatte, würde er vermutlich auswandern. Und so genoss der Gryffindor diesen letzten Augenblick, schmiegte sein Gesicht in Dracos Haare, atmete den angenehmen Geruch tief ein und versuchte, sich jedes einzelne Detail einzuprägen. Viel zu schnell löste sich der Blonde wieder von ihm, nuschelte „Gute Nacht", schenkte ihm ein müdes Lächeln, welches in ein unterdrücktes Gähnen überging, und betrat den Slytherin-Gemeinschaftsraum. Harry hatte nichts erwidert, sah ihm noch kurz hinterher, ehe er sich wieder seinen Tarnumhang umwarf und rasch in Richtung Gryffindorturm lief. Dabei musste er selbst aufpassen, nicht gegen diverse Ecken zu stoßen.
Als Harry in seinem Bett lag - zum Glück waren seine Zimmergenossen nicht aufgewacht - raste sein Herz noch immer. Er blinzelte in die Dunkelheit hinein und fragte sich, ob das gerade eben tatsächlich geschehen war, oder ob er geträumt hatte. Seine eiskalten Füße und der fremde - und mittlerweile doch so vertraute - Duft in seiner Nase, bewiesen ihm, dass es wirklich passiert war. Seine Gedanken kreisten um Draco, mehr denn je.
Sie hatten sich geküsst. Gerade sie, die ehemaligen Erzfeinde; die, die sich noch nie hatten leiden können und sich bloß ständig das Leben gegenseitig schwergemacht hatten.
Harry dachte an Dracos weiche Lippen, den süßlichen Geschmack, die kühlen, schlanken Finger in seinem Nacken. Eine Gänsehaut zog sich über seinen Körper und beinahe hätte er gestöhnt. Er drehte sich auf die Seite und zog die Beine an, als er aufkommende Erregung spürte. Die Art und Weise, wie ihre Zungen miteinander gespielt hatten, war so reizvoll gewesen - Harry hatte noch nie etwas Vergleichbares erlebt. Er biss die Zähne fest zusammen, musste sich mit großer Mühe davon abhalten, sich selbst anzufassen. Sein Glied pulsierte. Er weigerte sich. Er würde sich nicht selbst befriedigen, während er an Draco Malfoy dachte. Das ging zu weit.
Es dauerte lange, bis Harry endlich einschlafen konnte...
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