Die letzte Bastion I
Die Stadt der Sterne war in der Nacht gewandert. Als sich der Nebel lichtete und die Farben in die Welt zurückkehrten, benötigte Cyn einen Augenblick, bis er sich orientiert hatte.
Es sollte nicht einmal mehr eine Tagesreise dauern, bis die Wüste beginnen würde. Das Gebiet war einst von grünem Wald bedeckt gewesen, aber mit jedem Kriegsjahr hatten die Bäume gebrannt und waren die Tiere geflohen. Nun gehörte die Einöde Varjan. Kalik, die Göttin der Natur, besaß nur einen kleinen Fleck inmitten der Wüste.
Und dann würden sie nur noch einen oder zwei Tage unterwegs sein, bis sie an der Stadt ankamen. Dort war Nilan gefallen und dort würde er zurück in den Himmel aufsteigen.
»Hier müsste es ein Dorf geben«, sagte Cyn.
Nilans Augen strahlten auf. »Ein Dorf? Wir gehen in ein Dorf?«
»Nein.« Cyn erstickte den Enthusiasmus im Keim. »Wir gehen nicht dorthin. Ich gehe und beschaffe uns Vorräte. Du bleibst außer Reichweite.«
Nilan schob die Unterlippe vor. »Das klingt langweilig.«
»Aber es ist sicherer.« Vor allem, da die Hörner auf Nilans Kopf noch weiter gewachsen waren. Schon am Vortag hätte seine Kapuze sie nicht verdecken können.
Der Mond schmollte nur weiter.
»Ich beeile mich.« Cyn sah sich um, nahm einen Stock auf und hielt ihn Nilan entgegen. »Male irgendwas auf den Boden, um dich zu beschäftigen. Wenn jemand auf dem Weg entlang kommt, dann verstecke dich. Ich bin so schnell wie möglich zurück.«
»In Ordnung«, brummelte Nilan. Er nahm den Stock, setzte sich auf einen Stein am Wegesrand und begann, im Boden herumzustochern.
Cyn wandte sich ab und ging los. Ein mulmiges Gefühl begleitete ihn, als hätte er einen Welpen angebunden und zurückgelassen. Doch Nilan war kein Welpe, er war ein Gott. Ihm würde schon nichts geschehen.
Er beschleunigte seine Schritte. Bald ging der Wald in Wiesen und Felder über, auf denen nur noch vereinzelt Buchen und Birken standen. In einiger Entfernung stieg Rauch aus Schornsteinen auf. Zehn Häuser rahmten einen runden Platz mit einem Brunnen und einem Podest ein. In einem Wirtshaus konnten Reisende Schutz suchen oder über Nacht bleiben, falls sie auf dem Weg in die Wüsten waren. Eine letzte Bastion vor dem Land, das der Krieg zerrüttet hatte. Doch so manchem Deserteur war ebendieser Ort zum Verhängnis geworden.
An diesem Tag, an dem die Sonne auf die Welt niederbrannte, waren die meisten Anwohner unterwegs. Sie wuselten auf den Wegen, arbeiteten auf den Feldern oder führten Schafe auf die Weiden.
Staub wirbelte bei jedem von Cyns Schritten auf. Er wurde mit misstrauischen Blicken begrüßt. Ungewöhnlich für ein Dorf mit einem Gasthaus, das auf Landstreicher angewiesen war.
Als er den Platz fast überquert hatte, erkannte er, was das Podest war. Ein hoher Balken war aufgestellt, an dem eine Schlinge baumelte. Da es das letzte Dorf vor der Wüste war, hatte es im Krieg die Deserteure aufgefangen und sich sofort um diese gekümmert. Die Wachen, die damals noch regelmäßig die Häuser durchsucht hatten, waren nun jedoch verschwunden. Nur ein Gebäude aus Stein mit Gittern vor den Fenstern und der Galgen selbst zeugten von den Hinrichtungen.
Er ignorierte weiterhin die argwöhnischen Blicke und steuerte zielgerichtet das Gasthaus an.
Als er die Tür aufstieß, fiel sie fast aus den Angeln. Er hatte immer gedacht, nur er würde sich heruntergekommene Häuser aussuchen, doch offenbar sah der Wirt einen ähnlichen Charme darin, jeden Moment von den Dachbalken erschlagen zu werden.
Er trat in den Raum hinein. Ratten huschten ihm aus dem Weg und in ihre Löcher in der Wand. Die Dielen knarzten unter seinen Füßen und das Geräusch hallte laut in der Stille wider, denn außer ihm und dem Wirt war niemand anwesend.
Der Mann hinter dem Tresen bestand fast nur aus ergrautem Schnauzer und buschigen Augenbrauen. Cyn brauchte einen Moment, bis er erkannte, dass der Wirt ihm einen grimmigen Blick zuwarf, der anschließend in Verwirrung überging. Er kniff die Augen zusammen. »Komm her, Bursche.«
Cyn kam der Anweisung nach. Es war nicht so, als hätte er etwas anderes geplant. »Ich bin hier, weil ich –«
Der Wirt unterbrach ihn mit einem Zungenschnalzen. »Mutig von dir, dich hier blicken zu lassen.«
Nun, da Cyn näher am Tresen stand, kam ihm eine Wolke aus beißend süßlichem Gestank entgegen. Er suchte nach dem Ursprung, doch sein Blick landete nur auf dem Wirt.
Cyn runzelte die Stirn. Er konnte sich nicht erinnern, jemals hier gewesen zu sein. Er hatte das Dorf nur aus der Ferne gesehen und erkannt, wie glücklich er sich schätzen konnte, dass er damals die Wüste nicht verlassen hatte. Der Tod am Strick war die Strafe für einen jeden gewesen, der so weit geflohen war. Cyn hingegen war mit Peitschenhieben davongekommen.
»Ich fürchte, ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht«, sagte er.
Der Wirt holte einen Zettel hervor und drehte ihn zu Cyn. Ein Steckbrief.
Ein seltsam vertrautes Gesicht sah ihm entgegen. Irgendwoher kannte er die Augen, die Nase, die Gesichtszüge. Der Name begann mit einem L, so viel konnte er lesen, doch die restlichen Buchstaben wirkten, wie willkürlich zusammengeworfen.
Und weshalb wurde der Mann auf dem Steckbrief gesucht? Cyn suchte den Papierbogen nach einer Antwort ab, fand aber nichts.
»Loquard, richtig?«, fragte der Wirt.
»Nicht mehr und ich wüsste nicht, was Euch das angeht.«
Cyn musterte den Steckbrief weiter. Eine Gänsehaut legte sich auf seinen Körper. Kälte floss seinen Nacken hinab.
Er sah in seine eigenen Augen. Er war derjenige, der dort abgebildet war. Deshalb hatten die Dorfbewohner ihn so misstrauisch beäugt.
Unauffällig tastete er nach seinem Dolch und legte seine Hand an den kühlen Knauf.
»Hätte ich noch einen Spiegel dazu legen sollen?«, fragte der Wirt. Er wandte sich um – offenbar unbeeindruckt von Cyns Körperhaltung, die einem angespannten Raubtier glich – und holte einen Krug hervor.
»Ein Mörder in meinem bescheidenen Haus«, brummte er. Er öffnete einen Zapfhahn und gold-gelbe Flüssigkeit sprudelte hinaus. »Der Galgen steht draußen, falls du deswegen hier bist. Und gestern ist sogar einer dieser seltsamen Paladine aufgetaucht, weil er auf der Suche nach dir ist.«
Der Krug knallte vor Cyn auf den Tresen. Schaum spritzte auf das fleckige Holz, aber der Wirt schien sich nicht daran zu stören.
Er warf einen Blick auf Cyn, der weiterhin in seiner angespannten Haltung verweilte, unsicher, ob er kämpfen oder flüchten sollte.
»Beruhig dich, Kleiner. Ich mochte diesen Masson noch nie. War für zu viel Tod verantwortlich.« Er deutete mit dem Kinn auf den Krug. »Trink.«
Langsam ließ Cyn seine Hand von dem Dolch sinken. Er mochte vielleicht gesucht werden, aber vor dem Wirt hatte er nichts zu befürchten.
»Es sollte ein Verbrechen sein, diejenigen umzubringen, die dem Krieg entfliehen wollen«, meinte der Wirt. »Aber stattdessen ist die Flucht das Verbrechen.«
»Vom Krieg müsst Ihr mir nichts erzählen«, sagte Cyn.
Der Wirt sah unter seinen Augenbrauen hervor. »Dann war der Mord an Masson also persönlich? Hätte gedacht, es war ein Überfall oder so.«
»Hat Euch nicht zu interessieren«, erwiderte Cyn. Er wollte keine Gespräche mit Fremden führen, er wollte sich nicht an den Kommandanten erinnern. Er wollte nur so schnell wie möglich zu Nilan zurückkehren. »Ich bin nur hier, weil ich Vorräte kaufen will. Ich habe einen weiten Weg vor mir und brauche irgendwas Haltbares.«
Der Wirt stieß ein leises Seufzen aus. »Und ich dachte schon, du möchtest in einem Dorf verweilen, in dem jeder deinen Hals in einer Schlinge sehen will.« Er wandte sich um. »Warte kurz. Ich suche dir was.« Mit diesen Worten verschwand er durch eine Tür hinter dem Tresen.
Cyn atmete tief aus, doch weiterhin lag Kälte in seinem Nacken. Er war wegen Mordes angeklagt. Ein Paladin suchte nach ihm. Und natürlich wusste er, dass Cyn hier zu finden war. Es wäre ansonsten auch zu einfach gewesen.
Zu welchem Gott der Paladin wohl gehörte? Es musste einer sein, der sich einen guten Überblick verschaffen konnte. Awia vielleicht. Als Sonne sah sie viel von der Welt. Oder Kalik. Sie sah durch die Augen der Tiere, lauschte dem Lied des Windes. Doch es war ungewöhnlich, dass sie mit jemandem zusammenarbeitete.
Wenn er genau überlegte, hatten viele Götter ihre Wege, die Welt der Menschen zu beobachten.
Er lehnte sich an den Tresen und sammelte schon mal einige Münzen aus seinem Beutel.
Das Knarzen einer Tür erklang hinter ihm.
Instinktiv sprang Cyn über den Tresen – zum Glück am Krug vorbei – und kauerte sich zusammen.
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