Nichts ist ewig II
Cyn wusste nicht, wie lang er verharrte. Sein Körper wehrte sich gegen jeden Versuch, sich von dem finsteren Nachthimmel abzuwenden. Seine Gedanken wollten noch nicht wahrhaben, was geschehen war.
Eine Woche lang hatte er jemanden um sich gehabt. Eine Woche lang hatte ihn jemand aufgefangen, hatte ihn angehört, hatte sich mit seiner teils schlechten Laune herumgeschlagen, ohne fortzulaufen.
Und nun ...
Nun war er allein.
Kälte legte sich auf seine Wangen, breitete sich von seinen Fingerspitzen in seinem gesamten Körper aus.
Er war allein.
Nach dem Krieg hatte er sich daran gewöhnt. Fast hatte er gedacht, er würde es lieber mögen, als in ständiger Begleitung zu sein.
Sein Atem beschleunigte sich.
Er wandte sich ab, verließ den Wehrgang. Das Grau der Stadt drückte auf ihn nieder. Einst hatten Menschen dort gelebt. Menschen mit Familien, mit Träumen, mit einer Zukunft.
Seine Hände zitterten. Er versuchte zu atmen, doch es war, als hätte sich eine Schlinge um seinen Hals gelegt. Sie schnürte ihm die Luft ab, ließ ihn taumeln. Als wäre er in die Fluten gestürzt und sein Kopf unter Wasser gerissen worden. Er kam nicht gegen die Wellen an, ungeachtet, wie sehr er auch mit Armen und Beinen strampelte.
Rauch lag in der Luft. Ein hoher Schrei drang durch die leeren Straßen, ehe er in ein Gurgeln überging.
Holz splitterte, Stein barst. Die feindlichen Soldaten hatten den Durchbruch nicht erwartet und wurden einfach überrannt.
Er stemmte seine Hände in den Boden, hatte gar nicht bemerkt, dass er in den Staub gesunken war. Er griff nach seiner Kehle, wollte die unsichtbare Schlinge lösen. Vergeblich.
»Armselig.«
Er musste aufstehen, musste weitermachen, wie er immer weitergemacht hatte.
Warum eigentlich?
Damit er in seinem Haus an die Decke starren konnte, bis der Balken über ihm zusammenbrach? Er wartete doch nur auf den Tod? Warum hatte er ihn nie selbst zu sich gerufen?
»Hast du all das vergessen, was ich dich gelehrt habe?« Die Stimme flog wie ein fernes Echo zu ihm. Schlachtenlärm, klappernde Rüstungen und klingende Schwerter, untermalten die Worte.
»Varjan«, hauchte er, bemerkte kaum, wie er den Namen aussprach.
Die Erde bebte bei jedem Schritt.
Cyn wagte es nicht, aufzusehen, obwohl er den Blick des Kriegsgottes schon in seinem Nacken spürte. Seine Brust hob und senkte sich schnell. Sein Herz trommelte gegen seine Rippen und gab ihm den Takt, zu dem er eigentlich flüchten sollte.
»Wer auch immer das ist, den ich gerade vor mir sehe – das bist nicht du.« Varjans Stimme donnerte wie Streitwagen, die über das Schlachtfeld zogen.
Cyn wurde zur Seite gerissen und rutschte durch den Staub. In seinem Blickfeld tauchte Varjan auf, der seinen Fuß zurück auf den Boden stellte. Seine Beinschoner reichten ihm bis zu den Knien und waren mit Geschick geschmiedet, aber schmucklos. An seinem Waffengürtel baumelte ein Schwert und in seiner Hand trug er einen Speer.
Der Kriegsgott trat zu Cyn und schloss die Finger um seinen Körper. Er hob ihn an, meterhoch in die Luft. An dem Brustpanzer vorbei, der so gefertigt war, dass jeder Muskel zur Geltung kam. An den Schultern vorbei, an denen ein roter Umhang befestigt war und im Wind flatterte. Bis hin zu seinem Kopf.
Varjans Gesicht war durch einen Helm verdeckt und nur die Augen blitzten dahinter hervor.
Cyn wand sich, doch der Griff des Gottes verstärkte sich nur, drohte ihn zu zerquetschen. Er konnte sich nicht rühren, nicht einmal nach seinem Dolch greifen.
Daumen und Zeigefinger legte Varjan an Cyns Kopf, als wäre er ein Käfer und der Gott ein Kind, das ihn enthaupten wollte.
»Einst sah ich Stärke in dir«, sprach der Gott. »Einst hielt ich dich für meinen treusten Vasallen. Doch nun erfuhr ich, dass du Gnade walten ließt. Mein Sohn kam zu mir und brachte mir die Kunde, dass du ihn verschont hast.«
Varjan schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge wie ein Vater, der sein Kind schalt. »Du hättest ihn nur töten müssen und damit hättest du mir bewiesen, dass du noch von Wert für mich bist. Aber du hast nur gezeigt, dass du ein gewöhnlicher Mensch bist – schwach und meiner nicht würdig.«
Er ließ Cyn los. Noch im Fall schlug eine Hand nach ihm wie nach einer lästigen Fliege. Nach kurzem Flug traf Cyn mit dem Rücken gegen ein Gebäude. Stein splitterte.
Sämtliche Luft wurde aus seinen Lungen gepresst. Sein Kopf dröhnte, etwas stach in seinen Brustkorb. Cyn wollte sich erheben, den Schmerz hinunterschlucken, weitermachen, doch sein Körper rührte sich nicht. Sterne tanzten vor seinen Augen, malten Bilder, wie er sie am nächtlichen Himmel fand.
Er blinzelte, schüttelte den Kopf. Weiterhin nahmen schwarze und weiße Flecken sein Sichtfeld ein.
Mit einem Ächzen drehte er sich herum und stemmte sich auf die Arme.
Hätte Varjan ihn töten wollen, dann wäre er schon tot. Nein, der Gott wollte mit ihm spielen.
Er knurrte leise. Zwar mochte er manchmal ›Wolf‹ genannt werden, doch nichts hatte ihm so sehr bewiesen, dass er nur ein Beutetier war, wie die Zeit bei den Göttern.
Bevor Varjan aufgetreten war, hatte er sich fast der Kälte hingegeben, hatte fast nach dem Tod rufen wollen. Aber nun kämpfte er sich auf die Beine und sah dem Kriegsgott entgegen. Etwas Flüssiges rann an seiner Stirn hinab und färbte sein Sichtfeld rot.
Unter Varjans Helm blitzte ein Lächeln auf. »Er knurrt«, sprach er und ging auf die Knie, einen Arm stützte er auf seinem Oberschenkel ab. Trotzdem überragte er weiterhin die Mauern und Häuser. »Hättest du diese Stärke nur bewiesen, als du meinem Sohn gegenüberstandest.«
Sein Oberkörper hob und senkte sich in einem lautlosen Seufzen. »Doch nun hast du das Recht auf meinen Respekt verloren, Soldat.« Er erhob sich wieder und richtete seinen Speer auf Cyn. »Es wird mir eine Freude sein, deine Seele an mich zu nehmen.«
Er holte aus.
Bevor die Spitze jedoch auf Cyn niederfuhr, machte er einen Satz zur Seite. Haarscharf raste das Metall an seinem Gesicht vorbei.
Sein Bein knickte unter ihm ein und er landete im Staub. Vielleicht hätte er sich doch von Nilan wünschen sollen, dass dieser die Verletzung heilte, die Fluffy in seine Wade gerissen hatte. Aber dafür war es nun zu spät.
Nilan war fort.
Varjan lachte leise. »Kleine Maus, du magst fliehen, du magst dich in den Ecken verkriechen, doch die Katze wird dich stets aufspüren.«
Er riss den Speer aus dem Boden, in dem ein klaffendes Loch zurückblieb.
Cyn hörte den Puls in seinen Ohren rauschen, als er sich aufraffte. Das Adrenalin ließ seinen gesamten Körper zittern. Er wollte nicht sterben, aber wie könnte er gegen einen Gott bestehen?
... gar nicht.
Er holte tief Luft. »Lehu!« Nilan hatte doch gemeint, dass der Tod auf ihn achten würde. Bisher machte er das nur leider nicht besonders gut.
Sein Ausruf brachte Varjan zum Stocken. »Du schreist nach dem Tod?«, fragte er. »Kleiner Mensch, deine Seele ist mein. Er wird sie mir nicht wegnehmen.«
Cyn hoffte auf das dumpfe Klingen der Glocke. Er hoffte auf den Geruch nach Blumen, auf die seltsamen Begrüßungen, doch Lehu blieb fort.
Er schluckte schwer, als er ansah, wie seine Hoffnungen in der Finsternis zerbarsten.
Ehe Varjan erneut den Speer hob, erhellte sich die Welt, als wäre mitten in der Nacht die Sonne aufgegangen. Doch das Licht war nicht flammend orange, es war silbern.
Cyns Blick wanderte an den Nachthimmel, der sich nun nicht mehr finster über ihm erstreckte. Eine große Kugel erleuchtete die Welt in Silber. Der Mond hatte das Götterreich betreten.
»Einar ist zurück.« Varjan konnte die Überraschung in seiner Stimme nicht zurückhalten. »Ich hätte es kaum für möglich gehalten.« Er lachte auf. »Sie werden ihn zerreißen.«
»Ebenso wie ich dich, wenn du nicht sofort verschwindest.«
Cyn zuckte zusammen und machte einen Satz zur Seite. Der Geruch von Blumen wurde zu ihm getragen, noch ehe sein Blick auf den Neuankömmling fiel.
Der Wind riss an Lehus dunkler Robe. Diesmal war er ohne das Läuten der Glocke aufgetaucht, doch nun erklang sie, als er langsam zwischen Varjan und Cyn schritt.
Der Kriegsgott blickte auf ihn nieder. »Selten sieht man es, dass du einen Menschen beschützt.«
»Und selten sieht man es, dass du wegen eines Menschen zornig wirst.« Lehus Mundwinkel zuckten. »Und noch seltener, dass du ihn beim ersten Hieb nicht triffst.«
Varjan rammte den Speer in den Boden und stützte sich darauf. »Was willst du hier? Siehst du nicht, dass ich beschäftigt bin.«
»Beschäftigt damit, wie ein Kind Löwenzahn zu köpfen«, erwiderte Lehu. »Geh. Scher dich fort. Hast du nichts Besseres zu tun?«
Varjan ging auf ein Knie. Er hob eine Hand und tippte Lehu mit dem Zeigefinger an. »Darf ich dich daran erinnern, dass du in meinem Reich bist?«
»Nur weil ich es dir das letzte Mal, als du mich herausgefordert hast, nicht aus deinen Händen gerissen habe.«
Varjan ließ seine Hand wieder sinken.
»Mach es, wie alle anderen Götter«, sagte Lehu, »und schare dich um Einar. Bettle um seine Gunst, wie alle es stets getan haben. Oder drohe ihm ... wie alle es stets getan haben.«
Der Blick des Kriegsgottes schweifte von Lehu an den Himmel und wieder zurück. »Wir werden uns wiedersehen«, sagte er. »Und Mensch, dich werde ich finden. Es ist noch nicht vorbei.«
Mit diesen Worten wandte er sich ab. Die Erde bebte, als er über die Stadtmauern stieg und in der Nacht verschwand.
Lehu sah ihm noch nach, ehe er sich zu Cyn drehte. »Geh«, wies er ihn an. »Ich habe Besseres zu tun, als einen Menschen zu hüten.«
»Wartet –«
Der Tod wartete nicht.
Cyn stand allein inmitten der Stadt, ehe er Lehu fragen konnte, was es für Nilan hieß, zurück im Reich der Götter zu sein. ›Sie werden ihn zerreißen‹, hatte Varjan gesagt.
Sein Blick richtete sich auf den vollen Mond am Himmel. Er konnte nur hoffen, dass Nilan in Sicherheit war.
Mit diesem Gedanken brach er auf, doch er humpelte nicht den Weg entlang, den er gekommen war. Nicht zurück in sein Haus, in dem ihn die Tristheit einholen würde.
Wohin er gehen wollte, wusste er noch nicht. Er wollte nur weiter. Einfach nur weiter.
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