12. Einsamkeit
Es vergingen ein paar ereignislose Tage, die Harry dazu nutzte, ein wenig Schulstoff aufzuholen. Da er die letzten paar Abende damit verbracht hatte, den Zauberspruch mit Draco zu üben, war er kaum dazu gekommen, zu lernen oder seine Hausaufgaben zu machen. Er hatte Hermine nur grob erzählt, dass er es geschafft hatte, den Trank tatsächlich zu verstärken. Dabei hatte er ihr verschwiegen, wie heftig diese Erfahrung gewesen war. Zwar hatte Hermine gefühlte zehnmal nachgefragt, wie genau er es geschafft hatte, doch Harry fühlte sich noch immer nicht in der Lage, darüber zu reden. Die Erlebnisse waren verstörend gewesen und es hatte eine Weile gedauert, bis er die ganzen Eindrücke hatte verarbeiten können, aber inzwischen war er wieder der Alte. - Was man von Draco nicht behaupten konnte. Der Blonde schien von Tag zu Tag etwas mehr zu verschwinden. Erst konnte Harry beobachten, wie er sich immer mehr von seiner üblichen Clique absetzte und im Unterricht abwesend wirkte. Dann hörte er auf zu essen, stocherte nur noch lustlos in seinem Essen herum. Während dem Mittagessen lag Harrys Blick auf dem Slytherin.
„Er sieht traurig aus."
Harry schreckte zusammen, als Luna plötzlich neben ihm saß. „Luna, ich hab ich gar nicht kommen hören", sagte er schnell und schluckte nervös. Hermine und Ron waren bereits gegangen, unter dem Vorwand, zur nächsten Unterrichtsstunde nicht zu spät kommen zu wollen. In Wahrheit wusste Harry, dass sie bloß noch rumknutschen wollten. In solchen Momenten fühlte er sich wie ein Klotz am Bein, der seinen Freunden nicht genug Privatsphäre ließ. Es dauerte einen Augenblick, bis Harry Lunas Worte verinnerlicht hatte. „Was meinst du?", fragte er und folgte ihrem Blick zum Slytherin-Tisch.
„Ich glaube, seiner Mutter geht es schlechter", sagte Luna leise, ohne ihren Blick von Draco abzuwenden, und Harry hätte sie am liebsten gebeten, nicht so offensichtlich zu ihm zu schauen.
„Wieso, hast du etwas Neues gehört?" Harry sah sie interessiert an.
„Nein." Luna nahm sich eine Schüssel Pudding vom Tablett in der Mitte des Tisches und begann, ihn langsam zu essen. „Du könntest ihn bestimmt aufmuntern. Er schaut oft zu dir, als wärst du der Einzige, der das könnte", sagte sie, während sie nunmehr den Pudding anstarrte und Löffel für Löffel in ihrem Mund verschwinden ließ.
„Luna." Harry gab ein nervöses, kurzes Lachen von sich, als wäre es total absurd, was seine Freundin da sagte. „Malfoy und ich sind keine Freunde, es wäre wohl recht sonderbar, wenn gerade ich ihn aufmuntern würde, oder meinst du nicht?"
„Um Trost zu spenden, muss man nicht zwangsläufig befreundet sein." Luna lächelte. Harry sah sie einen Moment lang an und nickte dann leicht, weil er wusste, dass sie recht hatte.
-
An einem Donnerstagnachmittag machte sich Harry auf den Weg zum Zaubertränke-Unterricht. Zu seiner Verwunderung war Dracos Platz noch leer, als er ankam. Normalerweise war der Slytherin immer als Erster da. Harry setzte sich hin und wartete, doch schließlich begann der Unterricht, ohne dass Draco noch hinzustieß. Der Schwarzhaarige bekam ein mulmiges Gefühl. Nicht nur, dass er sich nun alleine durch sein Hassfach quälen musste - Draco und er waren in der letzten Zeit zu etwas geworden, was man fast schon als „gutes Team" bezeichnen konnte - vielmehr hatte der Gryffindor auch das Gefühl, dass etwas passiert war. Es war nicht schwer zu erahnen, um was es sich handeln musste.
Als Snape zwischendurch einen Blick auf Harrys Trank warf, nutzte er die Gelegenheit. „Professor?", fragte er leise. „Wo ist Draco?"
„Das, Mr. Potter, sollte nicht Ihre Sorge sein", zischte Snape. „Mr. Malfoy wurde für den heutigen Tag vom Unterricht befreit." Er besah sich die Zutaten, die Harry auf dem Tisch platziert hatte. „Ich möchte Ihnen raten, sich wenigstens dieses eine Mal zu konzentrieren, Mr. Potter. Heute ist niemand da, der Sie vor Dummheiten bewahrt." Ein süffisantes Grinsen zeichnete sich auf dem Gesicht des Professors aus. Harry seufzte lautlos und las sich das Rezept zur Sicherheit noch einmal genau durch.
„Draco war heute nicht im Unterricht", stellte Hermine flüsternd fest. Sie hatte Harry nach dem Unterricht kurz zur Seite genommen, um unter vier Augen mit ihm zu sprechen.
„Nein. Snape sagte, er wäre für heute beurlaubt worden."
Hermine schluckte. „Meinst du, es ist geschehen?"
Harry verstand sofort, was sie meinte. „Ich weiß es nicht", flüsterte er. „Aber das würde bedeuten, dass der Trank nicht gewirkt hat, trotz Verstärkungszauber." Er blickte sie verzweifelt an.
„Es ist eine 50:50 Chance, Harry", erinnerte Hermine ihn und berührte seine Schulter, die sie sanft drückte. „Du hast getan, was du konntest. Aber jetzt tu mir einen Gefallen und lass dir nicht die Schuld daran geben, hörst du?" Als Harry nicht sofort antwortete, suchte sie seinen Blick und forderte mit etwas mehr Nachdruck: „Hörst du, Harry?"
„Ja." Er nickte mit gesenktem Kopf. „Werde ich nicht."
„Gut." Sie lächelte ein wenig, drückte noch einmal seine Schulter und sagte dann aufmunternd: „Komm, lass uns sehen, wo Ron steckt."
Harry folgte ihr. Er versuchte wirklich, ihren Rat zu beherzigen, doch seine Gedanken drehten sich für den Rest des Tages nur noch um Draco. Als der Slytherin zum Abendessen noch immer nicht wieder da war, begann er, sich wirklich Sorgen zu machen. Spätestens zur Nachtruhe musste er doch wieder im Schloss sein, immerhin war er gewiss nur einen Tag vom Unterricht befreit worden. Er stand auf, murmelte etwas von „muss noch was erledigen" und machte sich etwas ziellos auf den Weg aus der Großen Halle, hinein in die Eingangshalle, wo er beinahe mit Luna zusammengestoßen wäre.
„Oh, Hallo Harry." Sie lächelte freundlich.
„Hallo Luna. Hast du Draco heute Abend schon gesehen?", fragte Harry leise.
„Ja, vorhin. Sein Vater hat ihn zurück nach Hogwarts gebracht. Ich wusste gar nicht, dass er weg war."
Harrys Puls begann zu rasen. Er hätte beinahe gefragt, ob Luna wusste, wo er jetzt war, doch woher hätte sie das wissen sollen? Also bedankte er sich rasch bei ihr für die Info und rannte los. Er hatte da so eine Ahnung, wo Draco sein könnte...
Auf den letzten paar Metern nahm Harry zwei Stufen auf einmal. Er keuchte, als er oben auf dem Astronomieturm angekommen war und nun die Aussichtsplattform betrat. Der blonde Schopf des Slytherin, welcher in der Abendsonne wieder einmal golden schimmerte, fiel ihm sofort ins Auge - doch dieses Mal versetzte ihm der Anblick einen Stich ins Herz. Draco hatte die Beine hinauf auf die Bank gezogen, seine Arme auf den Knien abgestützt und seinen Kopf dort vergraben. Harry blieb einen Augenblick lang stehen und sah Draco an, der völlig reglos auf der Bank saß. Langsam näherte Harry sich. Draco reagierte nicht. Schließlich setzte der Gryffindor sich vorsichtig neben ihn. Noch immer keine Reaktion.
„Draco?" Es war lediglich ein Flüstern, das Harry noch über die Lippen kam. Sein Herz hämmerte gegen seinen Brustkorb, als er seine Hand ausstreckte und sie auf Dracos Rücken legte. Er hörte, wie Draco leise die Nase hochzog. Noch immer hatte er sein Gesicht in seinen Armen verborgen, sodass Harry ihn nicht ansehen konnte. Seine Hand fuhr dem Slytherin sanft über den Rücken. Erst jetzt spürte er, wie sehr Draco zitterte. Harry wusste nicht, ob er weinte oder fror, oder vielleicht beides. „Es tut mir so leid", flüsterte der Schwarzhaarige und merkte, wie seine eigene Stimme wegbrach. Er schluckte schwer, als Draco nunmehr leise, schluchzende Geräusche von sich gab und sein Gesicht noch etwas tiefer vergrub.
Harry rückte ein kleines Stück näher zu ihm, legte nun seinen ganzen Arm um Dracos Körper, um ihm etwas mehr Halt geben zu können. Das bewirkte bei Draco, dass dieser seine Emotionen nur noch weniger unter Kontrolle hatte, weswegen er sich furchtbar schämte. Er wollte nicht vor Harry weinen, doch alleine sein wollte er auch nicht. Er konnte die Nähe kaum ertragen und hatte zeitgleich das Gefühl, jeden Augenblick auseinanderzubrechen, wenn ihn niemand festhielt. Seine Gedanken kreisten um seine Mutter, die er an diesem Tage für immer verloren hatte. Ein tiefer Schluchzer drang aus seiner Kehle und als Harry ihn daraufhin sanft zu sich zog, brach der Damm endgültig. Draco drehte sich in Sekundenschnelle zu ihm, schlang beide Arme um dessen Körper und begann zu weinen. Er konnte es nicht mehr an sich halten, der Schmerz war zu groß. Harry umfasste seinen schmalen Körper, hielt ihn ganz fest und strich beruhigend über seinen Rücken, während seine Halsbeuge von Tränen durchnässt wurde. Eng umschlungen saßen sie auf der Bank, zwei Herzen stolperten unkontrolliert umher und die Sonne ging von Minute zu Minute ein Stück weiter unter.
Der Gryffindor erwischte sich selbst dabei, jedes Mal eine Gänsehaut zu bekommen, wenn Draco gegen seinen Hals atmete. Der Blonde hatte seinen Kopf auf Harrys Schulter gelegt, sein Gesicht war in dessen Halsbeuge vergraben, seine Hände krallten sich in seinen Rücken und hielten ihn so fest bei sich, wie er nur konnte. Harry selbst fuhr die deutlich spürbare Wirbelsäule des Slytherin neugierig auf und ab. Es dauerte lange, bis Draco sich wieder einigermaßen gefangen hatte. Die sanften Streicheleinheiten halfen ihm dabei, sehr viel besser, als er sich je eingestehen würde. Harry hatte seinen Kopf ein wenig gegen Dracos geschmiegt. Er konnte nicht anders, als den sanften Parfümduft, gemischt mit dem Geruch von Haarspray, tief in sich aufzunehmen. Die feinen, blonden Haare kitzelten an seiner Wange, und wären die Umstände nicht so traurig gewesen, hätte er nun gelächelt.
Noch immer zitterte der Slytherin am ganzen Körper. Harry löste eine Hand von Dracos Rücken, um in seine Hosentasche zu greifen. Er zog seinen Zauberstab hervor, flüsterte einen kurzen Zauber, und im nächsten Moment lag eine dicke, graue Wolldecke um Dracos Schultern. Der Gryffindor steckte den Zauberstab zurück in seine Tasche, wuselte seinen Arm unter die Decke und fuhr mit seinen sanften Berührungen fort, als wäre nie etwas geschehen.
Dracos Tränen waren vorerst versiegt und sein Griff hatte sich ein wenig gelockert. Sie saßen einige Minuten so da, ehe der Slytherin sich wieder regte. Er zog noch einmal kurz die Nase hoch, hob den Kopf ein wenig und wischte sich mit fahrigen Bewegungen über die nassen Augen. Harry sah ihn an. Ihre Gesichter waren sich plötzlich so nah, dass er nervös schluckte und sein Herz kurz einen Schlag übersprang. Draco sah furchtbar aus, mit geschwollenen, roten und unglaublich müden Augen. Er wirkte so abgekämpft, dass Harry nicht anders konnte, als wirklich Mitleid für seinen ehemaligen Erzfeind zu empfinden. Ganz automatisch, ohne dass Harry es hätte beeinflussen können, wanderte seine Hand in Dracos Nacken, wo er ihm sanft durch die Haare strich. Draco schloss kurz die Augen und lehnte seinen Kopf erneut gegen Harrys Schulter. Er atmete tief durch, entspannte sich langsam ein wenig. Harry fand schnell Gefallen daran, die weiche, zarte Haut in Dracos Nacken zu massieren und zu erkunden. Die gepflegten, weißblonden Haare, die so gut rochen und sich noch besser anfühlten. In dieser Position verharrten sie einige Zeit, bis der Slytherin sich erneut von Harry löste. Sichtlich peinlich berührt nahm er etwas mehr Abstand, sodass Harry ihn loslassen musste. Der Gryffindor zog sofort seine Hände zurück, und Draco bereute augenblicklich, sich von ihm gelöst zu haben, denn trotz der Wolldecke begann er erneut zu frieren.
„Sorry", murmelte Draco leise und kaschierte seine erdrückende Unsicherheit mit einem unangebrachten Grinsen, welches jedoch gleich wieder erstarb, als er den Kopf senkte.
„Kein Grund sich zu entschuldigen." Harry flüsterte beinahe. Er wusste nicht, was er noch sagen sollte, also schwiegen sie eine Weile lang, schauten in den Himmel und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Die Sonne war fast komplett untergegangen.
„Hast du heute beim Zaubertränke-Unterricht wieder 'nen Kessel in die Luft gejagt?", fragte der Blonde völlig unvermittelt - und trotz der angespannten Situation, musste Harry lächeln, als er den Kopf schüttelte. „Nein, dieses Mal nicht." Er drehte den Kopf zu ihm und sah ihn an. „War aber knapp." Draco erwiderte seinen Blick und lächelte kurz. Dieses Lächeln ließ ihn noch gebrochener aussehen, als sowieso schon. Harry musste den Drang, erneut einen Arm um ihn zu legen, mit aller Kraft unterdrücken. Stattdessen blieb er regungslos neben ihm sitzen.
Sie schwiegen lange, bis Draco schließlich flüsterte: „Es war alles umsonst."
Harry sah ihn an. Er spürte einen Kloß im Hals. Der Slytherin spähte in die Ferne. „Es tut mir leid, dass ich von dir verlangt habe, den Verstärkungszauber zu lernen."
Harry schüttelte kurz den Kopf. „Ich hab ihn ja freiwillig gelernt", sagte er sanft. „Ich wünschte, es hätte funktioniert..."
„Ich auch." Dracos Stimme war dünn wie Papier. Er beugte sich erneut vor, stützte seine Ellenbogen auf die Knie, verbarg sein Gesicht in seinen Händen und atmete angestrengt. Harry wusste, dass er wieder mit den Tränen kämpfen musste, daher zögerte er nicht lange, sondern rückte wieder näher zu ihm und legte seine Hand auf Dracos Rücken, den er sanft zu streicheln begann. Eine ganze Zeit lang saßen sie so da, und Harry ahnte nicht, wie sehr der Slytherin die zärtlichen Berührungen auf seinem Rücken genoss. Es dauerte eine Weile, bis sein Atem wieder ruhiger geworden war, und irgendwann hatte er die Augen geschlossen und sich nur auf Harrys Berührungen konzentriert. Es fühlte sich gut an. So gut, dass er noch Stunden in dieser Position hätte verweilen können, doch er hatte Harry schon viel zu viel zugemutet, daher richtete er sich langsam wieder auf, wischte sich über die feuchten, brennenden Augen und sagte leise: „Ich geh mal schlafen. Ist wohl das Beste." Er sah kurz zu Harry, der seine Hand wieder weggezogen hatte und nun nickte.
„Kommst du mit runter?", fragte Draco.
„Ja."
Harry hatte die graue Wolldecke wieder verschwinden lassen wollen, doch der Slytherin hielt ihn auf, rollte die Decke stattdessen rasch zusammen und klemmte sie sich unter den Arm, während sie den Turm hinunterstiegen. Unten verabschiedeten sie sich knapp. Draco konnte Harry kaum in die Augen sehen, er schämte sich für seine vielen Tränen, für diesen schwachen Moment, den er mit Harry geteilt hatte. Nach einem leisen „Bis dann" des Slytherin, hatte Harry ihn - zu Dracos großer Überraschung - noch einmal fest in die Arme gezogen. Draco war so überrumpelt gewesen, dass es einen Moment gedauert hatte, bis er die Umarmung erwidern konnte. Anschließend hatte auch Harry leise „Bis dann" gemurmelt und war gegangen.
Als Draco an diesem Abend in seinem Bett lag, fühlte er sich so einsam wie noch nie zuvor in seinem Leben. Seine Zimmergenossen waren bereits alle am schlafen gewesen, als er zurückgekehrt war. Harry und er hatten sich schon wieder während der Sperrstunde außerhalb des Schlosses aufgehalten, sie mussten wirklich etwas vorsichtiger sein. Der Blonde hatte sich rasch hingelegt, und obgleich er furchtbar müde und erschöpft war, raste sein Herz wie wild in seiner Brust. Seine Gedanken kreisten pausenlos um seine Mutter. Die ganzen Eindrücke dieses furchtbaren Tages ließen ihn ewig lange nicht schlafen. Er wälzte sich unruhig im Bett hin und her, stand schließlich leise wieder auf, nahm die graue Wolldecke, die Harry ihm oben auf dem Turm herbeigezaubert hatte, von seinem Stuhl, legte sich wieder hin und kuschelte sich an sie. Als ihm bewusst wurde, wie einsam er war, jetzt, wo er noch nicht einmal mehr seine Mutter an seiner Seite hatte, weinte er stumme Tränen, bis er irgendwann keine Kraft mehr hatte und endlich einschlief...
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