Von Sünde und Tod

Es war ein Fehler gewesen.

Der Wind strich durch Cyns immer noch offene Haare. Er hatte sich seinen Umhang über die Schultern gelegt, da die Nacht kühl geworden war, obwohl die Wärme des Feuers weiterhin auf seinen Wangen glühte.

Er führte seine Pfeife an die Lippen. Sein Arm lag um Nilan. Der Mond, auch in einen Umhang gehüllt, hatte seinen Kopf auf Cyns Schulter gelegt und strich ihm über den Rücken.

Cyn wollte ihn nicht gehen lassen, doch diese eine Frage bohrte sich wie ein heißer Dolch in seine Gedanken: War es ein Fehler gewesen?

Er war ein Mensch, Nilan ein Gott. Er hätte ihn nie auch nur berühren dürfen.

»Cyn?« Nilans kühler Atem traf gegen seine Haut. »Ist alles gut?«

»Natürlich«, sagte Cyn. »Ich denke nur ...« Er schüttelte den Kopf und meinte: »Nichts.« Nilan würde bald wieder in den Himmel steigen, da musste Cyn den letzten Tag auf Erden nicht beschwerlich machen, indem er ihm von seinen Sorgen berichtete.

Im Unterholz knackten Zweige. Einige Tiere waren des Nachts unterwegs, aber das Feuer schreckte sie ab.

Er fühlte an seiner Schulter, wie Nilans Adamsapfel auf und ab hüpfte. »Cyn, ich ... ich denke, ich mag es, bei dir zu sein.«

»Gewöhn dich nicht dran«, brummte Cyn und stockte. Hatte er nicht gerade noch beschlossen, dass er Nilan keinen zusätzlichen Kummer bringen wollte? Er konnte nichts einfach mal schön lassen.

»Ich habe darüber nachgedacht«, sagte Nilan. »Vielleicht kann ich nochmal zurückkehren. Ich habe die Möglichkeit, stets zu fallen, wenn ich möchte. Und bestimmt gibt es einen Weg, wie ich leichter wieder an den Himmel komme.«

Ein Funke Wärme entzündete sich in Cyns Brust, doch er erstickte ihn sofort im Keim. »Das ist keine gute Idee. Du wurdest schon einmal gefangen genommen und ich möchte nicht, dass es ein zweites Mal geschieht.« Vor allem nicht seinetwegen.

Nilan antwortete nicht.

Vermutlich hatte Cyn ihn enttäuscht, aber es war besser so. Er ignorierte die Kälte, die ihn überkam und frösteln ließ.

Wenn die Menschen Nilan ein zweites Mal in die Finger bekommen würden, dann käme er vielleicht nicht mehr frei.

»Es ...« Er zögerte, die Worte auszusprechen. »Es tut mir leid.«

»Das muss dir nicht leidtun«, murmelte Nilan. »Es ist vermutlich wirklich das Beste so ...« Er ließ den Satz in der Luft hängen, als wollte er noch etwas ergänzen, doch nach einigen Augenblicken schloss er den Mund und verharrte in Schweigen.

In der Ferne knackte etwas. Die Härchen in Cyns Nacken stellten sich auf und er sah in den Wald. Die Flammen warfen flackernde Schatten in die Dunkelheit.

Er erkannte nichts. Kein Tier, keinen einsamen Reisenden.

Die Gänsehaut blieb, als er sich wieder zu dem Feuer wandte. Er entließ Nilan aus seinen Armen und zog stattdessen seinen Waffengürtel zu sich.

»Was ist los?«, fragte Nilan.

»Ich bin mir nicht sicher.« Cyn prüfte seinen Dolch, um ihn notfalls schnell zur Hand zu haben. »Irgendetwas nähert sich.«

Der Wind strich durch die Baumkronen und flüsterte leise Worte. Unheilvolles. Er kündigte den Besucher an, noch ehe dieser auf die Lichtung trat. Doch eigentlich war es kein Besucher, eigentlich waren sie die Eindringlinge und der Ankömmling ihr Gastgeber, der nie von ihnen hätte erfahren sollen.

Nilan neben ihm erstarrte. Seine Augen weiteten sich. »Kalik.«

Das geflüsterte Wort drang zu Cyn, kurz bevor leises Lachen durch den Wald hallte. Wie das Echo von tausenden Vogelstimmen, wie das Lied des Windes, wie das Gebell von Hunden, die zur Jagd losgelassen wurden.

Cyn nahm seinen Dolch und sprang auf die Beine, hielt dabei das Ächzen zurück, als ihm Schmerz bis ins Knie schoss. Mit der anderen Hand musste er den Bund seiner Hose greifen, damit sie nicht hinunterrutschte.

Das erste, was zwischen den Bäumen in den Schein des Feuers trat, waren lange haarige Beine. Erst zwei, dann zwei weitere. Die restlichen vier, ebenso wie der dicke, pulsierende Hinterleib, blieben im Schatten des Waldes.

Dem Spinnenkörper entwuchs eine Frau. Dunkle Maserung, ähnlich einem Baum, zog sich über ihre Haut. Ihre Haare, in denen einzeln Zweige und hölzerne Perlen hineingeflochten waren, fielen in Wellen über ihre Schulter. Die meisten Strähnen waren braun, doch einige hatten ein tiefes, mattes Grün angenommen.

Aus ihrer Haut sprossen Äste und blattreiche Zweige, die sich wie eine Rüstung auf ihren Körper legten. Tiefgrüne Augen schweiften über die Lichtung, bis sie auf Cyn liegen blieben.

»In meinem Wald,« sprach sie. Mindestens zwei der acht Beine zuckten, als müssten sie sich zurückhalten, sich nicht sofort auf Cyn zu stürzen. »In meinem Wald begingst du eine Sünde, Sterblicher.«

Cyn wich zurück und verstärkte gleichzeitig den Griff um seinen Dolch. Er hatte gewusst, dass er einen Fehler gemacht hatte. Natürlich hatte die Göttin bemerkt, dass sie in ihr Heiligtum eingedrungen waren, und sie hatte auch bemerkt, dass er Nilan nah gekommen war. Und keine andere Gottheit bestrafte so gern Liebende und sei es nur für etwas Einfaches wie das Zuwerfen lüsterner Blicke.

Nilan kam auch langsam auf seine Beine, immer noch nur in den Umhang eingewickelt. »Kalik, ich –«, setzte er an, aber die Göttin brachte ihn mit einem Zischen zum Schweigen.

»Oh, Bester unter den Göttern.« Sie machte eine spöttische Verbeugung, doch als sie wieder aufsah, zog sich Eis durch ihre Augen wie Frost auf Gräsern. »Du hast jeden Respekt verloren, den ich einst für dich gehegt habe.«

Nilan presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und erwiderte nichts.

»Du jedoch, Mensch.« Kaliks Augen wanderten zu Cyn. »Dir gebe ich eine Chance. Einst standest du in der Gunst meines Bruders. Einst sprach er stets in höchsten Tönen von dir. Du erinnerst dich doch an Varjan?«

Cyn knurrte leise und drehte den Dolch in seiner Hand. Wie könnte er den Kriegsgott vergessen?

»Kleide die Hose vernünftig an«, sprach Kalik, »und dann kämpfe. Töte mich und ich lasse euch ziehen.«

Cyn schluckte schwer. Welch andere Wahl blieb ihm? Wann in seinem Leben war er je kein Spielstein der Götter?

Er tat, wie Kalik befohlen hatte, ehe er wieder seinen Dolch aufnahm und sich der Göttin entgegenstellte. Ein zufriedenes Lächeln umspielte ihre Lippen und gab ihrem Gesicht die Züge eines Fuchses.

Es war überflüssig zu sagen, dass kein Mensch je gegen eine Gottheit siegen konnte.

»Kalik, bitte –«, versuchte Nilan ein weiteres Mal, zu ihr durchzudringen, doch wieder gab sie ihm ein Zischen.

»Wenn du dich einmischst, werde ich dich zerreißen, Prinzessin«, sagte Kalik. »Ich kann dich schneller töten, als du deine Magie wirken kannst.«

Der Kloß in Cyns Hals drohte, ihn zu ersticken. Er hatte gedacht, im Notfall hätte er sich durch einen Wunsch außer Gefahr bringen können, doch wenn Kalik die Wahrheit sprach ...

Sie ließ ihm keine Zeit, sich weitere Gedanken zu machen. Eines ihrer Beine schoss auf ihn zu. Mehr aus Instinkt machte er einen Satz zur Seite und es bohrte sich neben ihn in den Boden.

Wie sollte er nicht nur gegen eine Göttin bestehen, sondern sie auch besiegen? Wie, wenn jetzt schon nur das Adrenalin in seinem Blut dafür sorgte, dass das Stechen in seiner Wade zu einem dumpfen Pochen geworden war? Wie –

Dem nächsten Angriff wich er nicht rechtzeitig aus. Wie eine Speerspitze streifte das Bein seine Seite und riss die Haut auf.

Er schluckte den Schmerz hinunter, denn er sah seine Möglichkeit. Er holte aus, nach dem Bein zu hacken.

Es verschwand, gerade als die Schneide es treffen sollte. Nicht nur das Bein verschwand, sondern der gesamte Spinnenkörper. An der Stelle flatterte ein Rotkehlchen durch die Luft. Nur für einen Wimpernschlag, dann stand wieder eine Frau nur einen Schritt von ihm entfernt, diesmal ohne den spinnenartigen Leib.

»Erbärmlich.«

Ein Schwert blitzte im Licht des Feuers auf, schoss direkt auf Cyns Brust zu.

Der dunkle Klang einer Glocke hallte im Wald wider. Dann war dies nun das Ende und Lehu kam, ihn in die Unterwelt zu holen.

Ich wünsche

»Niemand entkommt dem Tod.«

Er hatte gehofft, sich rechtzeitig etwas wünschen zu können, doch schon taten sich violette Flügel vor ihm auf und eine blumenverzierte Sense schnitt durch die Luft.

Nicht er war ihr Ziel.

Ein hoher Schrei bohrte sich in sein Trommelfell und Kaliks Schwert fiel zu Boden. Ihre Hand umklammerte immer noch den Griff. Kein Blut breitete sich auf dem Gras aus. Es war eher, als wäre der Körperteil nur ein kunstvoll geschnitztes Holzstück.

»Bist du blind geworden?«, spuckte Kalik dem neu erschienenen Gott entgegen. »Das war mein Arm und nicht ...« Mit ihrer verbliebenen Hand gestikulierte sie zu Cyn.

Lehu achtete nicht auf sie. Er ließ seinen Blick über die Lichtung schweifen, erst zu Cyn, der nur notdürftig mit einer Hose bekleidet war, dann zu seinem Bruder, auf dessen Wangen sich Röte legte.

Stille.

Dann ein helles, hohes Geräusch, wie die verbale Form splitternden Glases.

Cyn benötigte einen Moment, bis er den Ursprung erkannte.

Lehu lachte.

Er warf beiden erneut einen Blick zu. Und lachte weiter.

Kaliks Miene verfinsterte sich. »Das ist nicht witzig.«

Lehu holte tief Luft und schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es wahrlich nicht. Doch es ist so dumm, dass ich nicht erwartet hätte, es jemals zu Gesicht zu bekommen.« Er bemühte sich um Ernst, aber das Zucken seiner Mundwinkel verriet ihn.

Kalik knirschte mit den Zähnen. Sie nahm ihren Arm auf und hielt ihn an den Stumpf an ihrer Schulter. Zweige krochen heraus und verbanden den abgeschlagenen Teil wieder mit ihr.

»Was willst du hier?« Sie hob das Schwert an und richtete es diesmal auf Lehu. »Normalerweise lässt du dich nicht dazu herab, deinen Bruder oder – noch schlimmer – einen Sterblichen zu beschützen.«

»Ich bin in eigener Sache hier«, sprach Lehu. Nun hatte der Ernst doch die Oberhand erlangt. »Gib mir die Seele, die mir zusteht.«

Cyn erinnerte sich. Lehu hatte bei ihrer letzten Begegnung erwähnt, dass er auf dem Weg in Kaliks Gebiet war, um Massons Seele zurückzuholen.

Die Göttin schnaubte. »Niemals. Er hat dafür gesorgt, dass mein Wald beinahe vollständig brannte. Das kann ich ihm nicht verzeihen.«

Lehu neigte den Kopf. »Ich hätte mir gewünscht, dass du deinen Platz kennst.« Er sah zu Cyn und Nilan. »Nehmt eure Sachen und geht. Der Weg ist nicht mehr weit.«

Cyn brauchte kein weiteres Zeichen. Er kleidete sich hastig ein, warf Nilan dessen Kleidung zu und sammelte alles an Habseligkeiten zusammen.

»Selbst wenn sie gehen, werde ich den Göttern davon berichten«, sagte Kalik. »Was sich hier abgespielt hat, darf nicht ohne Konsequenzen bleiben.«

»Erst einmal bin ich deine größte Sorge.« Lehu verstärkte den Griff an seiner Sense.

»Komm«, sagte Cyn leise und nahm Nilans Handgelenk, als dieser keine Anstalten machte, sich von den beiden Göttern zu entfernen. Er ließ sich nicht mitziehen.

»Lehu?«, rief er.

Der Tod wandte sich nicht zu ihm und schickte ihn nur mit einer Handbewegung fort. »Ich verstehe und ich werde mich darum kümmern. Geh nun.«

Erst daraufhin folgte Nilan.

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