In mondloser Nacht I
Cyn zog sich die Kapuze tief ins Gesicht und hastete durch die Straßen. Der Himmel erstreckte sich finster über ihm, weder von Sternen noch von dem Mond erleuchtet. Es waren schon Jahre vergangen, seit er das silbrig-weiße Leuchten auf seiner Haut gespürt hatte, bevor der Gott auf die Erde gefallen war.
An der nächsten Ecke schimmerte Licht. Eine Wache.
Um ihr auszuweichen, bog Cyn in eine andere Gasse ab. Bei seinem Vorhaben sollte er weder entdeckt noch unterbrochen werden. Was sollte er schon sagen, wenn ein Wachmann ihn erwischte? ›Verzeiht, ich will nur den Mond stehlen‹?
Er kam am Marktplatz an. Tagsüber wimmelte es dort von Menschen und wenn er sie vom Kirchturm aus beobachtete, krabbelten sie hin und her wie Maden in einer offenen Wunde.
Doch nun war der Platz leer, bis auf die Wachen, die sich in dieser Nacht um eine Feuerschale herum sammelten.
Cyn blieb in den Gassen und umrundete den Markt. Ganz in der Nähe müsste der Mond untergebracht sein. Er sollte schließlich nicht immer durch die halbe Stadt reisen, wenn er sich einmal im Monat zeigte und den Menschen Wünsche erfüllte. Menschen, die angesehener und reicher waren als Cyn.
Er steuerte das einzige Gebäude in der Straße an, in dem noch Licht die Fenster erhellte. Wachen standen davor, einigen fielen fast die Augen zu, andere wärmten sich an einem Feuer. Nur eine arme Seele nahm ihren Auftrag noch ernst und umrundete das Haus mit einer Fackel in der Hand.
Auf den ersten Blick wirkte die Mauer, die das Gebäude einschloss, unüberwindbar und Cyn war zwar ein ganz passabler Dieb, aber er konnte sich noch nicht unsichtbar machen oder fliegen.
Stattdessen ging er an der Steinwand entlang, bedacht, dem Licht auszuweichen und als Schliere mit der Dunkelheit zu verschmelzen. Auf der anderen Seite fand er einen Riss in der Mauer. Zu schmal, um trotz seiner drahtigen Gestalt hindurchsteigen zu können, doch er steckte seine Hände hinein und kletterte hoch.
Vor einigen Tagen hatte er einem befreundeten ›Erfinder‹ eine hübsche Goldsumme gegeben, um seine Bomben an dem Stein auszutesten. Nichts hatte die Mauer gänzlich einreißen können, aber es war ein Riss entstanden.
Cyn griff nach der Kante und zog sich hoch. Das Verschwinden des Mondes hatte das Leben eines Diebes vereinfacht. Früher hätte niemand auf einer Mauer verweilen können, ohne dass Licht seine Konturen zeigte.
Die Wachen hatten sich nicht von der Feuerschale wegbewegt. Wer würde hier auch schon einbrechen wollen? Nur Wahnsinnige und diejenigen, die des Lebens müde waren.
Cyn sprang in den Innenhof. Er rutschte an einem schief hervorragenden Stein ab und verursachte mit den Stiefeln ein leises Schaben.
Er erstarrte. Das Feuer in der Schale knackte. Die Schritte der Wache, die das Haus umrundete, ertönten gleichmäßig.
Niemand hatte ihn gehört.
Er schlich näher an das Gebäude heran. Gitter waren vor die Fenster geschraubt, die Wände aus massivem Stein erbaut. Hier wollte sich jemand besonders sicher halten, selbst wenn die Wachen einen Haufen Dumpfbacken waren.
Cyn zog einen Dietrich hervor und versuchte ihn, in das Schloss zu fädeln. Seine Hände zitterten. Warum ausgerechnet jetzt?
Er holte tief Luft, ballte seine Hand zur Faust und ignorierte die Schreie, die als fernes Echo an seine Ohren drangen.
Konzentration, wies er sich zurecht.
Er steckte den Dietrich in das Schloss und nur kurz danach klickte es.
»Hast du das gehört?«, fragte einer der Wachmänner. Seine Zähne klapperten beim Sprechen aufeinander.
So kalt kam es Cyn gar nicht vor, aber vermutlich standen die Wachen schon eine Weile länger draußen als er.
»Wenn du dich vom Feuer wegbewegen willst, dann geh doch nachschauen«, antwortete jemand.
Cyn öffnete die Tür und schlüpfte hinein, bevor die Wachen sich entscheiden konnten, wie sie vorgingen. Der Flur war mit Kerzen erleuchtet und würde jeden Schatten in den Fenstern zeigen.
Er hielt sich geduckt. Der rote Teppich auf dem Boden verschluckte seine Schritte.
Hier sollte sich der Mond also aufhalten. Cyn hatte etwas anderes erwartet. Die Wände waren mit dunklem Holz getäfelt, wo er Gold und Silber vermutet hatte.
Doch die Wachen vor dem Haus verrieten, dass er sich nicht geirrt hatte.
Ein Türrahmen führte in ein Wohnzimmer. Im Kamin prasselte leise ein Feuer und darüber war ein Hemd zum Trocknen aufgespannt. Vor Kurzem musste noch jemand dort, auf dem Sessel vor dem Kamin, gesessen haben. Auf der Armlehne balancierte ein Buch, dessen Ränder schon abgegriffen waren und sich nach oben wölbten.
Weitere Bücher stapelten sich in Regalen und sie alle waren so zerlesen. Der Mond hatte offenbar viel Langeweile. Wie sonst könnte man so viel Zeit in Büchern verbringen? Dann wiederum hatte Cyn das Lesen nie richtig gelernt, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass es sein Leben sehr bereichert hätte.
Er verließ den Raum wieder und schlich weiter. Eine Treppe führte ihn in das Obergeschoss. Unter seinen Füßen knarzte das Holz und oben breitete sich die Dunkelheit aus.
Cyn machte Finsternis nichts aus, er lebte in ihr. Doch da er ein wenig Zeit im Licht verbracht hatte, verharrte er kurz, bis sich die Umrisse einer Tür in der Düsternis hervorhoben. Diese öffnete er, doch dahinter verbargen sich nur weitere Bücher. Ein kühler Lufthauch strich ihm über die Wange.
Er wandte sich ab und schob die nächste Tür auf. Ein einfaches Bett und eine Kommode standen in ihm. Und natürlich noch mehr Bücher.
Er betrat das nächste Zimmer ... und stockte. Die Wände waren nicht getäfelt und nur der nackte Stein starrte ihm entgegen. Ketten waren in die Mauer eingefasst. Halsbänder und Handschellen hingen auf Haken.
Cyn verließ rückwärts den Raum und schloss die Tür wieder. Was auch immer dort vor sich ging, war nichts, über das er sich Gedanken machen sollte oder wollte.
Hier oben war der Mond nicht und so ging Cyn zurück in das Untergeschoss. Er fand keinen Keller, dafür aber eine Küche. Jedoch keinen Mond.
War es doch das falsche Haus?
Er knirschte mit den Zähnen. Wochenlang hatte er diesen Diebstahl geplant, wie er einbrechen könnte, wie er seinen Dolch an die Kehle des Mondes hielt und von den Wachen freies Geleit verlangte, wenn sie nicht wollten, dass göttliches Blut floss.
Und nun das.
Hatte Habicht – seine Informantin – ihn verraten und der Mond war fortgebracht worden?
Eine Glocke schrillte im Hof und riss ihn aus seinen Gedanken.
Sofort bereitete sich jeder Muskel in Cyns Körper auf die Flucht vor. Vielleicht hatte jemand seine Fußspuren entdeckt, vielleicht seinen Schatten in den Fenstern gesehen.
Ungeachtet, woran es lag, er musste hier weg.
Er stieß die Tür auf. Die Wachen hatten sich am anderen Ende des Hofes versammelt. »Wer hat die Tür geöffnet?«, rief einer.
»Haltet ihn!«, ein anderer.
Cyn rannte über den Hof, kletterte an der Mauer hoch. Er hielt nicht ein und verschwand in dem Labyrinth aus Gassen. Einige Ecken später war er allein. Nur Schritte hallten von den Häuserwänden wieder, aber sie liefen in die falsche Richtung.
Einige Straßen weiter stand Cyn vor seinem Haus. Von außen könnte ein jeder es für verlassen halten, denn die Tür hing schief in den Angeln, zwei Fenster waren eingeschlagen und Steine aus den Wänden herausgebrochen.
Niemand sollte wissen, dass er dort hauste. Zwar musste er daher manchmal Landstreicher und Bettler verscheuchen, die versuchten, seine Truhen aufzuschließen, aber es war ein geringer Preis für die Ruhe, die es ihm bescherte. Keine Wachen suchten nach ihm, keine Familie klopfte an.
Er öffnete die Tür und trat ein. Dunkelheit empfing ihn wie eine alte Freundin, die ihn stets nach seinem Tag fragte. Meist antwortete er nur mit einem Brummen.
Seine Finger versuchten, das Band seines Umhanges zu lösen. Sie zitterten, doch diesmal wies sich Cyn nicht zurecht und fummelte so lang an dem Knoten, bis er ihn öffnete.
Er warf den Umhang auf einen nahen Schrank. In diesem wühlte er anschließend herum und zog eine Pfeife hervor, die er sogleich anzündete. Wenn er schon mit leeren Händen von seinem Raubzug wiederkam, konnte er sich abends wenigstens etwas Gutes tun.
Er nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch durch seine Nasenlöcher wieder aus. Die Anspannung, die ihn jedes Mal begleitete, wenn er sein Haus verließ, fiel von ihm ab, doch nun kam anderes zum Vorschein. Der Nachhall der Schreie, das Klirren von Metall.
Cyn schüttelte die Gedanken aus seinem Kopf und durchquerte den Raum, bis er in einer kleinen Kammer ankam. Seine Truhe, in der er seine Habseligkeiten aufbewahrte, war noch verschlossen. Ansonsten hätte er diesen Tag offiziell als einen der schlimmsten in seinem Leben bezeichnen können.
Es gab weniges, das er sich sehnlicher wünschte, als dass der Mond vor seiner Schwelle stehen und ihn keine Wachen je finden würden. Doch dieser Wunsch würde nicht in Erfüllung gehen. Jemand wie er, der im Dreck lebte und auf den ein jeder hinabsah, musste für sich allein kämpfen, denn ansonsten tat es niemand.
Er nahm die Treppe, die bedrohlich unter seinen Schritten knarrte, in das Obergeschoss. Bisher hat sie diese Drohung aber nur einmal wahr gemacht und die eingebrochene Stufe übersprang er einfach.
Er zog die Vorhänge vor die Fenster, um die Strahlen, wenn die Sonne in ein paar Stunden aufging, auszusperren. Einige Löcher waren schon in dem Stoff. Vielleicht hatten die Staubmonster, die sich in den Ecken sammelten, sie hineingefressen.
Mit einem schweren Seufzen ließ er sich auf seine Couch fallen. Er hatte schon so viele Flicken auf den Stoff genäht, aber trotzdem waren immer neue Stellen aufgeplatzt. Auch die dunkelroten Flecken hatte er nie herauswaschen können.
Er führte seine Pfeife an seine Lippen und hielt sie mit den Zähnen, um seinen Waffengürtel zu lösen und zu Boden gleiten zu lassen. Trotzdem war sein Dolch in Griffnähe. Wenn sich jemand zu ihm wagte, dann wollte er vorbereitet sein.
Müdigkeit hatte sich zwar in seine Knochen geschlichen, aber er bezweifelte, dass er nun schon schlafen konnte. All die letzten Jahre hatte er den Schlaf bis zur äußersten Sekunde herauszögern müssen, damit er ihn überkommen hatte.
Er legte seinen Kopf auf die Lehne. Sein Zopf bohrte sich unangenehm in seinen Schädel, sodass er das Haarband löste und ihm wild schwarze Strähnen in das Gesicht fielen. Er lehnte sich wieder an und sah zur Decke. Zu all den dunklen Flecken im Holz und er fragte sich, wie lang man wohl brauchen würde, um seine Leiche zu finden, wenn die Balken über ihm zusammenkrachten.
Seine Lider schlossen sich, aber weder Tod noch Schlaf nahmen sich seiner an.
Er ließ seine Hand sinken, die er unterbewusst an seine Kehle gelegt hatte und die über die breite Narbe fuhr. Einst war er dem Tod schon begegnet und hatte ihn betrogen.
Ein Klicken im Untergeschoss ließ ihn hochfahren. Jemand hatte seine Tür geöffnet.
Auf Cyns Lippen breitete sich ein grimmiges Lächeln aus. Er legte seine Pfeife beiseite und zog seinen Dolch.
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