Vergänglichkeit

»Was? Wen?« Cyn wich zurück und zog sich den Umhang enger um die Schultern.

»Einst hielt Einar viel von dir.« Lehu ging langsam Kreise um ihn herum. Bei jedem Schritt erklang die Glocke und dunkle Töne hallten in dem Wald wider. Unwillkürlich fragte sich Cyn, ob der Tod bei jedem Schritt eine Seele nahm.

»Einst sah er Güte in dir.« Lehu schnaubte und schüttelte den Kopf. »Doch dein Verhalten gestern hat ihm dein wahres Gesicht gezeigt. Ich hoffe nur, er hat erkannt, welch schrecklichen Fehler er begangen hat.«

Cyn schluckte. Am Vortag hatte Nilan trotzdem normal mit ihm gesprochen. Kein Ton von Unverständnis oder Abneigung waren in seinen Worten gewesen. Er hatte Cyn gehalten, obwohl ein jeder andere vermutlich das Weite gesucht hätte.

»Er ist der Gott der Gnade«, fuhr Lehu fort. »Er strebt nicht nach Macht oder Krieg. Er ist bereit, jede Sünde zu vergeben – ungeachtet der Schwere der Taten. Verstehst du, was ich sage, Mensch?«

Der Tod blieb vor ihm stehen. Seine violetten Augen musterten ihn, halb interessiert, halb abschätzig.

Cyn schüttelte den Kopf.

Lehu schnaubte und begann erneut, seine Kreise zu ziehen. »Einar ist in der Lage, nahezu alles zu vollbringen, doch nur wenn es ihm zuvor als Wunsch gestellt wird. Er existiert nur für andere.« Er blieb stehen und sah zu Cyn.

»Aber die anderen sollten ihn nie in die Finger bekommen«, meinte er. Ob Nilan wohl auch demjenigen verziehen hatte, der ihn gefangen hielt? Letztlich war er der Gott der Gnade.

Lehu nickte. »Nicht nur die anderen, auch nicht die Götter. Einar ist der Beste unter ihnen und das wissen sie. Und dafür hassen sie ihn.«

Cyn schluckte schwer. Nilan wollte zurück in den Himmel, aber das klang nicht, als wäre es eine gute Idee.

Er wurde nach vorn und damit aus seinen Gedanken gerissen. Lehus Hand hatte seinen Kragen gepackt.

»Außerdem heißt es«, fuhr der Tod fort und schob die Brauen noch finsterer zusammen, »dass er dich nicht braucht. Doch aus unerfindlichen Gründen entschied er sich für deine Gesellschaft. Schätze sie. Und enttäusche ihn nicht noch einmal.«

Lehu zog ihn näher an sich. Cyn verlor den Boden unter den Füßen. Sein Kragen schnitt in seinen Hals. Er klammerte sich an dem Unterarm des Todes fest, um wieder atmen zu können.

»Einmal schleifte ich deine Seele zurück in deinen Körper.« Lehus Stimme war nur ein tiefes Knurren. »Doch vergiss nie, dass ich es mich nicht mehr als einen Gedanken kostet, dir das Leben wieder zu entreißen. Und wenn du Einar ein weiteres Mal enttäuschst, dann werde ich deine Seele in die tiefsten Abgründe meines Reiches ketten, sodass niemand je deine Schreie hört und du die Ewigkeit in Finsternis und Einsamkeit verbringst. Hast du mich verstanden, Mensch?«

Cyn nickte schnell.

»Gut«, meinte Lehu und ließ ihn langsam wieder auf den Boden, ehe er sich die Hand an seiner Robe abwischte. Ekel durchzuckte sein Gesicht.

Cyns Knie zitterten. Wie sollte es ihm nur gelingen, Nilan nicht zu enttäuschen? Alles an Cyn schrie ›Enttäuschung‹. Er fuhr sich über den Hals und massierte den brennenden Schmerz fort.

»Und nun begleite mich«, sagte Lehu. Er wandte sich ab, warf aber einen Blick zu ihm zurück. »Eine der Seelen möchte mit dir sprechen und ich gewähre es ihr. Da Einar dich jedoch ins Herz geschlossen hat, sollten wir sicherstellen, dass du nicht dem Wahnsinn verfällst.«

Der Tod ging voran.

Kurz verweilte Cyn noch und rieb sich seine schmerzende Kehle. Lehu hatte sein wahres Gesicht gezeigt, nun da Nilan nicht bei ihm war. Götter blieben Götter, ungeachtet wie freundlich sie sich gaben. Und Cyn als Mensch hatte unter ihnen nichts verloren.

Der Nebel kroch auf die Lichtung, denn er wich nur vor Lehu. Dieser jedoch hatte sich nicht noch einmal umgedreht und die Glocke an dessen Gürtel erklang in regelmäßigen, wenn auch langsamen Abständen.

Cyn holte tief Luft und folgte dem Tod.

Lehu kommentierte es nicht, als er an seiner Seite auftauchte.

»Du nahmst viele Leben«, sagte Lehu. »Varjan nannte dich damals im Krieg seinen treusten Vasallen.« Er lachte auf, ohne Freude. Der Laut erinnerte an splitterndes Glas, das kalt in die Haut einschnitt.

Cyn knetete seine Hände. »Ich bin nicht unbedingt stolz darauf.«

»Das solltest du auch nicht sein. Die wenigsten der Toten waren Krieger. Im Gegenteil, sie hatten eine ähnliche Vergangenheit wie du. Aber das hat dich nicht gekümmert, nicht wahr?«

»Ich sagte doch: Ich bin nicht stolz darauf.«

Lehu warf ihm einen Blick von der Seite zu. Erst da bemerkte Cyn, dass er eine Spur zu laut geworden war. Hastig wich er einen Schritt von dem Tod.

»Wir werden den Schatten einer Seele antreffen«, sprach Lehu, ohne auf Cyn einzugehen. »Wisse, dass er nicht mehr als das ist: ein Schatten seiner Selbst. Und was er sprechen wird, ist nur ein fernes Echo der Worte, die er an dich richten möchte.«

»Was müsste ich tun, damit ich mehr als nur einen Schatten sehe?« Cyn ahnte, wem er begegnen würde. Der Wind packte ihn kalt und er fröstelte.

»Sterben«, antwortete Lehu. »Aber das solltest du erst tun, wenn Einar deiner überdrüssig ist. Und nun genug der Fragen. Der Schatten ist nah.«

Der Tod holte mit der Sense aus und fegte den Nebel fort. Sie waren mittlerweile aus dem Wald hinausgetreten und auf einer Wiese angekommen, auf der sich tausende von Blumen in Blau und Violett aneinanderreihten.

»Zeige dich, Schatten«, befahl Lehu.

Wind – nahezu Sturm – fauchte von hinten an Cyn vorbei, riss an seinem Umhang und seinen Haaren und wirbelte Blütenblätter auf. Die Farbsprenkel drehten sich in der Luft, als würden sie fröhlich tanzen. Eine groteske Vorstellung, wenn man bedachte, an welchem Ort sie waren.

Nach einigen Sekunden ließ der Wind nach und auch die Blütenblätter legten sich. Doch die Wiese war nicht länger leer. Ein weißes Licht strahlte in der Entfernung.

Cyns Herz trommelte laut in seiner Brust. War es ...? Konnte es ...? Wie von selbst bewegten sich seine Füße zu der Lichtgestalt.

Irgendwann erkannte er das kurzgeschorene Haar und die leicht schiefe Nase. Der Schatten war immer noch in den Brustpanzer gekleidet, den er in seiner letzten Schlacht getragen hatte, einschließlich den Dellen und herausgebrochenen Stücken, die Ajas' Morgenstern hinterlassen hatte.

Kedras lächelte ihn an. Dieses wunderschöne Lächeln, das Cyn früher stets mit Wärme erfüllt hatte. Doch nun packte nur Kälte sein Herz.

Seine Beine wollten ihn nicht länger halten und er sank auf die Knie. »Verzeih mir«, flüsterte er. »Ich hätte dich nie überzeugen sollen, mir zu folgen. Ich hätte schneller sein müssen, als ... als ...« Das Bild von Ajas tauchte in seinem Kopf auf. Ajas, der Kedras an der Kehle packte und wie eine Trophäe emporhielt, ehe er sein Genick brach und den leblosen Körper zur Seite schleuderte.

»Es gibt nichts zu verzeihen.« Kedras' Stimme klang fern. Wie ein Echo.

Cyn wollte nach Kedras' Knien greifen und seine Stirn demütig auf dessen Füße drücken. Doch seine Hände glitten durch ihn hindurch und sein Kopf sank auf die Blumen. Trotzdem verharrte er. »Es ist alles meine Schuld.«

»Nichts ist deine Schuld.«

Wollte Kedras dies wirklich an ihn weitergeben? Wie könnte er? Hätte Cyn anders gehandelt, hätte er nur irgendetwas anders gemacht, würde Kedras noch leben.

»Ich liebte dich«, flüsterte Cyn. Worte, die er im Leben nie gesagt hatte, und nun im Tod war es zu spät.

Der Schatten hatte stets sofort auf seine Worte geantwortet, doch nun stockte er. Erst einige Sekunden später meinte er: »Es ist gut, dass du in der Vergangenheit sprichst.«

»Aber ...« Cyn holte tief Luft, um sein Schluchzen zu unterdrücken.

»Ich bin gestorben, doch du solltest weiterleben«, sprach Kedras. »Und ich bin froh, dass du noch lebst. Ich hätte es mir nie verzeihen können, wenn du mir gefolgt wärst.«

Manchmal wünschte Cyn, er hätte es getan. Manchmal wünschte er, Lehu hätte ihn damals mit sich genommen.

»Ich hoffe, du findest in diesem Leben auch ohne mich dein Glück.« Kedras' Stimme klang noch ferner als zuvor.

Ein Windhauch strich über Cyns Wange und ließ ihn erschauern. Leise Schritte näherten sich ihm, übertönt von dem dunklen Klang einer Glocke.

»Diese Nachricht hat er dir zukommen lassen«, sprach Lehu in seiner tiefen, gleichförmigen Stimme.

Das war ... alles?

Cyn richtete sich langsam auf. Die Lichtgestalt war fort. Nur vereinzelt schwebten Blütenblätter gen Boden.

Was hatte er auch erwartet? Ein ›Ich liebe dich und werde auf dich warten‹? Nein, eigentlich kannte er Kedras besser.

Früher hatte er sich erhofft, dass es etwas wie ewige Liebe geben würde, die selbst den Tod überdauern könnte. Doch er hatte überlebt und Kedras hatte deutlich gemacht, dass er nicht an ihm festhalten sollte. Diese Liebe, die er sich erhofft hatte, war nichts als Nebel, der bei Anbruch des Tages verschwand.

»Können ...« Cyn räusperte sich und versuchte, seiner Stimme Festigkeit zu verleihen, ehe er den Satz von neuem begann: »Gibt es Liebe in Eurem Reich?«

Ein schweres Seufzen schwebte von Lehus Lippen. »Hänge nicht an dem Tod«, sagte er letztlich. »Ich werde mich früh genug deiner annehmen.«

Mit dieser Antwort musste sich Cyn begnügen. Er wischte sich über die Wangen – hatte gar nicht bemerkt, dass er geweint hatte – und hievte sich auf die Füße. Halb erwartete er, dass Kedras' Schatten zurückkehren würde, doch nichts dergleichen geschah.

»Und nun folge mir«, sprach Lehu. »Du hast genug Zeit mit dem Echo der Toten verbracht.«

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